Kitabı oku: «Sich einen Namen machen», sayfa 2

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1.2 Forschungsgegenstand

Die Datenbasis dieser Untersuchung bilden Aufnahmen von Graffitis aus Mannheim. Im Fokus stehen dabei die Formen, die dem modernen Szenegraffiti zugeschrieben werden können (vgl. dazu Kapitel 2). Es werden damit weder rein bildliche Werke in den Blick genommen, wie sie etwa im Bereich der Street-Art zu finden sind, noch politische Sprüche und Parolen, die sich ebenfalls im öffentlichen Raum in Mannheim finden lassen und dementsprechend auch auf dem Bildmaterial zu sehen sind. Stattdessen geht es um diejenigen Formen, die sich durch ihre besonderen bildlichen und schriftlichen Eigenschaften als Szenegraffitis zu erkennen geben.

Die oben formulierten Fragestellungen werden anhand eines datenbankbasierten Korpus beantwortet, das aus Fotografien von Szenegraffitis und den entsprechenden Annotationen besteht. Das Korpus ist Teil der DFG-geförderten Forschungsdatenbank INGRID („Informationssystem Graffiti in Deutschland“), die derzeit an der Universität Paderborn und dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) aufgebaut wird (vgl. zu INGRID PAPENBROCK UND TOPHINKE 2018).

Graffiti stellt ein für die Wissenschaft relevantes Thema dar, weil es einen konstanten Bestandteil unserer kulturellen Wirklichkeit darstellt. Die gesprühten Schriftbilder finden sich nicht nur in nahezu jeder europäischen Großstadt, sondern sie sind auch durch ihre anhaltende Präsenz in den Medien, in der Werbung und sogar im politischen Wahlkampf zu einem festen Bestandteil des kulturellen Alltags geworden (PAPENBROCK 2015: 173f.). MAI formuliert daher treffend: „Writing is culture.“ (2005: 14) Als kulturelle Erzeugnisse einer bestimmten Zeit geben Graffitis Einblicke in soziale Gruppen, deren Strukturen und Aktionsräume, die für diese Gruppen relevanten Themen, den Umgang mit Schriftlichkeit im öffentlichen Raum und vieles mehr.

Um Graffitis als Forschungsgegenstand nutzen zu können, müssen sie jedoch in großem Umfang und über einen längeren Zeitraum erhoben und für die wissenschaftliche Erforschung aufbereitet werden (PAPENBROCK 2015: 182f.). Wissenschaftler, die Graffitis systematisch erforschen wollten, sahen sich dabei bislang jedoch mit einigen Herausforderungen konfrontiert. Ein größeres Datenkorpus selbst zu erstellen, ist für Einzelpersonen schwierig, weil für die Korpusgenerierung in der Regel nur begrenzte zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen. Da Graffitis nicht dauerhaft bestehen, ist es darüber hinaus problematisch, Bestände mit einer zeitlichen Tiefe zusammenzustellen. Auch der Rückgriff auf bereits bestehende Bildbestände, die es überwiegend abseits der universitären Forschung gibt, bietet immer noch keine wirkliche Alternative. Größere Graffiti-Bildbestände finden sich beispielsweise auf Internetseiten der Szene (z.B. auf Instagram, Facebook sowie auf Szeneseiten wie ilovegraffiti.de und streetfiles.org1). Diese Bilder sind jedoch aus rechtlichen Gründen nicht für die wissenschaftliche Erforschung von Graffiti geeignet. Problematisch ist zum einen, dass die Bildrechte in der Regel nicht geklärt sind. Zum anderen sind die Aufnahmen oft nicht nach wissenschaftlichen Standards bearbeitet, d.h., es liegen keine Informationen zum Fotografen, zum Aufnahmeort und zum Aufnahmedatum vor. Auch Sammlungen von Privatpersonen, z.B. die des Ethnologen Peter Kreuzer (München) oder die des Psychologen Norbert Siegl (Wien), waren bislang nicht für eine wissenschaftliche Erforschung von Graffitis geeignet. Das Problem besteht hierbei darin, dass die Bilder entweder nicht digitalisiert und verschlagwortet und/oder für wissenschaftliche Zwecke nicht frei zugänglich sind.2

Die Bildbestände in INGRID weisen demgegenüber den Vorteil auf, dass die Bildrechte geklärt sind und die Aufnahmen (Primärdaten) mit den entsprechenden Metadaten versehen sind, was für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Graffitis von entscheidender Bedeutung ist. Zu jedem Foto liegen Informationen zum Aufnahmedatum und -ort sowie zum Urheber vor.

INGRID umfasst derzeit Bestände von mehr als 150000 Bildern mit Graffitis aus den Jahren 1983 bis 2016, die im Rahmen des Projekts digitalisiert und nach sprachlichen und bildlichen Kriterien verschlagwortet werden.3 Die aktuell größten Bestände stammen aus den Städten Mannheim, München und Köln. Es handelt sich dabei um Aufnahmen von Ermittlungsgruppen der Polizei Mannheim, der Polizei Köln und der Koordinierungsgruppe Graffiti München. Die Fotografien der Polizei Mannheim bilden die Datenbasis dieser Arbeit. Auch die „Sammlung Kreuzer“ aus dem Stadtarchiv München stellt einen wichtigen Teilbestand der Datenbank dar.4 Durch die große mediale Aufmerksamkeit, die INGRID zum Projektstart erfahren hat, haben sich darüber hinaus Kontakte zu weiteren Initiativen und Privatpersonen ergeben, die ihre Bestände zur Verfügung stellen möchten. Der Bestand der Datenbank wird somit sukzessive erweitert.

Für die Erforschung von Graffiti ergeben sich aus dieser umfassenden Datengrundlage vielfältige Möglichkeiten. Es bieten sich synchrone Untersuchungen an, mit denen Themen wie die besondere Schriftbildlichkeit, Grammatikalität und die stadträumliche Verteilung von Graffitis erforscht werden können. INGRID ermöglicht durch die zeitliche Tiefe der Bestände aber auch diachrone Untersuchungen, in deren Rahmen sich beispielsweise Erkenntnisse zur Entstehung und zur Entwicklung der Graffitiszene gewinnen lassen.5 Da sich das Material der Polizei Mannheim, das der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, zu einem Großteil aus Namen zusammensetzt (vgl. dazu Abschnitt 7.1), ist es auch vornehmlich für eine Erforschung von Graffitinamen geeignet.

Graffitipseudonyme werden in dieser Arbeit primär qualitativ erforscht, wobei auch quantitative Ansätze integriert sind (vgl. dazu Abschnitt 7.2). Die Fotografien wurden zu diesem Zweck mit Annotationen versehen und die Graffitipseudonyme in einem nächsten Schritt nach bestimmten Kriterien sortiert. Da das Korpus als Teil von INGRID auch nach Abschluss der Untersuchung für weitere Forschungsprojekte zur Verfügung steht, wird zudem einer Forderung von BLANÁR gefolgt, der 2004 formuliert, dass „[d]ie Erstellung von Datenbanken […] eine aktuelle Aufgabe der gegenwärtigen Onomastik“ ist (BLANÁR 2004: 162).6

1.3 Forschungsstand

Der folgende Überblick zum Forschungsstand gliedert sich in drei Teile. Diese Einteilung wurde gewählt, da es sich bei Graffiti bzw. Graffitinamen nicht um einen „klassischen“ Untersuchungsgegenstand der Linguistik handelt und die wissenschaftliche Erforschung von Graffiti bereits einsetzt, lange bevor sich die Linguistik für diesen Phänomenbereich interessiert. Es bietet sich daher an, zunächst die Forschung zu Graffiti im Allgemeinen zu beleuchten und die linguistische Forschung anschließend in einem separaten Teilkapitel darzustellen. Dieses Vorgehen begründet sich auch dadurch, dass in linguistischen Publikationen oft auf Ergebnisse aus Disziplinen wie Ethnologie und Soziologie zurückgegriffen wird, wenn es um die Beschreibung von Mitgliedern, Praktiken und Sinnschemata der Szene geht.

Da es in dieser Arbeit um einen speziellen Typ des Graffitis, den Graffitinamen, geht, schließt zudem ein Teilkapitel an, das den Forschungsstand der Onomastik beleuchtet. Dabei geht es insbesondere um die bisherige Forschung zu Pseudonymen, weil es sich dabei um die Namenklasse handelt, der die Graffitinamen zugeordnet werden können (vgl. dazu Kapitel 5).

1.3.1 Graffiti als Forschungsgegenstand

Die Erforschung von Graffiti stellt ein relativ junges Forschungsgebiet dar, weil sich der Gegenstand selbst – das moderne Szenegraffiti – erst vor 50 bis 60 Jahren in den USA entwickelt hat. Zwar taucht die Bezeichnung Graffiti auch schon in früheren Publikationen auf, sie bezieht sich dabei jedoch nicht auf das Szenegraffiti, sondern auf andere Formen, die mitunter unter der Bezeichnung Graffiti zusammengefasst werden.1

Erste Publikationen zum Szenegraffiti entstehen Ende der 60er-Jahre. Nimmt man diese frühen Veröffentlichungen in den Blick, so zeigt sich, dass sich die Autoren zunächst auf eine Beschreibung des Phänomens Graffiti konzentrieren. In dem Aufsatz „Names, Graffiti and Culture“ (1969) – einer der ersten Publikationen zum Szenegraffiti – schildert der New Yorker Erzieher Herbert Kohl, wie er 1967 durch einen Schüler auf die Praktik aufmerksam wird, einen selbstgewählten Spitznamen an die Wände in der Nachbarschaft zu schreiben. Dieser schrieb fleißig „Bolita“, span. für ,kleiner Ball‘, an die Wände seines Viertels, obwohl er selbst kaum lesen und schreiben konnte (KOHL 1969: 26). Wie SNYDER später schreibt, hatte der Erzieher Kohl damit unbewusst „the beginnings of writing culture in New York City“ dokumentiert (2009: 23).

Die Intention dieser ersten Publikationen besteht zunächst darin, auf das Graffitiwriting als eine für Jugendliche sinnstiftende Tätigkeit aufmerksam zu machen.2 Dabei wird das Szenegraffiti auch von Anfang an mit anderen kulturellen Praktiken verglichen. KOHL weist beispielsweise darauf hin, dass die Wahl eines neuen Namens in der Geschichte verschiedener Religionen verankert sei und der neue Name symbolisch für das neue Leben stehe (1969: 31). Diese Vergleiche zielen einerseits darauf ab, die Beschäftigung mit Graffiti zu rechtfertigen. Andererseits geht es aber auch darum, das Graffitiherstellen als eine Praktik zu beschreiben, die nicht völlig isoliert zu sehen ist, sondern in Relation zu anderen Praktiken steht.

Als besonders einflussreich gilt der 1973 erschienene Text-Bild-Band „The Faith of Graffiti“ von NORMAN ET AL., in dem die Werke und die Akteure der New Yorker Szene abgebildet und beschrieben werden. Im gleichnamigen Essay, der in diesem Band enthalten ist, wird Graffiti ebenfalls mit etablierten Kulturtechniken verglichen. MAILER stellt die Sprüher dabei in eine Traditionslinie mit den Malern der Renaissance-Fresken (1973 o.S.) und betont damit den Stellenwert von Graffiti als Kunst. Dieses Argumentationsmuster, bei dem das Szenegraffiti in eine Traditionslinie mit weiteren Formen der Wandbeschriftung aus verschiedenen Zeiten gestellt wird, findet sich bis heute in der Graffitiforschung.

Eine andere Perspektive auf Graffiti nimmt der Aufsatz „Kool Killer ou l’insurrection par les signes“ (auf Dt. „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“) des französischen Soziologen BAUDRILLARD ein. Diese im französischen Original 1975 erschienene Publikation hat viel Aufmerksamkeit erfahren und ist in der Graffitiforschung häufig diskutiert worden.3 BAUDRILLARD perspektiviert Graffitis nicht als Kunst, sondern als revolutionäre Zeichen, die „keinen Inhalt, keine Botschaft haben“ und sich dadurch jeglicher Deutung entziehen, die Ordnung des öffentlichen Raums jedoch durch ebendiese Inhaltslosigkeit zerstören würden (1978: 29). Durch diese Interpretation der Graffitis als revolutionäre, aber bedeutungsleere Zeichen wird ihnen die künstlerische Bedeutung weitestgehend abgesprochen. Allerdings lenkt BAUDRILLARDS Aufsatz „den Blick auf die sozialen und politischen Hintergründe des New Yorker Graffiti und auf die Großstadt als Ort sozialer Konflikte“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 97).

In den 80er-Jahren folgen erste empirische Arbeiten zum Szenegraffiti. Damit rückt die Graffitiszene selbst, d.h. die Akteure, stärker in den Fokus. Hier ist zunächst die ethnographisch angelegte Studie „Getting Up: Subway Graffiti in New York“ (1982) des New Yorker Kulturanthropologen CASTLEMAN zu nennen, die einen großen Einfluss auf die Szene und auch die Graffitiforschung hat. CASTLEMAN arbeitet interviewbasiert und gewährt mit seinem Werk tiefe Einblicke in die Motive und Strukturen der frühen New Yorker Graffitiszene. Die Studie wird daher auch als Graffiti-„Standardwerk[…]“ bezeichnet (VAN TREECK 2001: 67). Zu den frühen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Szenegraffiti ist außerdem die soziologische Studie „Graffiti as Career and Ideology“ von LACHMANN (1988) zu zählen. LACHMANN fertigt Interviews mit 25 Akteuren an und liefert mit seinem Aufsatz ebenfalls erste Informationen zu den Motivationen der Sprüher sowie zu den Praktiken und Strukturen der Szene.

Als einflussreiche Publikationen sind darüber hinaus auch die Graffiti-Fotobücher „Subway Art“ von COOPER UND CHALFANT (1984) und – etwas später veröffentlicht – „Spraycan Art“ von CHALFANT UND PRIGOFF (1987) zu nennen, die auf eine umfangreiche Dokumentation der Szeneaktivitäten abzielen. COOPER UND CHALFANT sowie CHALFANT UND PRIGOFF beschreiben beispielsweise die Entstehung der Szene, stellen ihre Sinnschemata und das Vokabular der Szene vor. Darüber hinaus liefern diese beiden Fotobücher das Bildmaterial, mit dem Graffiti in der ganzen Welt bekannt wird. In der Szene wurden „Subway Art“ und „Spraycan Art“ so populär, dass sie als „Bibel[n] der Sprüher“ bezeichnet werden (VAN TREECK 2001: 48).

In Deutschland setzt die wissenschaftliche Beschäftigung mit Graffiti Mitte der 70er-Jahre ein – und damit zu einer Zeit, in der das Szenegraffiti in deutschen Städten noch gar nicht angekommen ist.4 Inspiriert durch die amerikanischen Autoren und bedingt durch das Medieninteresse an der strafrechtlichen Verfolgung des Schweizer Sprayers Harald Naegeli entstehen bereits ab 1975 erste Publikationen, die primär wissenschaftlichen Disziplinen wie der Kunst- und Kulturwissenschaft zugeschrieben werden können.5 Zu nennen sind hier etwa HAUBENSAKS Artikel „Graffiti als Herausforderung“ (1975), VERSPOHLS Essay „Mene mene tekel peres“ (1980) und GRASSKAMPS Ausgabe zum Thema „Graffiti und Wandbilder“ in der kunstwissenschaftlichen Zeitschrift „Kunstform International“ (1982). MÜLLER veröffentlicht 1985 einen wissenschaftlichen Sammelband mit dem Titel „Graffiti“, in dem es primär um Wandinschriften aller Art (z.B. auch um Toilettengraffitis), aber auch bereits um das amerikanische Szenegraffiti geht.

Am Rande sei hier bemerkt, dass HAUBENSAK in seinem Aufsatz von 1975 interessanterweise bereits auf die große Bedeutung der Namen im amerikanischen Szenegraffiti aufmerksam macht:

Sie schreiben ihre Namen auf die Wände, meistens Spitznamen oder Pseudonyme […] und fügen Zahlen oder Codes hinzu, welche sich auf ihre Strassen und Hausnummern oder Schulklassen beziehen. In der ganzen Stadt warten Hunderte von Jugendlichen, beladen mit Spraydosenfarben, um irgendwo eine Wand mit ihrem Namen zu bemalen: „Hit the wall with your name“ ist der Schlachtruf, und im Ghetto heisst „schlagen“: zu Fall bringen. (HAUBENSAK 1975: 575)

Von Graffitis in Deutschland, die in eine Szene eingebunden sind, ist in diesen Publikationen allerdings noch nichts zu lesen. Auch WELZ bezieht sich 1984 in ihrem Aufsatz „Die wilden Bilder von New York City“ noch ausschließlich auf ihre Beobachtungen während eines Auslandaufenthaltes in den USA.6

Erste Publikationen, in denen über die Anfänge des Szenegraffitis in Deutschland berichtet wird, entstehen Ende der 80er-Jahre. Hier ist beispielsweise auf die Werke des Kunsthistorikers STAHL (1989, 1990, 2012) zu verweisen, der beschreibt, wie sich in vielen europäischen Städten „Jugendliche mit den Helden des New Yorker Untergrunds identifizier[en]“ und deren Praktiken, Ausdrucksformen und deren Vokabular übernehmen (1989: 90). Ab Mitte der 80er-Jahre – und damit mit Herausbildung der deutschen Szene – geraten auch zunehmend die Akteure mit ihren sozialen Kontexten in den Blick der deutschsprachigen Graffitiforschung. Es entstehen überblicksartige Werke, die Einblicke in Vokabular, Tätigkeiten und Hierarchien der Szene geben. Zu nennen sind hier „Das Graffiti-Lexikon“ des Ethnologen KREUZER (1986) und das „Graffiti Lexikon“ des Sozialpädagogen VAN TREECK (1993).7

In diesem Zeitraum entstehen auch Werke aus der Szene heraus, d.h., Writer beschreiben die Szene in eigenen Publikationen, in denen sie ihre Erfahrungen schildern und privates Bildmaterial präsentieren. In diesem Zusammenhang sind etwa KARL (1986) und die seit 1994 beim Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienene Buchreihe „Graffiti-Art“8 zu nennen. Die Autobiographie des Berliner Writers ODEM ([1997], 2008) zeugt ebenfalls von dem Interesse, die Graffitiszene möglichst authentisch, d.h. durch Mitglieder der Szene, zu beschreiben.

Zudem erscheinen verschiedene soziologische und sozialpädagogische Studien mit zum Teil sehr spezifischen Fragestellungen, in denen die Einstellungen der Akteure zu unterschiedlichen Themen untersucht werden (zur deutschen Szene vgl. z.B. SCHMITT UND IRION 2001, SACKMANN ET AL. (Hg.) 2009, zur amerikanischen Szene MACDONALD 2001, RAHN 2002, SNYDER 2009). Die Ergebnisse dieser Studien basieren typischerweise auf qualitativen Interviews.

In den 90er-Jahren lässt sich eine zunehmende kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Graffiti beobachten. Im gleichen Zeitraum bildet sich auch die Street-Art aus der Graffitiszene heraus, deren Akteure stärker bildorientiert arbeiten und mit Papierschnitten, Stencils (mittels Schablonen gefertigte Werke) und Figuren auch neue, eigene Formen hervorbringen. Im Verlauf dieser Entwicklung werden Graffitis verstärkt in kunstwissenschaftlichen Abhandlungen berücksichtigt und dabei häufig zusammen mit Street-Art-Werken in den Blick genommen (vgl. dazu GOTTLIEB 2008, WACŁAWEK [2011], 2012, REINECKE 2012).

Auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen findet eine Beschäftigung mit dem Phänomen Graffiti statt, z.B. im Bereich der Medienwissenschaft (vgl. dazu DITTMAR 2009), der Psychologie (vgl. dazu RHEINBERG UND MANIG 2003), der Rechts- und Kriminalwissenschaft (vgl. dazu BEHFOROUZI 2006, JEREMIAS 2010) und der Politikwissenschaft (vgl. dazu KLEE (Hg.) 2010). Die Perspektiven auf Graffiti unterscheiden sich dabei stark; im Bereich der Rechts-, Kriminal- und Politikwissenschaft wird Graffitiwriting beispielsweise primär als delinquentes Verhalten perspektiviert.

1.3.2 Graffiti als Forschungsgegenstand der Linguistik

Es gibt bislang erst einige wenige Untersuchungen, die Graffitis aus einer (schrift-)linguistischen Perspektive in den Blick nehmen. Das liegt zum einen daran, dass das Interesse der Schriftlichkeitsforschung lange Zeit primär den Formen ausgebauter Schriftlichkeit, also konzeptioneller Schriftlichkeit, galt (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 101). Graffitis zeichnen sich jedoch gerade dadurch aus, Formen minimaler Schriftlichkeit zu sein, d.h., sie bestehen oft nur aus einzelnen Wörtern oder Phrasen und bleiben auch in ihrer Bedeutung mitunter rätselhaft (TOPHINKE 2017: 161ff.). Als solche minimalen Formen standen sie zunächst weniger im Fokus der linguistischen Forschung. Zum anderen ist die relativ späte Beschäftigung mit Graffiti auch so zu begründen, dass die (Schrift-)Linguistik stärker an normgetreuen Formen der Schriftlichkeit orientiert war. Normabweichende Schreibungen, wie sie im Graffiti häufig zu finden sind, gerieten kaum in den Blick, was sicherlich auch im „stark normativ geprägten Verständnis von Schriftlichkeit begründet [liegt], das sich in schreibdidaktischen Zusammenhängen vermittelt“ (SCHUSTER UND TOPHINKE 2012a: 14).1

Darüber hinaus stellten Graffitis auch aufgrund ihrer besonderen bildlichen Gestaltung ein „Randphänomen“ der Linguistik dar (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 181). Wie PAPENBROCK UND TOPHINKE schreiben, bildeten Graffitis für die Linguistik aufgrund ihres „bildhaften Charakters“ einen eher untypischen Gegenstand (2012: 181). Die visuelle Erscheinung von Schrift wurde bis vor wenigen Jahren nicht als relevanter Forschungsgegenstand der Linguistik betrachtet.2 Erst im Zuge der Erkenntnis, dass Schrift weitaus mehr leistet, als mündliche Sprache aufzuzeichnen, fand auch die visuelle Seite der Graphie zunehmend Berücksichtigung.3

Um die linguistische Beschäftigung mit dem Phänomen Graffiti möglichst systematisch darzustellen, werden im folgenden Abschnitt einige wichtige Publikationen chronologisch vorgestellt und diskutiert.

Erste linguistische Publikationen, die sich mit Graffiti im weitesten Sinn auseinandersetzen, erscheinen in den 80er-Jahren.4 In diesen frühen Veröffentlichungen werden Graffitis häufig als informelle, jugendsprachliche Äußerungen perspektiviert. BLUME (1980, 1981) untersucht Graffitis etwa als „schriftliche sprachliche Äußerungen auf Tischen, Stühlen, Wänden und Türen von Klassenzimmern“ und gliedert diese Äußerungen anschließend nach syntaktischen und semantischen Typen (1980: 173). NEUMANN fasst in ihrer Dissertation 1986 Gaunerzinken, Tramperspuren und weitere Zeichen an der Wand als Graffitis auf und stellt den oppositionellen Anspruch dieser Zeichen heraus. Sie deutet diese Zeichen als „Widerstand gegen standardisierte Kommunikation“ und als „Aufstand der Normalsprache“ (NEUMANN 1986: 270). NEUMANN nimmt in dieser Arbeit auch eine sprachwissenschaftlich orientierte Kategorisierung der Graffitis vor und legt dabei bereits eine Kategorie mit „Namen und Pseudonyme[n]“ an (1986: 91ff.). Auf der Grundlage einzelner Beispiele aus ihrem Korpus stellt sie fest, dass die Namen „einen grafischen Überschuß“ haben und sich mit Ornamenten und Pfeilen zu „Buchstabenfiguren“ zusammensetzen (NEUMANN 1986: 100).

SCHMIEDEL ET AL., die Graffiti 1998 ebenfalls als jugendkulturelles Phänomen betrachten, stellen bereits das Szenegraffiti in den Fokus ihrer Betrachtung. Sie werten dabei 261 Fotografien, ein Blackbook5 und qualitative Interviews aus der Osnabrücker Szene aus und zeigen auf, anhand welcher Kategorien Graffitis von den Akteuren beschrieben und bewertet werden.

Eine andere Perspektive auf Graffitis eröffnet sich mit der Entwicklung der Linguistic-Landscape-Forschung. In dieser Forschungsrichtung, die in Kapitel 2 noch genauer beschrieben wird, geht es um die Betextung des öffentlichen Raums und darum, welche Formen von Schriftlichkeit sich in einem bestimmten geographischen Raum finden, welche Sprachen vertreten sind, wo die Schrift platziert ist etc. Da es sich bei Graffitis um Schriftformen im öffentlichen Raum handelt, rücken sie in den Fokus der LL-Forschung. Im Rahmen dieser Forschungsrichtung nimmt sich zunächst PENNYCOOK (2009, 2010) des Themas an. Er betont, dass Graffitis nicht nur im urbanen Raum angebracht werden, sondern diesen wesentlich mit konstruieren: „Landscapes are not mere backdrops on which texts and images are drawn but are spaces that are imagined and invented.“ (PENNYCOOK 2009: 309f.) In dieser Perspektive wird auch der räumlich-situative Kontext bei der Betrachtung der Graffitis relevant (PENNYCOOK 2010: 143).6 Weitere Publikationen, die das Thema Graffiti betreffen und der LL-Forschung zugeordnet werden können, stammen von KAPPES (2014), SCHMITZ UND ZIEGLER (2016) und WACHENDORFF ET AL. (2017).

Zum Gegenstand sprachwissenschaftlicher Betrachtung werden Graffitis auch als Formen des „Andersschreibens“ (SCHUSTER UND TOPHINKE (Hg.) 2012b). SEBBA (2003, 2007, 2009) geht beispielsweise in verschiedenen Publikationen auf Graffitis ein, um aufzuzeigen, dass orthographische Abweichungen als Mittel genutzt werden, mit dem sich soziale Gruppen konstituieren und von anderen Gruppen abgrenzen (2007: 168). Er versteht Graffiti dabei als „one of the few types of very public writing where no spelling is imposed; writers are free to flout all norms or to develop their own new ones“ (SEBBA 2003: 161). Auch JØRGENSEN (2007, 2008) perspektiviert Graffitis als besondere Schreibungen. Er hebt insbesondere den kreativen Umgang der Writer mit verschiedenen Sprachen hervor. Graffitis sind in diesem Sinne Andersschreibungen, weil verschiedene Sprachen in einem Satz oder auch in einem Wort kombiniert werden. JØRGENSEN bezeichnet dieses Phänomen als „languaging“ (2007: 165).

Graffitis sind in den letzten Jahren auch vermehrt in ihrer besonderen Bildlichkeit, also ihrer Verbindung aus schriftlichen und bildlichen Elementen, wahrgenommen worden, z.B. bei MEIER (2007), METTEN (2011), PAPENBROCK UND TOPHINKE (2012, 2014, 2016) und TOPHINKE (2016, 2017). Sie werden dabei als „Formen des Andersschreibens im Schnittbereich von Schrift und Kunst“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 179) betrachtet und die besondere Wirkung, die sich aus dem Zusammenspiel schriftlicher und bildlicher Eigenschaften ergibt, beschrieben. Diese Perspektive auf Graffitis bildet sich im Rahmen eines zunehmenden Interesses der Linguistik an den bildlichen Eigenschaften der Schrift heraus. Mit der Beobachtung, dass die Gestaltung bzw. die Bildlichkeit eines Textes dessen Interpretation beeinflussen kann, Schriftgestaltung also durchaus über ein Bedeutungspotenzial verfügt, rückten auch Graffitis in das Blickfeld der Forschung.

TOPHINKE (2016) nimmt Graffitis außerdem in einer praxistheoretischen Perspektive in den Blick. Sie zeigt auf, dass das Herstellen von Graffitis eine sozial fundierte Praktik ist und die Graffitis selbst als Artefakte dieser Praktik betrachtet werden können. Durch diese Perspektive zeigt sich, dass sich viele Merkmale der Graffitis aus den sozialen und körperlich-handwerklichen Bedingungen ihrer Herstellung ergeben. Als Schriftlichkeit, die an eine soziale Gruppe und an eine Praktik gebunden ist, werden Graffitis auch in den Aufsätzen von PAPENBROCK, RADTKE und WACHENDORFF ET AL. betrachtet, die im Sammelband „Graffiti: Deutschsprachige Auf- und Inschriften in sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive“ (2017) erschienen sind.

Zuletzt sind Graffitis auch in ihrer besonderen, minimalen Grammatik in den Blick geraten (vgl. dazu TOPHINKE 2017 und TOPHINKE im Erscheinen). Dies knüpft an Überlegungen von HENNIG an, die in ihrem Aufsatz „Grammatik multicodal“ Schriftlichkeit auf Schildern in den Blick nimmt und feststellt, dass bei der Beschreibung dieser Schriftlichkeit „ein Grammatikbegriff benötigt wird, der sich nicht auf die verbale Codierung beschränkt“ und stattdessen die Interaktion der Schriftsprachlichkeit mit weiteren Zeichensystemen berücksichtigt (2010: 74). TOPHINKE stellt in ihrem Aufsatz „Minimalismus als Konzept“ (2017) heraus, dass bei Formen minimaler Schriftlichkeit, zu denen auch Graffitis gehören, ebenfalls verschiedene Ressourcen (wie die lexikalische Bedeutungen, die schriftbildlichen Eigenschaften und die Platzierung) zusammenwirken (164f.). Im Aufsatz „Graffiti-Writings als Kommunikate des Urbanen“ (2019) thematisiert TOPHINKE gezielt die Wirkungen, die sich aus den schriftbildlichen Eigenschaften der Graffitis ergeben.

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9783823301929
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