Kitabı oku: «Blutgrätsche»
Jürgen Neff
Blutgrätsche
Fußball-Krimi
Zum Buch
Mord in der Kurve Nie wieder wollte Nina Schätzle ein Stadion betreten. Doch nach einem Pokal-Derby gegen den Erzrivalen wurde Cat Benzeler ermordet – eine wichtige Figur der Heidenheim-Ultras – und Schätzle und ihr neuer Partner sind mit dem Fall betraut. Schätzle hat einen speziellen Bezug zum 1. FCH und den weiblichen Ultras, den Societas: Sie stand selbst jahrelang als Ultra jeden Sonntag im Stadion, die Gemeinschaft bedeutete für sie Familie und Heimat. Alles endete damit, dass sie als junge Polizistin zwischen zwei Fan-Gruppen geriet und dabei ein schweres Trauma erlitt. Damals schloss sie mit ihrem alten Leben ab, muss nun jedoch unfreiwillig zurückkehren: Denn die Tote ist ihre frühere beste Freundin. Unter den Rivalen aus Aalen gibt es zahlreiche Tatverdächtige, und auch in den eigenen Reihen standen dem Opfer nicht alle positiv gegenüber. Im Laufe der Ermittlungen ergeben sich zudem Verdachtsmomente in den Reihen der Polizei.
Jürgen Neff studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, arbeitete an deutschen Theatern und fuhr auf Kreuzfahrtschiffen zur See. Heute coacht er Seefahrer, Piloten und Ärzte in Resilienz, Kommunikation und Konfliktmanagement. Seit seinem Studium beschäftigt er sich mit Emotionen, verarbeitet dies in Theaterstücken wie „ANGST!“ oder „Freier Wille?“, das bei den Essener Autorentagen 2016 den Publikumspreis erhielt. Für seinen ersten Kriminalroman im Gmeiner-Verlag hat er sich mit einem emotional geladenen Massenphänomen beschäftigt: dem Fußball und der Faszination Fankurve.
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © redcus / photocase.de
ISBN 978-3-8392-6700-4
Widmung
Für meine Familie,
insbesondere meinen Vater, den alten Kicker.
*
Wem du anhängst, ist,
was dich ausmacht.
Ole, ole
Dichter Dunst. Feuerdurchbrochen. Schiefe Schreie von beiden Flanken. Trommelschläge jagen übers Feld, und es riecht nach Rauchfleisch. Der Nebel lichtet sich, und man erahnt die Massen wieder. Freund? Feind? Wer weiß. Nur Farben und Parolen unterscheiden die zwei Menschenrudel. Der Blitz einer weiteren Granate macht nochmals alle blind. Noch blinder, als sie es schon sind – vor Hass.
Orientierungslos. Was für ein Scheiß.
Dann bricht der Sturm los. Heiß. Das Dreckspack schlägt jetzt zu. Gnadenlos. Wut um die Münder, Entschlossenheit im Blick, so prallen sie aufeinander. Schmerz-, Kampf-, Angstgeschrei vermischen sich mit den Trompeten. Knochen bersten, oder sind es Hölzer?
Und wir? Wir warten ab, lassen die sich auspowern. Sehen zu.
Die einen gewinnen an Boden, drängen den Gegner zurück in seine Hälfte. Und der verschiebt sich, teilt sich in der Mitte. Es war nur eine Finte. Abseitsfalle. Dahinter rollt schon eine zweite Welle an. Eingekesselt hat der Gegner keine Chance gegen diesen schnellen Konter.
Dann kommt der Befehl: Angriff! Und wir brechen von der Flanke ein. Adrenalin schießt ins Blut, die Muskeln spannen sich, verkrampfen fast. Der Mob hört uns kommen und erkennt die Uniformen. Und er weiß, unsere Ausrüstung ist besser, unsere Ausbildung auch. Und plötzlich formieren sie sich, rotten sich zusammen. Weil es einen neuen Gegner gibt, einen gemeinsamen.
Kurz darauf wirft mich etwas zu Boden. Blutgrätsche.
Stiefel, die auf mir herumtrampeln. Ole, ole.
Der Helm, der durch die Massen über mir verrutscht. Ole, ole.
Schuhe, die mir gegen Schläfe und das Brustbein treten. Ole, ole.
Eisen auf der Zunge. Blut, das mir durch die Zähne rinnt. Ole, ole.
Ole, ole.
Anpfiff –
daran gewöhnt man sich nie
Ich mag Sonntagsleichen.
Aber nur, wenn der Anruf auch sonntags kommt! Muss ich mich wenigstens nicht den ganzen Tag langweilen, kackbanale Chats führen und mich mit dem Nachbarn streiten. Nur weil der sich wieder aufregt, dass ich auf dem Balkon eine rauche.
Aber Montagfrüh! Alter, das geht gar nicht.
»Sie liegt dort drüben im Gebüsch«, informiert uns der junge Streifenpolizist, der gerade das Absperrband befestigt. Wandernde Schneemänner im Grün. Die weißen Overalls wirken deplatziert in diesem frühlingshaften Stück Wald. Das Albstadion ist nur 200 Meter entfernt und doch kaum zu sehen. Mein Kaffee-to-go in der linken Hand ist das einzig Warme. 6 Uhr, der feuchte Aprilnebel sieht aus wie unordentlich über das Feld geworfen.
Ist es wirklich schon sieben Jahre her, seit ich hier oben war? Damals. Und das nur, um innerlich damit abzuschließen. Einen Schlussstrich zu ziehen. Weil der Polizeipsychologe es für wichtig hielt. Dieser Arsch. Als ob das irgendwas geändert hätte. Auf dem »Berg der Ehre«. Dem Schlossberg.
Ja. Ich war 35 damals.
Das Erste, was ich von ihr sehe, sind nackte Beine; Laubblätter kleben daran. Sie hat nur einen Schuh an. Knallroter Nagellack. Abgeplatzt. Warum trägt sie keine Socken in Turnschuhen? Ein Schneemann der Spurensicherung schießt Fotos von allen Seiten. Sie liegt auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch. Als würde sie schlafen. Kurze Jeanshosen, sehr kurz. Blut, viel Blut an den Beinen. Dann sehe ich das zerfetzte rot-blaue Shirt, noch mehr Blut, Tattoos, bekannte Motive, den Seidenschal, die blutverklebte blonde Mähne und dann … Scheiße.
Es wirft mich unmittelbar zurück. In eine verlorene Zeit. Kurz bin ich ganz woanders, ringe nach Luft. Der Weißkittel macht noch immer Fotos, und ich möchte es ihm am liebsten verbieten. Nein. Eigentlich will ich ihm seine Scheißkamera aus den Händen reißen und sie ihm in die Fresse hauen. Mein Psychoonkel wird sich freuen, wenn ich ihm das nächste Mal davon erzähle.
»Identität?«, fragt Schröter und holt mich wieder in die Gegenwart.
»Katrin. Katrin Benzeler«, sage ich und Schröter starrt mich an. »32 Jahre alt.«
»Du kennst sie?«
»Ich kannte sie.«
»Schon klar, Nina«, meint Schröter, der sich ebenso krampfhaft an seinem Kaffeebecher festhält wie ich. Mein ultrakorrektes Arztsöhnchen aus Norddeutschland ist kein Morgenmuffel. Aber diese Zeit scheint selbst für meinen neuen Partner Frederick Schröter zu früh.
»Nein. Ich meine: Es ist schon Jahre her, dass wir uns kannten. Damals war ich noch jeden Sonntag auf dem Platz. Hier oben in der Voith-Arena oder beim Auswärtsspiel.«
»Verstehe.«
In meinem Kopf türmen sich Bilder, matt, wie hinter schmutzigem Glas. Brüllende Menschen in bunten Trikots, brennende Leidenschaft und bengalische Schlachtrufe. Mein Gott. Ferne Zeiten völlig nah.
»Sie gehört zu den Societas. Den weiblichen Ultras. Wir haben sie Cat genannt.«
»Ultras«, wiederholt Schröter, der, das weiß ich schon, von Fußball so viel Ahnung hat wie ich vom Wäschewaschen.
»Daran gewöhnt man sich nie, oder?«, meint der weiße Tatort-Paparazzo, der näher zu uns getreten ist und sich hinkniet, um ein Foto von Cats rechtem Fuß zu schießen. Fällt mir schwer, sie bei ihrem Spitznamen zu nennen. Ich möchte sie zudecken, ihr Schutz geben. Ein bisschen Abstand schenken von fremden Leuten. Cat … Katrin wenigstens das bisschen Würde schenken, welches sie verdient hätte, das doch jedem Menschen zustehen sollte, wenn er seinen letzten Weg angetreten hat. Stattdessen lichtet der Paparazzo ihren zerschundenen Leichnam ab. Zentimeter für Zentimeter. Hochauflösend. Das Stück menschliches Fleisch, in dem meine Cat einmal drinsteckte. Und ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. »Brutalstfoul«, meint er. Das macht es nicht besser. Jetzt möchte ich ihm tatsächlich die Fresse polieren. Scheiße, Katrin!
»Guten Morgen, Frau Schätzle«, sagt in diesem Moment eine bekannte Stimme hinter mir.
»Du sollst mich nicht so nennen, Berti«, erwidere ich Robert Heinzel. Er ist der Leiter der Spurensicherung. Der Ton verrutscht mir. Bei normalen Leichenfunden geht mir das Herz auf, wenn ich Berti sehe. Mein SpuSi, wie ich ihn für mich gerne nenne. Jetzt aber … Berti blickt auf Katrin hinab, lange, dann sieht er zu mir auf. »Haben sie entsetzlich zugerichtet, unsere Cat.«
Ich weiche seinem Blick aus. Warum spricht er im Plural?
Ihr Gesicht hat kräftige Blessuren, der Körper ein paar blaue Flecken. Aber ich benötige keinen Fachmann, um die Todesursache zu erkennen. Es wurde mehrfach auf sie eingestochen. Ich spiele mit meinem Fingerstummel. Mir fehlt an der linken Hand das letzte Glied des kleinen Fingers. Wenn die Leute fragen, sage ich immer, es war ein Unfall. War es ja auch irgendwie. Ist eine längere Geschichte. Jedenfalls knete ich oft auf ihm herum, wenn ich ins Grübeln komme. Als »stummeln« bezeichne ich es gern.
»War das Staging genau so?«
»Wie bitte, was?«, kommt mir Berti zuvor.
»Wurde sie genau so gefunden?«, korrigiert sich Schröter, und ich bin dankbar dafür, dass mein junger Kollege die Führung übernimmt. Auch wenn es eindeutig noch zu früh ist für die geschwollene Ausdrucksweise meines norddeutschen Partners. Ich muss das erst mal verarbeiten.
»Nicht ganz«, erklärt mein SpuSi. »Der Schal war ausgebreitet über ihr Gesicht gelegt.«
Schröter nickt nachdenklich, bekommt diesen Blick, den ich schon von ihm kenne. Sein Tatortscanner beginnt zu arbeiten. Versuch dich zu konzentrieren, Nina!
»Also gut, Schröter. Beeindruck mich mit deiner Weisheit«, taste ich mich ungelenk an einen normalen Tonfall heran. Er reagiert nicht. In ihm läuft bereits sein Programm. Er ist gerade mal 35, noch nicht lange bei der Kripo, und ich weiß nicht, woher er das hat, aber er ist extrem gut im Lesen eines Tatorts. Nur wirft er dann immer mit solchen Fremdwörtern wie »Staging« um sich, was irgendwann anstrengend wird. Besonders um diese Uhrzeit. Ganz besonders bei dieser Toten.
»Frage dich, wie der Täter den Leichnam ansah«, doziert er grübelnd. Das meine ich: Er gibt schlaue Sprüche von sich, die fast philosophisch klingen. Kämen sie aus dem Mund eines alten Mannes mit weißem Bart, würde ich jedes Mal zu Boden sinken vor Demut. Aber sie stammen eben von Schröter.
»Und?«
»Jedenfalls wurde die Szene nachträglich verändert. Er hat das Gesicht des Opfers verdeckt. Das könnte darauf hindeuten, dass er es kannte. Könnte eine Art emotionale Wiedergutmachung sein. Er will es ungeschehen machen. Darauf deutet auch die schlafende Haltung hin. So lag sie sicher nicht unmittelbar nach der Tat da.«
»Klingt einleuchtend.«
»Wurde sie vergewaltigt?«
Ein Stich fährt mir durch den Hinterkopf.
»Bisher deutet nichts darauf hin«, antwortet Berti in bitterem Ton. Vermutlich schmerzt sein Kopf ebenso wie meiner.
Schröter glotzt wie eine Kuh auf dem Felde, brütet über der Szene wie Günter Netzer über der Spielanalyse. »Sieht das für euch nach einem geplanten Verbrechen aus?«
Wir blicken uns an, keiner sagt etwas. Ich bin noch nicht da. Definitiv.
»Ich glaube eher, es ist aus einer emotionalen Notlage heraus entstanden und wurde danach so für uns arrangiert.«
Emotionale Notlage. Ist es das nicht immer? »Vermutlich hast du recht«, antworte ich dem Tatortphilosophen trotzdem. »Mehrere Messerstiche. Er war wütend und ist danach selbst über seine Tat erschrocken. Dann hat er das Gesicht der Leiche verdeckt, um ihr nicht mehr in die Augen sehen zu müssen.«
Schröter nickt. »Könnte aber auch eine Anonymisierung sein. Vielleicht ging es gar nicht um sie als Person, sondern darum, eine beliebige Frau zu töten oder einen zufälligen Fan.«
»Du meinst eine symbolische Tat: einen Heidenheim-Fan.«
»Genau. War gestern ein Spiel hier?«, fragt Schröter, und ich und Berti glotzen ihn ungläubig an.
»Ist nicht dein Ernst, oder?«, schnarre ich. »Gestern war DFB-Pokal, gegen Aalen.«
Schröter sieht mich an, als hätte ich Nostradamus zitiert. »Und?«
Ich wende mich flehend an Berti, und er springt für mich ein. »Wir haben die Aalener 4:1 verdroschen.«
Danke. Aber Schröter kapiert noch immer nicht.
»Die Aalener und Heidenheimer sind sich spinnefeind. Zwischen denen gibt es von jeher böses Blut. Und wenn die hier 4:1 untergehen, dann kochen die Emotionen hoch.«
Jetzt lichtet sich der Nebel bei Schröter. »Ach so. Okay.«
»Na endlich«, rutscht es mir heraus, und Schröters Gesicht verzieht sich.
»Benimm dich, Nina«, meint Berti mit einer Tüte in der Hand. »Ihr Handy. Zertrümmert.«
»Todeszeitpunkt?«, frage ich ihn.
»Muss kurz nach dem Spiel gewesen sein.«
Wäre kaum drauf gekommen. Manchmal kann ich mich einfach nicht beherrschen.
»Moment mal«, sagt Berti und kniet sich neben Katrin. »Da steckt etwas.« Er beugt sich über ihr Gesicht, nimmt seine Pinzette und zieht ein Stück festen Stoff aus ihrem halb geöffneten Mund. »Ein Heidekopf-Emblem.«
Wieder der Gedanke: so viel Nähe zu einem toten Menschen, der geliebt wurde. Das ist einfach nicht richtig. Wenngleich es sich bei Berti anders verhält. Er kannte Cat und mochte sie sehr. Das macht es ein wenig besser.
Er lässt das Emblem in eine Plastiktüte fallen. »Vermutlich von ihrer Kleidung abgerissen.«
»Das klingt fast wie eine symbolische Degradierung«, brütet Schröter. »Auch wenn in dem Abreißen irgendwie Wut steckt.«
Ich mustere ihn. »Du siehst echt zu viele amerikanische Serien, Schröter.« Er antwortet mir nicht, und ich frage in die Runde: »Wer war gestern hier?« Drei Streifenpolizisten heben den Arm. »Wer nicht dienstlich, sondern im Block?« Alle drei lassen ihre Arme wieder sinken.
»Ich«, erklärt in diesem Moment Berti.
»War eigentlich klar. Ist irgendetwas vorgefallen in der Kurve?«
»Was denkst du, bei diesem Ergebnis? Die Fanatico Boys haben natürlich aufgedreht. Die Fans der anderen auch. Schätze, es waren 300 bis 400 Ultras auf beiden Seiten.«
»Aalener Crew Eleven.«
Berti nickt.
»Schweinskopf-Parolen?«
»Klar. Die skandierten die Aalener schon vor dem Stadion, beim 0:1 gegen uns auch, später, als es 3:1 für uns stand, noch viel lauter und verbissener. Und auf dem Rückweg zum Bahnhof.«
»Wie viele von uns waren im Einsatz?«
»Zwei Hundertschaften«, informiert mich einer der Kollegen von der Seite.
Klar. »Hochrisiko-Spiel.« Allen ist im Voraus bewusst, wie es dabei zugeht.
»Wir hatten die Lage im Griff«, erklärt der Kollege weiter. »Die Blöcke waren gut separiert. Nach dem Spiel gab es einige Ausbruchsversuche, die Sonderkräfte konnten dies aber unterbinden. Außer der üblichen Randale im Zug und einiger unkontrollierter Bengalos am Bahnhof ist nichts weiter vorgefallen.«
»Bis auf die drei Schwarzen, die sich in die Ost geschlichen hatten«, wirft Berti ein und ich sehe ihn an. Die Schwarze Elite der Aalener.
»Die Ost?«, fragt Schröter.
»Mensch, Schröter. Die Osttribüne, wo die heimischen Ultras stehen.«
»Die drei Aalener haben sich hinübergemogelt«, erklärt Berti, »und einen Schweinskopf an die Wand gesprayt. Das warf aber keine Wellen mehr, weil der Ausgleich fiel. Und beim 2:1 inszenierte Katrin ihren großen Auftritt.«
»Was meinst du?«
Bertis Augen funkeln. »Hättest du sehen müssen: Es steht 1:1, und wir bekommen in der 71. Minute einen Elfmeter. Schnatti, der Kapitän, schießt, trifft den Ball nicht richtig, und der Aalener Torwart, der Italiener Brunelli, ist gut, kommt ran. Aber der Ball kullert trotzdem langsam hinter die Linie. 2:1, mit viel Dusel. Und Katrin springt auf die Balustrade, entreißt dem Capo der Fanaticos das Megafon. In dem Moment hält die Stadionkamera auf sie, und sie realisiert, dass sie auf der Großleinwand zu sehen ist. Sie reißt ihr T-Shirt hoch und auf ihren nackten Brüsten ist ein Stinkefinger gemalt, und darunter steht: ›Fuck you, Aalen!‹ Dann brüllt sie durchs Megafon: ›Fuck you, Aalen! Fuck you, Aalen!‹ Und die Menge tobt und brüllt mit.«
»Scheiße.« Die Katrin. Oh Mann.
»Nina. Keine Kontamination bitte«, weist mich Berti zurecht.
Erst jetzt bemerke ich, dass ich meine Kippenschachtel und das Feuerzeug in den Händen halte. »Sorry.«
Ich sehe auf das Emblem in der Plastiktüte, dann auf Cat hinab; Schröter und Berti auch. Der Philosoph spricht das aus, was wir alle denken: »Hat ihr jemand das Maul gestopft?«
Und an das noch viel weniger
»Mensch, Nina. Das ist ja der Wahnsinn!«, freut sich Vater Benzeler überschwänglich. »Schön, dich zu sehen. Komm rein!«
Genau davor hatte ich Angst. Brauchte eine halbe Stunde, um mit Schröter aus dem Auto auszusteigen, und nochmals zehn Minuten, um endlich an dem Reihenhäuschen in der Albstraße zu klingeln, einer Allee, die einem das »Alles in Ordnung« entgegenbrüllt wie ein Bobbycar im Sandkasten: Birken rechts und links, säuberlich getünchte Familiennestchen, Geranientöpfe, ein Engel im Vorgarten – wenigstens kein Gartenzwerg, der hätte mir den Rest gegeben.
Schröter gefällt es bestimmt. Bin mir sicher, bei ihm zu Hause sieht es nicht viel anders aus. Heim, Herd, Frau, zwei Kinder. Und ganz bestimmt auch Kugelgrill und Bobbycar.
Wir gehen ins Wohnzimmer. Vor meinem inneren Auge eine Stadionuhr, die heruntertickt. Mit jeder Sekunde, in der ich nicht mit der Nachricht rausrücke, sie ihnen vor die Füße werfe, wird es schwerer. Nichts ist so fatal wie das Verschweigen eines Erdrutsches. Jede Sekunde zählt!
»Du siehst gut aus, Frau Kriminalinspektorin«, bezirzt mich Katrins Erzeuger.
»Danke, Alfred.« Kriminaloberkommissarin eigentlich.
»Wollt ihr was trinken? Kaffee, Tee? Herr Schröter?«, fragt Anne.
Schnaps! Mein Blick schreit Schröter an, stumm.
Es hat sich nichts verändert in den letzten sieben Jahren. Gar nichts. Noch dasselbe Sofa mit den schrecklich großen Blumen auf dem Bezug. An der Wand das Foto der Fußballbrüder Heidenheim, ein Wimpel in Vereinsfarben. Vater Benzeler hat in der ersten Mannschaft gespielt. Zusammen mit meinem Vater. Vor Jahrzehnten. Daneben eins von Katrin. Dem einzigen Kind. Vor ihrem Motorrad, mit FCH-Schal. Freudestrahlend, als ende das Leben niemals.
Er bemerkt, wie ich auf das Bild starre.
»Ist nicht mehr das, was es einmal war, Nina. Du hast es rechtzeitig kapiert.«
Ich sehe ihn an, und mein Inneres schreit. Meine Seele zerfließt zu Brei. Katrins Mutter mustert mich. Frauen. Diese scheißempathischen Wesen! Ich will heulen. Ich will, dass Anne mich in den Arm nimmt und ich einfach heulen darf wie eine Achtjährige. Umgekehrt wäre es wohl angebrachter. Aber ich fühle mich so hilflos. So leer. Alter, ich weiß nicht, wie ich die nächsten paar Minuten überstehen soll.
Mein Gott. Das wird ein entsetzliches Treffen, das nächste Mal mit meinem Psychodoc. Ganz furchtbar!
Die Stadionuhr tickt unerbittlich weiter.
»Ich sag’s unserer Katrin immer wieder«, freut sich Vater Benzeler weiter. »Weißt du, Fußball okay. Klar, ist wichtig. War er uns damals auch. Aber es war nur ein Hobby. Doch das, was die heute daraus machen, mit ihrem vergrößerten Stadion und den Fans und dem Geld, das verdirbt alles. Und meine Kleine mittendrin.«
Die Mutter sieht mich weiter nur an. Ich brauche einen Schnaps!
»Ist auch nichts für ’ne Frau. Echt nicht.« Er nimmt seine Anne in den Arm. »Du weißt schon, wie ich es meine, nicht? Emanzipation und so, alles okay. Find’s schön, dass die Frauen mitkommen. Hat meine Anne auch gemacht.«
Tick, tack. Tick, tack.
Er küsst ihre Wange, aber seine Frau bleibt stoisch, taxiert mich. »Alfred. Lass die Nina doch mal zu Wort kommen.«
Doch Vater Benzeler ist so aufgeregt, er kann nicht stillhalten. »So ein hoher Besuch. Mensch. Ich freu mich so. Nun setz dich doch endlich.«
»Danke, Alfred.« Ich kann mich nicht auf das Sofa setzen! Darauf habe ich zusammen mit Katrin gesessen. Und mit meinem damaligen Mann. Da saßen wir, genau da, haben Schnaps getrunken und uns ein Logo für die Societas ausgedacht. Auch wenn Alfred und Anne nicht begeistert waren. Ich habe die beiden geliebt, und sie haben mir beigestanden bei der Beerdigung meines Vaters und danach. Auch nach meiner Scheidung.
»Wollt ihr wirklich nichts trinken?« Ich sag’s nicht noch mal!
Schröter sieht mich an: Kann nicht einschätzen, was er denkt. Wahrscheinlich schwankt er zwischen den Optionen, das Gespräch an sich zu reißen, auch wenn es anders verabredet ist, und davonzulaufen. Und ich? Ich möchte vom Boden verschluckt werden.
Tick, tack. Warum glaubte ich nur, dass ich das hinkriege?
»Ich … Alfred … Anne.« Meine Stimme krächzt, die Seele schlägt Blasen.
Wenig später ist es irgendwie passiert. Keine Ahnung, was ich tatsächlich gesagt habe. Totalamnesie. Es wäre denkbar, dass ich ihnen einfach nur ein Foto der Leiche gezeigt oder die schreckliche Nachricht auf ein Blatt Papier gekritzelt habe. Ich weiß es beim besten Willen nicht mehr. Muss Schröter nachher fragen, ob es einigermaßen okay war und mein Autopilot funktionierte.
Der Raum versinkt unter dem Erdrutsch. Das ganze Haus wird verschluckt von Nichts und Endgültigkeit. Schwarz, alles nur noch schwarz. Auch die bunten Blumen des Sofabezugs. Katrins Vater sitzt bibbernd in der Ecke und heult. Aufgelöst, kann nicht mehr. Schock, Ungläubigkeit, Verzweiflung. Kopfschütteln und Zerfließen.
Anne gelingt es noch zu sprechen.
»Wann habt ihr sie das letzte Mal gesprochen?«, frage ich sie.
»Gestern, vor dem Spiel. Die sind auf dem Schlossberg aufmarschiert, wie immer: Treffen in der Clubhalle des Fanprojekts unten in der Stadt und geschlossen hoch vors Stadion. Und dann kam sie rüber, und wir haben ein bisschen geredet. Sie war gut drauf. Und der Vater kritisierte sie wieder, weil sie so ausstaffiert war.«
»Ich wollt doch nur, dass sie sich was Ordentliches anzieht«, wimmert Vater Benzeler. »Muss doch bei der Kälte nicht in kurzen Hosen rumlaufen.«
»Das geht uns nichts mehr an, Alfred.«
»Ich sagte ihr immer, Ultra sein ist doch nichts für ’ne Frau. Die Nina hat das hingekriegt. Haben wir ihr immer gesagt.«
Ich muss innerlich lachen. Das hat sie sicher richtig gern gehört. Die fahnenflüchtige Verräterin als Vorbild.
»Und die Kerle. Hast du gesehen, wie die Kerle sie angrinsten?«, jammert er weiter.
»Die grinsen nicht, weil sie Ultra ist, sondern weil sie scharf auf sie sind«, fährt Anne ihn an, und Alfred fällt wieder winselnd in sich zusammen.
»Anne, weißt du, ob sie in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte?«
Katrins Mutter schüttelt den Kopf. »Wir wussten wenig in letzter Zeit. ›Warst seit Wochen nicht mehr da‹, hab ich ihr gestern noch vorgeworfen.« Sie heult, leise, unauffällig, in sich hinein. »Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?«
»Vor einem Dreivierteljahr sind wir einmal in der Stadt beinahe zusammengestoßen. Sie war auf dem Weg zur Arbeit, und ich meinte, ich käme die Tage einmal in ihrem Copy-Shop vorbei. Aber dann kam etwas dazwischen und …« Scheiße.
»Sie hat immer von dir geschwärmt, Nina«, sagt Anne. »Hat jeden Artikel über dich ausgeschnitten. Das Bild von dir bei der Polizeiprüfung und dann, als du im Heidenheimer Blatt warst als Kripobeamtin.«
Ich nicke. Was soll ich auch sonst tun?
»Hatte sie einen Freund? Von Johannes hat sie sich ja getrennt.« Weiß gar nicht, woher mir das bekannt ist.
Anne schüttelt den Kopf. »Nicht sie hat sich getrennt, er.«
»Ach. Okay.«
Ihre Schultern fallen noch tiefer hinab. »Guck doch mal, dass du endlich ’nen gescheiten Mann kriegst, Nina.«
»Wie bitte?«, frage ich.
»Das war das Letzte, was ich meiner Katrin gesagt hab.« Sie sieht mich an, die Tränen rinnen ihr über das Gesicht, und sie wiederholt es. »›Guck doch mal, dass du endlich ’nen gescheiten Mann kriegst.‹ Sie lachte nur und meinte: ›Och Mama. Ich bin doch noch jung.‹ Dabei wird sie bald 33.«
Pause. Lange Pause; und noch immer kein Schnaps. Realisiere, dass ich schon wieder an meinem Fingerstummel spiele.
»Und mit der Bande war alles gut, den Societas? Gab es da Probleme? Machtkämpfe?«
Katrins Mutter schüttelt den Kopf. »Sie hat darüber nicht viel erzählt. Weil sie wusste, der Vater mag es nicht hören. Erfuhren immer mehr von den Nachbarn oder so. Aber soweit ich weiß, waren die in letzter Zeit richtig angesehen bei den Fans. Integriert in alles. Es lief ja gut. Bei der Mannschaft und bei den Fans.«
»Weißt du, warum Johannes sich von ihr trennte?«
»Weil er sie aufgegeben hat!«, brüllt Vater Benzeler, fällt aber sofort wieder zurück in Lethargie.
Anne schüttelt den Kopf. »Er hat ihr vor zwei Jahren einen Antrag gemacht. Aber Katrin hat ihn abgelehnt.«
»Echt?« Ich kann es kaum glauben: Der einst wichtigste Spieler der Mannschaft macht ihr einen Antrag, und sie lässt ihn abblitzen. Aua.
»Hab ich ihr auch gesagt: Der Johannes hat eine Zukunft. Aber sie konnte sich nie gut entscheiden. War immer ihr Problem. Wollte sich nicht festlegen.«
»Es gab aber keinen anderen?«
Mutter Benzeler blickt mich an, ihre Augen sind rot und ertrinken. »Nina. Sie hat dich immer vermisst, weißt du.«
Ich starre sie an. Ich kann nicht wegsehen.
»Das hat sie oft zu mir gesagt: Es sei einfach nicht mehr dasselbe ohne dich.«
Dann stehen wir irgendwann draußen. Rauchend glotze ich die Alles-in-Ordnung-Allee hinab. »Ich sollte hierbleiben. Sollte ihnen …« Aber ich kann nicht, spiele mit meinem Therapie-Gummiband am Handgelenk, will meine Atmung beruhigen. Und mein Hirn.
Schröter versucht zu retten, was zu retten ist. »Den Schnaps hättest du rein nach Vorschrift nicht trinken dürfen.«
Habe ich?! Anscheinend. Ich weiß echt nichts mehr. »Ich brauch ein Bier.«
»Wir müssen in ihre Wohnung.«
»Ich habe keinen Bock!«
Er zieht die Augenbrauen nach oben wie mein Religionslehrer damals.
Ich bin hier die Vorgesetzte, verdammt! Auf Professionalität darf nur ich mich berufen.
»Verstehe, wer das Opfer war, und du erkennst, wie dein Täter ist.«
»Wo du immer diesen Mist hernimmst, Schröter.«