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3. Seelsorge und Seelsorgelehre in der Gegenwart
3.1Poimenische Herausforderungen
Für die Seelsorgelehre in der Gegenwart und vor allem im Kontext des deutschen Protestantismus ist es notwendig, mindestens mit drei historischen Herausforderungen zu rechnen: dem Siegeszug der modernen Psychologie, den einschneidenden Katastrophenerfahrungen dieses Jahrhunderts und der zunehmenden Säkularität der Kultur und des privaten Lebens. Es sind sozusagen die gesellschaftlich-historischen Rahmenbedingung für die theologische Poimenik.
•Da ist zunächst die Entwicklung der von Wilhelm Wundt begründeten wissenschaftlichen Psychologie und einer von ihren Methoden ausgehenden Psychotherapie zu nennen. Psychologische Kenntnisse in unterschiedlichster Form prägen heute in vielfacher Weise das Leben von einzelnen Menschen und Gruppen. Vor allem die Psychoanalyse – obwohl akademisch nur bedingt akzeptiert – hat Sprache und Denken in unserer Gesellschaft in viel höherem Maße beeinflusst, als uns das normalerweise bewusst ist. Eine Seelsorgelehre, die sich einer Rezeption psychologischer Einsichten und einer Auseinandersetzung mit therapeutischen Verfahren widersetzt, verkümmert zu einer Gruppenpoimenik für geschlossene kirchlich-religiöse Kreise. Die Praktischen Theologen der liberalen Schule – genannt seien: Otto Baumgarten, Paul Drews, Friedrich Niebergall – hatten das auf ihre Weise schon am Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt. Sie hatten zeitig begonnen, empirische Erkenntnisse zu integrieren und sich humanwissenschaftliche Methoden zu Eigen zu machen.1 Als ein Pionier einer Seelsorge, die grundlegende anthropologische Einsichten von außerhalb der Theologie rezipiert, muss Oskar Pfister genannt werden. Dieser Schweizer Pfarrer und Therapeut nahm die Herausforderung, die in dem ja auch stark religionskritischen Ansatz der Psychoanalyse Sigmund Freuds lag, kreativ auf und entwarf – auf dem Hintergrund seiner ebenfalls liberalen Theologie – das Konzept einer „analytischen Seelsorge“2. Während Pfister sich relativ streng an den Methoden Freuds orientierte, hat Otto Haendler schon früh versucht, die „komplexe Psychologie“ Carl Gustav Jungs für Theologie und Seelsorge fruchtbar zu machen.3 Ähnliches wie für Haendler trifft auch für Walter Uhsadel zu, während Alfred Dedo Müller sich auf eigene Weise um die Zusammenarbeit mit der modernen Psychologie bemüht hat.4 – Durch die Psychotherapie ist der Seelsorge ihr ursprüngliches Monopol im Blick auf die Arbeit an der menschlichen Seele streitig gemacht worden. Darin ist sie zur Herausforderung für die Seelsorgelehre geworden. Es ist für die Kirche insgesamt und für die Seelsorge im Besonderen von hoher Bedeutung, ob sie auf diese Herausforderung nur mit defensiven Abwehr- und Abgrenzungsmanövern reagiert oder ob sie die Chancen wahrnimmt, die in einer echten Begegnung von Therapie und Seelsorge liegen.
•Der zweite Faktor, der hier zu nennen ist – sind die Katastrophenerfahrungen seit Anfang des 20. Jahrhunderts: die Weltkriege, der Holocaust, die Atombombe, die totalitären Diktaturen, der internationale Terrorismus und die sich immer krasser ausprägenden Strukturen der Ungerechtigkeit. Man mag hier unterschiedlich werten und dem andere Katastrophen und Bedrohungen hinzufügen – die hier angedeuteten kollektiven Erfahrungen haben etwas zu tun mit unserer Art zu leben und zu hoffen, zu glauben und zu zweifeln. Sie prägen unser Menschenbild im positiven und im negativen Sinne. Und sie wirken sich auch auf die Erwartungen und Anforderungen an die Seelsorgearbeit der Kirchen aus. Denn all die genannten Erfahrungen in der Makrowelt haben ihre Resonanz in der Mikrowelt des Einzelnen. Krisenerfahrungen und Krisenbewusstsein treten deutlicher denn je zutage. Das Anwachsen von Suchterkrankungen, Depressionen und Suizidalität sind deutliche Indizien dafür im persönlichen Bereich. Die Seelsorge und die Seelsorgelehre sind davon insofern betroffen, als deutlicher wird, dass das, was schon immer galt, weil es schon immer unerklärbares Leiden gab, nun unausweichlich nahe rückt: die Krisenerfahrungen führen die Seelsorge an ihre Grenzen und die Seelsorger selbst ins Schweigen.5 Es ist uns heute nicht mehr möglich, eine Seelsorge der klugen Ratschläge und sicheren Antworten zu treiben; denn die große und die kleine Welt des Menschen ist nicht mehr „gottfarben“, sie lädt nicht mehr dazu ein, Glauben und Zuversicht zu gewinnen: „So wie die Welt wirklich beschaffen ist, legt sich der Glaube an den Teufel viel näher als der Glaube an Gott. Die Höllen der Weltkriege, die Höllen von Auschwitz, Hiroshima und Vietnam, aber auch die alltäglichen Erfahrungen, die einen Menschen zum andern sagen lassen: ‚Du machst mir das Leben zur Hölle‘, legen es oft nahe, sich die Welt im Ganzen als ‚Totenhaus‘, als Zuchthaus, Irrenhaus oder univers concentrationaire vorzustellen und nicht als gute Erde unter dem gütigen Himmel eines gerechten Gottes.“6 Für die Seelsorge mögen die Grundausrichtung dieser Welt und (Un-) Glaubenserfahrungen im 20. Jahrhundert unterschiedliche methodische Konsequenzen nahe legen. – Aber es wird nicht möglich sein, sie im Konzept und in der Praxis der Seelsorge unberücksichtigt zu lassen.7 Im Zeichen der Katastrophenerfahrungen unseres Jahrhunderts ist Seelsorge vielleicht nur noch möglich in einer „Solidarität der leeren Hände“8, wenn sie wirklich kräftigenden und aufbauenden Trost vermitteln will.
•Der dritte hier zu erwähnende Faktor hängt mit dem Vorangehenden in gewisser Weise zusammen, hat aber doch auch mit dem generellen Traditionsabbau in der Moderne zu tun: Es ist die Säkularität der modernen Gesellschaft. Christliche Seelsorge im 20. Jahrhundert muss sich immer wieder neu konstituieren angesichts eines fortschreitenden Prozesses religiöser Entfremdung und praktischer Entkirchlichung.9 Für die Seelsorge stellt sich heute die Frage nach Möglichkeiten eines Wirkens jenseits der traditionellen Grenzen von Glauben und Nichtglauben. Immer häufiger wird es zu seelsorglichen Begegnungen mit Menschen kommen, die innerlich und äußerlich von der Tradition des Glaubens und der Praxis kirchlich gebundener Religiosität weit entfernt sind: im Krankenhaus, in den Gefängnissen, bei der Telefonseelsorge, in den unterschiedlichen Beratungsstellen kirchlicher Trägerschaft – aber auch in der Gemeinde, sofern diese nicht zum geschlossenen religiösen Milieu geworden ist. Seelsorge zu denken und zu praktizieren mit Menschen, die nicht (mehr) glauben – aus welchem Grund auch immer – das gehört zu den besonderen poimenischen Herausforderungen im 20. Jahrhundert. Es ist vor allem eine hermeneutische Herausforderung – nämlich die Aufgabe, „religionslos“ (Bonhoeffer) von dem zu reden, „was unbedingt angeht“ (Tillich), anders gesagt: die Begriffe und Symbole des Glaubens so zu transformieren, dass auch die der christlichen Tradition entfremdeten Menschen sie verstehen und für sich annehmen können.
3.2Hauptströmungen der Seelsorgelehre im 20. Jahrhundert
Dass sich Praxis und Lehre der Seelsorge in einer deutlichen Korrespondenz zu den Veränderungen im Glaubens- und Weltverständnis entwickeln, gilt natürlich unvermindert auch für das 20. Jahrhundert. Alle unterschiedlichen Theologieansätze haben dabei auch spezifische Auswirkungen auf eine ihnen mehr oder weniger entsprechende Poimenik:
•die sich um Brücken zur modernen Kulturwelt bemühende Liberale Theologie,
•die ganz dem Primat des rettenden Wortes Gottes verpflichtete Dialektische Theologie,
•die auf Verstehen der biblischen Überlieferung ausgerichtete Hermeneutische Theologie,
•die von ganzheitlichem Denken geprägte Theologie der liturgischen Erneuerungsbewegung,
•der korrelative Ansatz in der Theologie Paul Tillichs,
•die Theologie eines neu erwachenden konfessionellen Bewusstseins,
•die auf fundamentale Eindeutigkeiten dringenden evangelikalen Theologieströmungen,
•die für die Praxis sozialer Gerechtigkeit engagierte sozialethische Theologie.
Für jede dieser „Schulen“ bzw. Positionen gibt es auch Entsprechungen in der Konzeptualisierung der Seelsorge. Die poimenische Landschaft im deutschen Protestantismus ist so bunt und plural wie Theologie und religiöse Praxis insgesamt. Und doch lassen sich für das 20. Jh. vorsichtig einige Hauptströmungen nachzeichnen – so variantenreich diese in sich auch immer sein mögen.
Alle Typisierungen sind Vereinfachungen. Das gilt nun auch für den Versuch, Hauptströmungen in der poimenischen Landschaft zu benennen. Es ist üblich geworden, drei Richtungen zu unterscheiden: die kerygmatische oder verkündigende, die beratende oder therapeutische und die evangelikale oder biblische Seelsorge. Auch wenn es immer wieder schwierig ist, einzelne Vertreter eines poimenischen Konzepts einer Richtung zuzuordnen, so haben die Unterscheidungen doch einen nicht zu unterschätzenden Orientierungswert. Dabei ist es wohl so, dass die Konzepte zur Zeit ihrer Entstehung eindeutiger konturiert waren, als sie es jetzt sind. Aber die theologischen Grundierungen bleiben meist erkennbar.
3.2.1Seelsorge als Verkündigung im Gespräch (kerygmatische Seelsorge)
Die Entstehung der kerygmatischen Seelsorgeauffassung, die sich uns vor allem mit den Namen von Eduard Thurneysen und Hans Asmussen verbindet, muss im engen Zusammenhang mit dem Aufbruch der Dialektischen Theologie verstanden werden. Ging es bei diesem theologischen Neuansatz nach dem Ersten Weltkrieg darum, eine offenbarungstheologische Antithese zu einer an die menschlich-natürlichen Gegebenheiten anknüpfenden Theologie (wie der des Kulturprotestantismus) zu behaupten, so musste sich das auch für die Handlungsfelder der Praktischen Theologie auswirken. Thurneysen hat seine poimenischen Grundgedanken in dem berühmten Aufsatz „Rechtfertigung und Seelsorge“ von 192810 in einer eindrucksvollen Skizze dargelegt. Er geht darin von dem Urdatum christlichen Glaubens aus, nämlich der Rechtfertigung als „Gerechtsprechung des Sünders durch die freie Gnade Gottes“ (73). Diese Rechtfertigung ist für Thurneysen „ihrem Wesen nach Wort“, und deshalb sei die Predigt die ihr angemessene Form der Vermittlung (73). Die Predigt vermittle, was von Gott her dem Menschen zu sagen ist. Auch in der Seelsorge könne es um nichts anderes gehen; denn: „nicht mein immer fragwürdiges Verhältnis zu Gott und zum Leben ist wichtig“, also nicht eigentlich die menschlich-biographische Problematik auf der Horizontalen, „sondern Gottes Verhalten zu mir, Gottes Anspruch an mich“ (75). Und so werde nun deutlich: „Seelsorge ist nicht Sorge um die Seele des Menschen, sondern um den Menschen als Seele“, und das bedeute wiederum: „der Mensch wird aufgrund der Rechtfertigung gesehen als der, den Gott anspricht in Christus“ (85). Daraus ergibt sich die Erkennungsformel der kerygmatischen Seelsorge: „Seelsorge ist Verkündigung des Wortes Gottes“ und als solche Ergänzung der Predigt, weil es in ihr um das „spezielle Ansprechen des Einzelnen“ (86) gehe, Das Seelsorgegespräch, das mit dieser Intention geführt wird, sei ganz bewusst zu unterscheiden von einem Gespräch, das wir führen können „mit dem Arzt, mit dem Psychologen, dem Psychoanalytiker, dem Juristen, selbst dann, wenn es um ganz die gleichen Dinge“ sich handele (87); denn hier sei letztendlich die Botschaft von der rettenden Gnade Gottes zu verkündigen.
Thurneysen hat diesen grundlegenden Ansatz in seinen zwei großen Seelsorgebüchern11 ausgeführt. In ihnen ist das Festhalten am ursprünglichen kerygmatischen Grundentwurf durchgehend erkennbar. Aber dieser Ansatz verliert doch an Schroffheit und Abstraktheit, je näher sich Thurneysen mit den Einzelfragen der Seelsorge selbst befasst. Was hier dann praktisch unter einem Seelsorgegespräch verstanden wird, ist ein echtes Sicheinlassen und Sicheinstellen des Seelsorgers auf sein Gegenüber. Hier werden die Probleme auch mit Hilfe psychologischer Gesichtspunkte aufgenommen. Irgendwann jedoch – und darin zeigt sich der kerygmatische Grundansatz – ist der Zeitpunkt für einen „Bruch“ im Gespräch gekommen, und es geschieht, „dass diese sich zunächst darbietenden Gesichtspunkte in bestimmter Weise überboten werden durch die übergreifende Betrachtung aller Dinge, wie sie vom Wort Gottes her in Kraft tritt.“12
Hans Asmussen, bewusst in der lutherischen Tradition zu Hause, betont gegenüber Thurneysen stärker auch den erzieherischen Aspekt von Seelsorge. Aber er unterstreicht doch zugleich, dass darin ein „dem Pastor fremdes Werk“ zu erfüllen sei, das eigentlich gar nicht „Seelsorge“, sondern „Seelenführung“13 zu nennen sei und mit der durch das „Gesetz“ gestellten Aufgabe zusammenhängt. Seelsorge als die Zuwendung des Evangelium, also die eigentliche Seelsorge, sei dagegen die „Verkündigung des Wortes Gottes an den Einzelnen“. Seelsorge ist für Asmussen wirklich Gespräch. Aber der Pfarrer führe es „als Träger des Amtes“ und er werde „die Führung auch nicht wieder aus der Hand geben.“14
Für dieses Konzept von Seelsorge ist also klar: Seelsorge ist Gespräch. Aber das eigentlich Heilende und Rettende im seelsorglichen Gespräch kommt nicht aus der Begegnung zweier Menschen in der Horizontalen. Dazu bedarf es der autoritativen Ausrichtung des Wortes von der Gnade Gottes gegenüber dem Sünder, und das bedeutet gesprächsmethodisch auch den zeitweisen Umstieg auf eine asymmetrische Prediger-Hörer-Relation.
Die Unterschiede innerhalb der kerygmatischen Seelsorgelehre liegen in der Verteilung der hinführenden und der verkündigenden Phasen des seelsorglichen Gesprächs. Dietrich Bonhoeffer stellt in seiner Finkenwalder Seelsorgelehre neben die „verkündigende“ Seelsorge die „diakonische“. Sie ist für ihn die „Seelsorge im engeren Sinne“, sie entspricht dem, was wir heute auch mit dem Begriff der „Beratung“ verbinden, und sie hat für Bonhoeffer neben der Verkündigung ihr „eigenständiges Recht“15.
Damit ist Bonhoeffer, wiewohl in einer gewissen Nähe zu diesem Ansatz, doch auch zugleich dessen erster Kritiker.16
Seit den sechziger Jahren hat sich die kerygmatische Seelsorgelehre dann besonders heftige Kritik gefallen lassen müssen. So hat Joachim Scharfenberg Thurneysens Bemerkung über die Seelsorge als ein „liturgisches Gespräch“17 im Sinne einer poimenischen „Modellvorstellung“ interpretiert und diese dann grundlegend kritisiert: „Der Seelsorger, der ein solches Gespräch führt, kann sich also niemals dem Duktus des wirklichen Gesprächs überlassen, sondern er muss immer im Auge behalten, wie er es in ein solches liturgisches Gespräch verwandeln kann.“ Seelsorge ziele also „gleichsam über die menschliche Not hinweg“ auf das „Gespräch mit Gott“ hin.18 So sehr sich diese Kritik auf Einzeläußerungen Thurneysens berufen kann, wird sie ihm doch im Ganzen kaum gerecht. Thurneysen hat selbst davor gewarnt, die seelsorgliche Situation zu einer Art missionarischem Überfall im Sinne von „geistlicher Anrempelung“19 zu missbrauchen.20 Er deutet damit freilich auch selbst an, wo die Probleme und Missverständnisse eines kerygmatischen Seelsorgeansatzes liegen könnten. Thurneysen will wirklich verstehen, was die Menschen bewegt.21 Aber wird sein geradliniger Theorieansatz nicht dazu führen, dass kommunikativ weniger begabte Seelsorger schnell bei einer unfruchtbaren, die Ratsuchenden belehrenden Seelsorgepraxis landen – in dem Bewusstsein, damit den göttlichen Auftrag ausgeführt zu haben?
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Kernpunkte der kerygmatischen Seelsorgetheorie: Ausgangspunkt ist der Primat des Wortes Gottes, dessen Verkündigung dem sündhaften Menschen die göttliche Gnade um Christi willen zuspricht. Seelsorge ist in diesem Sinne sowohl Zuarbeit für die Verkündigung wie auch Ausführung derselben in der besonderen Situation des Gesprächs. Sie hat den Menschen in seiner konkreten Vorfindlichkeit aufzusuchen und in seiner menschlichen Not zu verstehen, sie hat ihn aber vor allem als Sünder und auf die Gnade Angewiesenen anzusprechen. Seelsorge muss deshalb auch phänomenologisch von anderen Gesprächsformen unterscheidbar bleiben – nicht zuletzt durch Bibelwort, Beichte und Gebet.
Der kerygmatische Ansatz wird in seiner ursprünglichen Klarheit und Stringenz sicher literarisch nur noch selten vertreten. Es gibt aber durchaus Teilrezeptionen verbunden mit einer eher vermittelnden, keineswegs dogmatisch einengenden Position. Zu nennen wären hier vor allem Helmut Tacke22, aber auch Christian Möller23 und Peter Bukowski24. Das Konzept einer Seelsorge, die in großer Nähe zur Verkündigungsaufgabe gesehen wird, ist in der evangelischen Seelsorgedebatte zumindest in Deutschland durchaus präsent. Dafür spricht auch, dass ein großer Teil der Pfarrerinnen und Pfarrer aus der älteren Generation durch diesen in der Nachkriegstheologie dominierenden Ansatz geprägt worden sind.
3.2.2Seelsorge als Beratung (Seelsorgebewegung)
Neben die vom Verkündigungsauftrag geprägte Seelsorgelehre trat Ende der sechziger Jahre ein ganz anderes und neues Konzept von Seelsorge. Es wird oft als „beratende“ oder auch „therapeutische“ Seelsorge bezeichnet. Ihr relativ spontanes Erscheinen, ihre überraschend schnelle Ausbreitung und ihre die pastorale Arbeit im Ganzen umfassende Ausrichtung haben ihr wohl die Kennzeichnung als „Seelsorgebewegung“25 eingebracht. Hier wurde nun das seelsorgliche Handeln nicht mehr primär als ein autoritatives Verkündigungsgeschehen, sondern als ein partnerschaftliches Beziehungsgeschehen verstanden. Anstelle der bisherigen Theologiebestimmtheit tritt nun die Bedeutung der anthropologischen Dimension ins Blickfeld. Seelsorge wird in der Tat mehr als „Beratung“26 mit dem Ziel einer Lebens- und Glaubenshilfe verstanden, wobei man den Begriff „Beratung“ hier genau so wenig eng interpretieren darf wie den der „Verkündigung“ in der kerygmatischen Seelsorgeauffassung. Der Wandel der poimenischen Landschaft hatte mehrere Ursachen.
•Einmal war, wie schon angedeutet, der Boden für einen Neuansatz durch eine kleine Anzahl von Praktischen Theologen bereitet, die die Erkenntnisse und Erfahrungen der neueren Psychologie und der Psychoanalyse Freud‘scher oder Jung‘scher Prägung für die Seelsorgelehre so oder so zu rezipieren versuchten. Oskar Pfister27 und Otto Haendler, Adolf Köberle, Walter Uhsadel und Adolf Allwohn waren schon genannt. Ebenso Alfred Dedo Müller, der wohl als einer der Ersten in Deutschland eine empirisch ausgerichtete Seelsorgeausbildung mit fachpsychologischer Begleitung praktizierte?28 Anfang der fünfziger Jahre hatte sich die Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger“ konstituiert, die bei ihren Tagungen viele für das Gespräch zwischen Medizin und Seelsorge bedeutsame Anregungen zu geben vermochte.29 Es war nun auch möglich geworden, den vernachlässigten Dialog mit der Psychoanalyse zu intensivieren. Wichtig war Joachim Scharfenbergs Auseinandersetzung mit der Religionskritik Sigmund Freuds.30 Durch sie war der Weg frei geworden zu einer angstfreien Annäherung der Theologie an die Tiefenpsychologie. In gewisser Weise markiert Scharfenbergs Buch den Beginn der Seelsorgebewegung in Deutschland.31
•Diese hat nun selbst ihre Hauptwurzel in der amerikanischen Seelsorgebewegung. Seit den zwanziger Jahren gab es in den Kirchen von Nordamerika einen Aufbruch zu einer neuen Seelsorgepraxis, verbunden mit einer neuen Seelsorgedidaktik. Dem Pfarrer Anton Boisen, einem der „Väter“ der Seelsorgebewegung, war nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrungen als Patient einer Nervenklinik das Ungenügen der traditionellen seelsorglichen Praxis bewusst geworden. An die Stelle einer Seelsorge, die sich im Wesentlichen auf tradierte Texte berief, wollte er eine Praxis setzen, die in den Pastoranden selbst „lebendige menschliche Dokumente“ (living human documents) sah, die genau wahrzunehmen und von denen zu lernen sei. Dietrich Stollberg nennt drei „Hauptaspekte“ der amerikanischen Seelsorgebewegung: (1) Pastoralpsychologie – verstanden als „Psychologie im Dienst theologischer, anthropologischkommunikativer und selbstkritischer Arbeit“32; (2) Pastoral Counseling – verstanden als „psychotherapeutisch orientierte Lebensberatung im Aktionsraum und Dienste der Kirche“33. (3) Clinical Pastoral Training (CPT) (heute: Clinical Pastoral Education – CPE) als Grundform praxisnaher Seelsorgeausbildung. Dabei spielt besonders die Ausbildung im Krankenhaus eine wichtige Rolle in der Annahme, dass hier pastorale und psychologische Erfahrungen gesammelt werden können, die auch für die Seelsorge in der parochialen Praxis von Bedeutung sind. Seelsorger sollten „an Menschen für Menschen ausgebildet werden und die Relevanz von Religion in der Wirklichkeit selbst erfahren“34. Die amerikanische Seelsorgebewegung ist zuerst in den Niederlanden rezipiert worden. Hejie Faber, Ebel van der Schoot und Wybe Zijlstra haben das CPT bzw. CPB auf ihre spezifische Weise in den europäischen Kontext übertragen.35 Durch die Übersetzung ihrer Werke und durch eigene Ausbildungstätigkeit haben sie einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der pastoralpsychologischen Arbeit in Deutschland ausgeübt.
•Ein dritter Faktor für die Ausprägung der deutschen Seelsorgebewegung dürfte die religiöse, kulturelle und politische Umbruchphase der späten sechziger Jahre sein. An den Universitäten konnte man geradezu von einer Krise des positivistischen Wissenschaftsbegriffs und der einseitig theoriebezogenen Ausbildung sprechen. Die Bedeutung der „Praxis“ für die Theoriebildung36 selbst und für das Lernen im Besonderen trat immer deutlicher ins Bewusstsein. Theologisch ist hier die Kirchenreformdiskussion mit dem Streben nach realitätsbezogener missionarischer und sozialethischer Arbeit zu erwähnen?37
•Als ein weiterer Faktor ist hier auch noch der wachsende Einfluss der Theologie Paul Tillichs in Deutschland zu erwähnen. Tillichs korrelativer Denkansatz sowie seine eigene theologische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und Psychotherapie38 boten Ansatzpunkte für eine positive Rezeption humanwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Seelsorge. Sein Symbol- und Wirklichkeitsverständnis führte in den interdisziplinären Dialog und ließ diesen nicht als reinen Anpassungsvorgang erscheinen.
Was dann als „die“ Seelsorgebewegung bezeichnet wird, umfasst in Wirklichkeit eine ganze Fülle sehr unterschiedlicher Impulse, Transfairs und Aktivitäten im Dienste einer neuen Seelsorgetheorie und -praxis. Auf der einen Seite stehen da nach Scharfenbergs bahnbrechender Freud-Studie die neuen Versuche, psychoanalytisches Denken sowie entsprechende therapeutische Verfahren für die Seelsorge fruchtbar zu machen und tiefenpsychologisch ausgebildete Seelsorgerinnen und Seelsorger vor allem für spezielle Seelsorgedienste39 zu gewinnen. Auf der anderen Seite ist da das Engagement für eine „Klinische Seelsorgeausbildung“ (KSA) zu nennen, nachdem vor allem Dietrich Stollberg, Richard Riess und Hans-Christoph Piper40 das deutsche Publikum mit der amerikanischen bzw. mit der niederländischen Seelsorgebewegung und speziell dem CPE vertraut gemacht hatten. Schon 1969 konnte der erste KSA-Kurs in Herborn unter Supervision von Wybe Zijlstra abgehalten werden.41 Es folgte 1970 die Gründung des ersten Zentrums für klinische Seelsorgeausbildung in Hannover, wenig später die ähnlicher Institute in Frankfurt, Bethel und Dortmund. Vor allem wegen der sehr gezielten Ausrichtung auf Praxis und Methoden von Seelsorgeausbildung war es nötig, sich zusammenzuschließen und den neuen Formen pastoralpsychologischen Lernens ein solides theoretisches Fundament und kompatible Standards zu geben. So kam es 1972 zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) mit den drei „Sektionen“: „Tiefenpsychologie“ (T), „Klinische Seelsorgeausbildung“ (KSA) und „Gruppendynamik“.42 Diese – übrigens von Anfang an ökumenisch ausgerichtete – Institutionalisierung der „Seelsorgebewegung“ machte es nun möglich, an die Landeskirchen mit humanwissenschaftlich und theologisch fundierten Ausbildungsangeboten heranzutreten und den sich schnell einstellenden „Wildwuchs“-Ängsten zu begegnen.43
Fragt man nach dem charakteristischen Gemeinsamen aller im Einzelnen doch recht unterschiedlichen Richtungen innerhalb der „beratenden“ Seelsorge, so können folgende Punkte genannt werden:
1.Die Humanwissenschaften, insbesondere die Psychologie und Psychotherapie, haben für den Neuansatz der Seelsorgelehre konstitutive Bedeutung. Die Pastoralpsychologie wird zu einem fundamentalen Aspekt der Poimenik. Dabei geht es nicht nur um die psychologischen und anthropologischen Fachkenntnisse, die für die Wahrnehmung und Interpretation seelischer Konfliktsituationen Einzelner unverzichtbar sind, sondern auch um die Indienstnahme psychologischer Methoden und therapeutischer Techniken für die Praxis von Seelsorge.
2.Mit dem pastoralpsychologischen Ansatz der Seelsorgelehre ist ein ganzheitliches Menschenverständnis verbunden. Seelsorge hat es nicht nur mit einem psychischen oder spirituellen Teilaspekt des Menschen zu tun. Vielmehr soll versucht werden, ihn in seiner „Ganzheit“ wahrzunehmen, also sowohl die körperliche und soziale wie die seelische und religiöse Seite seiner Existenz zu beachten.
3.Die Seelsorgebewegung ist auch und vielleicht sogar primär eine Seelsorgeausbildungsbewegung. Grundlegend ist das Prinzip des „Erfahrungslernens“. „Learning by doing“ – heißt der aus der amerikanischen Seelsorgebewegung entlehnte didaktische Fundamentalsatz. Dahinter steht eine pragmatisch orientierte Didaktik, für die Lernen nicht in der Anwendung von Theorien besteht, sondern in der lebendigen kritischen Auseinandersetzung mit konkreten sozialen und persönlichen Erfahrungen.
4.Ein Konzept, das Seelsorge primär als ein Kommunikations- und Beziehungsgeschehen versteht, kann sich nicht einseitig fallorientiert verwirklichen. In der Ausbildung und Supervision kommt notwendigerweise der Person des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin besondere Bedeutung zu. Seelsorgearbeit ist auf die Dauer nicht möglich ohne intensive Selbstwahrnehmung und kritische, d.h. auch methodisch kontrollierte Selbstauseinandersetzung der Seelsorgerin und des Seelsorgers. An dieser Stelle wird freilich auch deutlich, dass es bei der Seelsorgebewegung nicht nur um einen Impuls für ein abgegrenztes pastorales Handlungsfeld geht, sondern um einen Neuansatz für die kirchliche Arbeit insgesamt. Denn was für die Seelsorge gilt – die Bedeutung der Person des Handelnden –‚ das trifft nicht weniger auf die Verkündigung44, auf neue Formen „kommunikativer Gemeindepraxis“45 bis hin zum Gottesdienst46 zu.
5.Die Grundfunktion seelsorglichen Handelns kann, wenn auch nicht ganz unmissverständlich, mit dem Begriff der „Beratung“ dargestellt werden. Das Ziel ist dabei stets die Förderung der Person des Rat Suchenden zur selbständigen Lösung seiner Probleme. Die Beratung zielt also auf „Hilfe zur Selbsthilfe“, soweit das in jedem konkreten Einzelfall eben möglich ist. Die Beraterinnen und Berater verstehen sich als Helfer auf Zeit, die sich aus einer solidarischen Position heraus und mit dem Rat Suchenden zusammen um einen Weg bemühen. Die Seelsorgebewegung markiert einen Paradigmenwechsel im Blick auf die Definition der seelsorglichen Autorität.
6.Zur beratenden Seelsorge gehört ein Verständnis von Theologie, das diese in die Vollzugsformen des seelsorglichen Handelns selbst integriert. Natürlich ist das Spektrum theologischer Optionen unter Pastoralpsychologen ziemlich breit. Aber es gibt doch einen gewissen Akzent in der Richtung einer „inkarnatorischen“ Theologie, die voraussetzt, dass Gott „in, mit und unter“ menschlicher Begegnungen erfahren werden kann, ohne dass er darum lediglich in der Horizontalen identifiziert werden dürfte.47 Die Erfahrbarkeit Gottes in den Lebenskonflikten der Menschen und in ihren persönlichen Leidenssituationen – das ist sozusagen die leitende Hoffnung, unter der die „beratende Seelsorge“ ihre Arbeit versieht.