Kitabı oku: «Truth & Betrayal», sayfa 5

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Kapitel 8

Ich interpretiere das nicht falsch, oder? Ich meine, man muss sie ja nur anschauen!

Was für eine verfickte Ironie.

Jake schloss den Ordner und musterte den Bildschirm. Er war sich nicht sicher, warum er weitere Beweise für das brauchte, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, aber er wusste, dass er sich nicht allein mit den Fotos zufriedengeben würde.

Dann sah er es.

Tagebuch.

Halle-fucking-luja.

Jake war es scheißegal, dass das Calebs Tagebuch war, oder privat, oder was auch immer. Er musste es wissen. Er klickte auf den Ordner und ein Word-Dokument erschien. Jake nahm sich einen Moment Zeit, um durchzuatmen, bevor er es öffnete. Ein Blick auf das Datum zeigte ihm, dass Caleb in der zwölften Klasse zu schreiben begonnen hatte, ungefähr fünf Monate, nachdem er den Laptop bekommen hatte.

Das Tagebuch schien nicht sonderlich umfangreich zu sein. Er scrollte durch die Seiten und bemerkte, dass die Einträge sporadisch und nicht sonderlich lang waren. Das überraschte ihn nicht. Caleb war nie jemand gewesen, der viel geschrieben hatte. Er ging zum Anfang des Dokuments zurück und begann zu lesen.

10. Mai 2008

Ich hätte nie gedacht, dass ich mal ein Tagebuch führen würde. Das ist was für Mädchen, oder? So ein kleines Büchlein mit einem Schloss, das sie unter ihrem Kopfkissen vor ihrem bescheuerten Bruder oder, noch schlimmer, ihren Eltern verstecken.

Ich schätze, ich mache genau das, stimmt‘s? Nur, dass mein Schloss ein Passwort ist und Murmelchen der Einzige, vor dem ich es verstecken muss. Denn Mama und Daddy und Technik? Ganz genau. Ich habe Jahre gebraucht, ihn davon zu überzeugen, eine Webseite für seine Firma zu erstellen.

Und warum fange ich jetzt mit einem Tagebuch an?

Weil ich mich erinnern möchte, wie ich mich jetzt gerade fühle. In der Kirche hat der Prediger mal darüber gesprochen, dass Paulus irgendwo hinging, stürzte und dieses verdammt helle Licht auf ihn herabstrahlte. Und dass er dann wusste, dass er aufhören musste, die Jünger Christi zu verfolgen und einer von ihnen wurde.

Tja, für mich gab es kein strahlend helles Licht. Und es gab nicht den einen Moment, es waren eher mehrere, am Anfang sogar nur ein Gefühl. Und ich muss zugeben, als ich das Gefühl zum ersten Mal hatte?

Ich bin davor geflüchtet. Nein. Ich doch nicht. Auf keinen Fall.

Aber es wollte nicht verschwinden. Kam immer wieder, und jedes Mal war es stärker.

Fuck, es machte mir Angst. Ich wollte nicht so sein. Ich hab das Gefühl versteckt, weil ich es musste. Kann es niemanden sehen lassen. Aber ich weiß jetzt, dass es nicht weggeht. Das ist, wer ich bin.

Ich werde es niemandem sagen. Auf gar keinen Fall. Jedenfalls nicht hier. Später wird es anders sein, wenn ich in Atlanta aufs College gehe. Wenn mich niemand sieht, der mich kennt.

Herrgott, ich will die Worte schreiben, aber das fühlt sich so… endgültig an.

Aber ich muss es tun, stimmt’s?

Dann mal los.

Ich mag keine Mädchen. Ich mag Jungs.

Allein diese letzte Zeile zu lesen, ist überwältigend. Das erste Mal, dass ich es zugegeben habe. Aber es fühlt sich gut an. Richtig. So als könnte ich wieder atmen.

Hast du das gehört, Welt? Ist es dir entgangen?

Caleb Greenwood ist schwul. Und NIEMAND in dieser Stadt wird es je erfahren. Und das gilt erst recht für Murmelchen. Gott sei Dank ist er zu jung, um zu wissen, was das bedeutet.

Jake starrte auf den Bildschirm. Sein Herz raste. Großer Gott… Kälte traf ihn in seinem Innersten und eisige Ranken breiteten sich in seinem Körper aus.

Das hätte er geschrieben haben können. Wort für verdammtes Wort.

Erinnerungen brachen über ihn herein. Wie er sich an diesem Tag vor drei Jahren gefühlt hatte, an diesem unfassbar bedeutsamen Tag, als er den Blick durch den überfüllten Lesesaal hatte schweifen lassen und Dylan Torrance dabei erwischt hatte, wie er ihn anstarrte. Der Gedanke war Jake so schnell durch den Kopf geschossen, dass er ihm fast entgangen wäre.

Gott, ich möchte diesen Mund küssen.

Sein ganzer Körper hatte gekribbelt und er hatte sich gefühlt, als würde er keine Luft mehr bekommen. Er hatte den Blick gesenkt, war knallrot geworden und hatte gebetet, dass niemand seine Reaktion bemerkt hatte. Er hatte nicht einmal gewagt, den Kopf zu heben und es herauszufinden. Er wollte es nicht wissen.

In den darauffolgenden Wochen und Monaten hatte Jake mit sich gerungen. Diese eine Zeile, die Caleb geschrieben hatte, gab exakt seine eigene Reaktion wieder. Ich bin davor geflüchtet. Er hatte sich danach gesehnt, Caleb anzurufen, darüber zu reden, aber eine Sache hatte ihn davon abgehalten – das Schweigen, von dem er befürchtet hatte, dass es am anderen Ende der Leitung eintreten würde. Es gab sonst niemanden, dem er vertrauen konnte, dass er nicht mit Abscheu und Ekel regieren würde. Also ignorierte er es. Verdrängte es, hielt an der unwahrscheinlichen Hoffnung fest, dass es ein Moment geistiger Verwirrung gewesen war.

Fehlanzeige.

Calebs Worte spiegelten auf unheimliche Weise Jakes Bestürzung und seine völlig durcheinandergeratenen Emotionen wider, aber das machte ihm diese ganze beschissene Situation nur bewusster.

Er verstand, dass Caleb damals kein Wort darüber sagen wollte, aber später? Herrgott, wenn er mit verfluchten siebzehn Jahren wusste, dass er schwul war, warum zum Teufel hat er all die Jahre nichts gesagt? Hat er mir verdammt noch mal gar nicht vertraut? Jake wandte sich wieder dem Tagebuch zu, er wollte unbedingt mehr in Erfahrung bringen.

Juni

Geschafft! Die Highschoolzeit ist VORBEI.

Die meisten von uns sind gestern Abend zu McDonald's gegangen und danach haben wir im alten Steinbruch in der Nähe von West Central abgehangen. Trey und Corey hatten Bier dabei und wir haben uns total die Kante gegeben. Ich hab bei Corey geschlafen – seine Eltern haben ihm das Zimmer über der Garage überlassen und ich hab eine Matratze auf den Boden gelegt. Besser, als nach Hause zu gehen.

Viele Kids aus der Schule bei McDonald's. Da ist dieser eine Junge aus der Zehnten, hab ihn oft auf den Fluren gesehen. Er hat diese Art von Gesicht, das man nicht vergisst. Hätte nie gedacht, dass ich einen Kerl für schön halten würde, aber Gott, auf ihn trifft das zu.

Werd nichts in der Richtung unternehmen. Man scheißt ja nicht da, wo man isst, stimmt’s? Ich warte bis Atlanta.

Ich hab mir letzte Woche online Infos über Atlanta geholt. OMG. Es gibt Viertel, die sind total schwul. Geschäfte, Bars… Das wird der HAMMER.

Jake starrte fassungslos auf die Worte. Die Ähnlichkeiten waren unheimlich. Hatte er nicht angefangen, Gesichter von Jungs zu bemerken, die bis zu jenem Jahr lediglich genau das gewesen waren – Gesichter? Nur, dass er sie plötzlich mit anderen Augen gesehen hatte. Und ja, die Augen waren das, worauf Jake am meisten achtete. Und als er erst mal diese Richtung eingeschlagen hatte, fuck, da hatten sich die Schleusentore geöffnet…

Dieser letzte Gedanke brachte ihn wieder zurück zum Tagebuch. Er hatte mitgekriegt, dass Caleb in diesen Monaten, bevor er zum College ging, aufgeregt gewesen war und es für eine Reaktion darauf gehalten, LaFollette zu verlassen, neue Freunde zu finden und für Vorfreude auf ein neues Abenteuer. Jetzt allerdings sah er es als das, was es gewesen war. Ein junger Mann, der sich noch nicht geoutet hatte und sehnsüchtig darauf wartete, die Beschränkungen einer kleinen Stadt in Tennessee hinter sich zu lassen und so zu leben, wie er wirklich war. Die Chance, endlich er selbst zu sein.

Jake hatte nie gedacht, dass Caleb und er sich so ähnlich wären. Warum auch? Er war elf gewesen, als Caleb gegangen war, und in den Jahren danach hatten sie sich kaum gesehen. Hatten zu wenig Zeit miteinander verbracht, um die Ähnlichkeiten zu bemerken. Aber Calebs ureigenste Gedanken und Gefühle schwarz auf weiß auf dem Bildschirm zu sehen, machte Jake bewusst, wie viel er tatsächlich verloren hatte. Wie ähnlich Caleb und er einander tatsächlich gewesen waren.

Er warf einen Blick auf den Bildschirm. Der Juni-Eintrag ging weiter und ihm fiel etwas auf, was seinen Magen in Aufruhr versetzte. Etwas über seinen Daddy.

Hab im Fernsehen Bilder von einer Pride-Parade in New York City gesehen. Daddy hat einen halblauten Kommentar abgegeben, bei dem sich mir der Magen umdrehte, irgendwas über schlappschwänzige Schwuchteln, und dann den Sender gewechselt. Schlappschwänzig? Ergibt das überhaupt Sinn? Egal. Es ist der Gedanke, der zählt, stimmt’s? Mama hat ihn gehört. Sie sah aus, als hätte sie an einer Zitrone gelutscht. Gott sei dank war Jake im Bett. Dem Kurzen entgeht nichts. Und er würde etwas merken. Erst letzte Woche hat er Mama gefragt, ob sie jemanden kennt, der schwul ist. Wo kriegt er so was mit? In der Schule? Weiß Gott. Eins ist jedenfalls sicher. Er wird nichts von seinem großen Bruder erfahren.

Calebs Beschreibung der Reaktion seines Daddys spiegelte nur wider, was Jake bereits selbst gesehen hatte. War nicht das der Grund, warum er die letzten beiden Jahre geschwiegen hatte? Das Bruchstück eines Gesprächs zwischen seinem Daddy und Mrs. Talbot von nebenan hatte seine Befürchtungen verstärkt. Sie war eines Wochenendes mit einer Schachtel Eier von ihren Hühnern vor der Haustür gestanden und Daddy hatte ihr geöffnet. Jake war im Wohnzimmer gewesen und ein Teil ihrer Unterhaltung hatte ihn die Ohren spitzen lassen. Irgendeine wohlmeinende Freundin hatte Mrs. Talbot angerufen und ihr gesagt, dass sie gesehen hatte, wie Mrs. Talbots Großneffe in Knoxville eine Schwulenbar betrat. Mrs. Talbot hatte darauf erwidert, dass es ihr lieber wäre, er wäre schwul, als dass er jemanden heiratete, der nicht weiß war.

Daddy hatte geschnaubt und eine Bemerkung darüber gemacht, dass vor seinem Haus keine Regenbogenfahnen wehen würden, vielen Dank auch.

Jake war das Herz schwer geworden. Erst als er später an diesem Abend in seinem Bett lag, war die ganze Bedeutung von Mrs. Talbots Worten bei ihm angekommen. Es gibt in Knoxville eine Schwulenbar? Knoxville war nur vierzig Meilen entfernt. Bei der Vorstellung, so eine Bar zu besuchen, hämmerte sein Herz und seine Handflächen wurden feucht. Dann tat er den Gedanken ab. Er würde nie den Mut aufbringen, allein dort hinzugehen.

Mühsam wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Tagebuch zu. Er wollte es lange bevor seine Eltern nach Hause kamen zu Ende gelesen haben. Es war ein sehr sonderbares Gefühl, seine eigenen Gedanken und Gefühle in Calebs Worten reflektiert zu sehen.

Hab ein Zimmer im Studentenwohnheim gefunden. Werde mit vier anderen Jungs zusammenwohnen. Um ehrlich zu sein, kann ich es kaum erwarten, aus LaFollette rauszukommen. In letzter Zeit fühlt es sich an, als könnte ich nicht ich selbst sein. Ich achte ständig darauf, was ich sage oder tue, selbst wenn ich mit Murmelchen zusammen bin, und das tut weh. Wenn ich mit meinen Freunden abhänge, kommt es mir die ganze Zeit vor, als würde ich mich verstecken. Gestern Abend war einfach… beschissen. Wir waren alle bei Burger King, draußen am Jacksboro Pike, und Vaughan tauchte mit ein paar Mädchen auf. Jede Menge Make-up und zu viel Parfüm, daran hat sich nichts geändert. Tja, eine von ihnen – ich glaube, sie hieß Becca – fing an, mich anzumachen. Ich meine, sie hing an mir wie eine Schlingpflanze. Ich fühlte mich wie in der Falle. Es war offensichtlich, was sie wollte, und dann sagte Corey, seine Eltern seien nicht da und ob ich sein Zimmer haben wollte.

Alle grinsten, als würden sie absolut erwarten, dass ich sie irgendwohin mitnehme und sie ficke. Klar, als hätte ich schon jemals ein Mädchen gefickt. Aber das mussten sie nicht wissen. Ich habe es durch die Highschool geschafft, indem ich gelogen hatte, dass sich die Balken bogen. Hatte meinen Freunden zugehört, die scheinbar bei jeder sich bietenden Gelegenheit ficken. Prima. Wahrscheinlich hatten sie Eltern, die anders waren als meine. Gott, ich kann in meinem Kopf immer noch Mamas Stimme hören, wie sie sich über Keuschheit auslässt. Darüber, sich für die Ehe aufzusparen. Mädchen zu respektieren.

Das wirklich Seltsame daran? Ich hab ihr das alles abgekauft. Ich hab es geglaubt. Es gelebt.

Außerdem gab es absolut keine Gelegenheit.

Ach du großer Gott. Caleb hatte nie Sex gehabt?

Jake schüttelte den Kopf. Nee. Das glaub ich ihm nicht. Okay, soweit er sich erinnern konnte, waren da nicht viele Mädchen gewesen, aber dass Caleb mit keiner von ihnen einen Schritt weiter gegangen war? Doch der Teil über Mama und Das Gespräch… das klang so echt. Und dann überdachte er das Ganze noch einmal. Caleb war siebzehn gewesen, als er diese Worte geschrieben hatte. Es war nicht so schwer zu glauben, dass er bis zu diesem Zeitpunkt enthaltsam gewesen war. Denn die Sache von wegen absolut keine Gelegenheit? Ja, das kam Jake bekannt vor, ganz zu schweigen von der Angst, seine Mama zu enttäuschen.

Und was ist mit mir? Wie kann ich seinen Worten nicht glauben, wenn es mir genauso geht, und ich bin neunzehn, um Himmels willen! All die Male, wenn Pete, Dan oder Mike damit geprahlt hatten, wen sie fickten und wie heiß sie war… Hatte er nicht auch das Blaue vom Himmel heruntergelogen? Er hatte geheimnisvoll getan, als könnte er ihren Namen nicht verraten, und sie hatten darauf mit Gelächter und Zwinkern reagiert und ihm gegen den Arm geboxt. Und die Stelle darüber, sich die ganze Zeit zu verstecken… Herrgott.

Ein bisschen weiter unten auf der Seite entdeckte Jake seinen Spitznamen.

Ich zähle die Tage bis zum College. Es kann nicht schnell genug so weit sein. Bis dahin werde ich mich beschäftigt halten. Murmelchen wünscht sich ein Baumhaus hinter dem Haus, also werde ich Daddy helfen, eines zu bauen. Das ist etwas, das ich vermissen werde, wenn ich gehe – Zeit mit dem Knirps zu verbringen. Manchmal sehe ich ihn mit Daddy im Holzschuppen. Total niedlich. Daddy hat ihm zu Weihnachten einmal Spielzeugwerkzeug gekauft und es war urkomisch zuzuschauen, wie er Daddy imitierte und so tat, als würde er Holz sägen. Ich schätze, es liegt ihm im Blut.

Tränen stiegen Jake in die Augen und er wischte sie weg. Gott, ich erinnere mich an diesen Sommer. Eine Woge der Trauer wusch über ihn hinweg, so intensiv, dass sein Herz schmerzte. Lange, heiße, sonnige Tage. Caleb, der mit ihm zum Bach hinunterging, und wie er quietschte, wenn Caleb ihm Wasser über den Rücken goss. Caleb, der sich mit ihm ins Baumhaus quetschte und zuhörte, wenn Jake ihm aus einem seiner Bücher vorlas. Gefühlt tausend Erinnerungen, von denen jede einen scharfen Schmerz auslöste, bis er die Tränen, die ihm über die Wangen liefen, nicht mehr zurückhalten konnte. Ein Blick auf den folgenden Eintrag machte es nur noch schlimmer.

September.

Ich kann nicht glauben, dass ich endlich hier bin!

Daddy hat mich heute Morgen total überrascht. Ich stand im Morgengrauen auf, um all meine Sachen in seinen Pick-up zu laden – und in unserer Einfahrt stand ein Auto, ein Chevy. Natürlich ein gebrauchter und ich will nicht darüber nachdenken, wie viele Meilen er schon auf dem Buckel hat, aber er gehört mir. Ein Geschenk von Mama und Daddy. Ich hätte fast geheult.

Hab Jake fest umarmt, bevor ich abgefahren bin. Ich hab versprochen, ihm Briefe zu schreiben, aber ich weiß, das wird nicht passieren. Wie oft hab ich denn hier was geschrieben? Ich hab’s nicht so mit dem Schreiben. Aber ich werd ihn anrufen. Er war so mitgenommen, als ich gefahren bin. Werde meinen kleinen Bruder vermissen.

Jake konnte nicht mehr ertragen. Mit Tränen in den Augen scrollte er durch das Dokument, las hier und dort ein paar Sätze, dankbar für die Einträge über banale Dinge wie Vorlesungen, Partys und Alltagskram. Die Einträge wurden immer weitschweifiger und Jake überflog das meiste davon. Ich kann das auch ein anderes Mal noch lesen. Momentan war er zu aufgeregt, um den Dingen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienten. Er suchte nach Antworten. Es gab Hinweise auf Schwulenbars und Clubs in Atlanta und Beweise dafür, dass Caleb seine neu gefundene Freiheit liebte. Es gab sogar eine winzige Andeutung, dass er Sex gehabt hatte, aber wie es Calebs Art war, beschränkte sich das auf den Namen eines Mannes, gefolgt von mehreren Ausrufezeichen und Smileys.

Jake war das nicht unrecht. Das Letzte, was er lesen wollte, war ein ausführlicher Bericht darüber, wie sein Bruder gefickt hatte. Er war absolut in der Lage, zwischen den Zeilen zu lesen, und außerdem gab es einige Dinge, die er wirklich nicht wissen musste.

Ungefähr in der Mitte des Tagebuchs wurde Liams Name zum ersten Mal erwähnt, eine beiläufige Bemerkung darüber, dass er ihn auf einer Party getroffen hatte. Caleb bezeichnete Liam als stur, was Jake zum Lachen brachte. Ein Esel schimpft den anderen Langohr. Erst in Calebs drittem Studienjahr tauchte Liams Name wieder auf, aber diesmal war es offensichtlich, dass sie ein paarmal miteinander ausgegangen waren. Jake ließ sich mehr Zeit und las aufmerksamer. Caleb gab nicht viel preis, aber danach zu urteilen, dass er Liam immer öfter erwähnte, wurde es ernster zwischen ihnen.

Und dann stach eine Zeile zwischen all den anderen heraus.

Es war ein Eintrag kurz vor dem Ende seines dritten Studienjahres. Es war nur eine Zeile, aber so beeindruckend, dass Jake nicht darüber hinweglesen konnte.

26. Juni 2011

Ich glaube, ich liebe ihn.

Jake sackte gegen die Kissen. Dann ist es wahr.

Er schloss erschöpft die Augen. Caleb, du hättest es mir sagen können. Er könnte sich selbst dafür in den Hintern treten, dass er nicht früher auf ihn zugegangen war, sich nicht mehr darum bemüht hatte, mit Caleb Kontakt aufzunehmen. Dass er die Situation einfach akzeptiert hatte, anstatt etwas zu unternehmen. Die ganze Wut, die er mühsam in den Griff bekommen hatte, kochte wieder hoch, als er schlussfolgerte, dass er hier nicht wirklich der Schuldige war.

Caleb hatte kein Wort gesagt.

Kein. Verficktes. Wort.

Nicht nur das, er war weggeblieben. Hatte Jake im Stich gelassen, als er seinen großen Bruder am meisten gebraucht hatte.

Wie konnte er das verfickt noch mal TUN?

Eine Welle heißer Wut spülte Erinnerungen an die Oberfläche. Die Zeiten, wenn Caleb mal nach Hause gekommen war – nicht, dass er lange geblieben wäre, nur ein paar Tage –, hatten immer auf die gleiche Weise geendet. Damit, dass Caleb seine Tasche ins Auto warf und sich dann mit ausgebreiteten Armen zu Jake umdrehte. Ihn so fest umarmte, dass er fast keine Luft mehr bekam, und dann diese Worte sagte. Immer die gleichen Worte, bei jedem Besuch.

»Wenn du mich je brauchst, ruf einfach an, okay? Ich bin immer für dich da.«

Jake knallte den Deckel des Laptops zu und warf ihn auf die Bettdecke. »Aber das warst du nicht, oder? Du warst nicht für mich da, und fuck, ich habe dich gebraucht. Warum, Caleb? Warum bist du weggeblieben?« Seine Stimme hallte von den Wänden wider.

Das knirschende Geräusch von Reifen auf Schotter hinderte ihn daran, weitere Fragen in das Universum zu schicken. Mama und Daddy waren wieder zu Hause. Jake schob den Laptop unter sein Kopfkissen, ohne sich die Mühe zu machen, ihn herunterzufahren. Erst als er sich zu beruhigen versuchte, wurde ihm klar, dass er das Ladekabel in Atlanta gelassen hatte.

Verdammt. Er würde Liam anrufen oder ein neues kaufen müssen. Wenn es denn für einen mindestens zehn Jahre alten Laptop noch ein passendes gab. Nicht, dass er eine Ausrede brauchte, um Liam anzurufen.

Er wollte Antworten, die nur Liam ihm geben konnte.

Kapitel 9

Drei Tage später war Jake mehr als sauer.

Warum geht er kein einziges verdammtes Mal ans Telefon?

Drei Tage voller Nachrichten, noch mehr Nachrichten und Anrufe, aber alles, was es ihm einbrachte, war Schweigen. Offensichtlich wollte Liam nicht reden und je länger es dauerte, umso wütender und emotionaler wurde Jake. Er hatte Calebs Tagebuch so oft von vorne bis hinten durchgelesen, dass er es auswendig kannte. Mit seinem Daddy zu arbeiten, bot nicht genügend Ablenkung. Er konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken.

Caleb kann nicht schwul gewesen sein. Ich hätte es gewusst.

Er sagte sich, dass das Tagebuch übertrieben war, es war ja nicht so, dass es eine Menge Details enthielt. Er verglich es damit, was manche Mädchen im Teenageralter in ihre Tagebücher schrieben, wenn sie diese Fantasiegeschichten darüber erfanden, in jemanden verliebt zu sein.

Allerdings wusste Jake tief in seinem Inneren, dass das eine schwachsinnige Theorie war. Er war nicht einmal sicher, warum er überhaupt mit Liam reden wollte. Ursprünglich hatte Jake die blödsinnige Idee gehabt, ihn damit zu konfrontieren, ihn zu zwingen zuzugeben, dass Caleb das alles erfunden hatte.

Wem will ich da was vormachen? Das ist einfach nicht stichhaltig.

Jake musste etwas unternehmen. Den Blicken nach zu urteilen, die sein Daddy ihm immer wieder zuwarf, war Jakes Verhalten unberechenbar genug, dass es ihm aufgefallen war. Das Letzte, was Jake wollte, war, dass er anfing Fragen zu stellen, denn es wäre nicht viel nötig und er würde zusammenbrechen.

Es hatte keinen Zweck. Er musste mit Liam reden.

Mittwochabend nach dem Abendessen ging Jake in den Hinterhof hinaus und machte sich auf den Weg zu seinem Baumhaus. Es war Jahre her, dass er dort gespielt hatte. Manchmal waren Pete oder Dan oder andere Freunde zu Besuch gekommen und Mama hatte ihnen Limonade und Chips gebracht. Sie hatten Comics oder Spielkarten dabei, je nachdem, wonach ihnen gerade zumute war, und sich dort oben vor den neugierigen Blicken der Erwachsenen versteckt.

Für einen kleinen Jungen, der seinen Bruder vermisste, waren diese Tage kostbar.

Jake setzte sich unter den Baum, den Rücken gegen den massiven Stamm gelehnt, und zog sein Handy heraus.

Komm schon, Liam. Geh ran. Nur ein einziges Mal. Jake blieb dran, hörte zu, wie es klingelte, wollte nicht aufgeben, als würde Ausdauer irgendwann belohnt werden.

Allem Anschein nach war das der Fall.

Liams Seufzen drang an sein Ohr. »Warum hast du bloß dieses dringende Bedürfnis, mich anzurufen, Jake? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mittlerweile all deine Antworten hast.« Er hörte sich hundemüde an.

Was auch immer Jake hatte sagen wollen, war wie weggeblasen. »Das ist nicht wahr«, platzte er heraus. Und sobald er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, wie dumm er klang.

Einen Moment herrschte Schweigen. »Oh. Mein. Gott. Wenn das alles ist, was du mir zu sagen hast, beende ich dieses Gespräch auf der Stelle.«

»Warte!« Panik machte sich in ihm breit, sein Herz raste. Zu seiner großen Erleichterung tat Liam, worum er ihn gebeten hatte, und bevor Jake seine Gedanken richtig formulieren konnte, übernahm sein Mund das Kommando. »Caleb war schwul? Du und Caleb… ihr wart wirklich zusammen?«

Noch ein Seufzer. »Du hast den Laptop. Ich weiß nicht, was du dort gefunden hast – ob du mir das glaubst oder nicht –, aber wenn du dir das zusammengereimt hast, dann weißt du, dass du nicht der Einzige bist, der hier leidet.«

Heilige Scheiße. Dann war es tatsächlich wahr. Ein taubes Gefühl breitete sich in ihm aus und verzagt wisperte Jake: »Warum hat er es mir nicht gesagt?«

Einen Moment lang war die Stille so allumfassend, dass er dachte, die Verbindung wäre abgebrochen. »Über dieses Thema könnten wir uns die ganze Nacht unterhalten.«

Das reichte nicht. »Ich muss es wissen. Hat er mir nicht vertraut? Hatte er Angst, wie Mama und Daddy reagieren würden, wenn er sich outet?« Jake zögerte, aber es musste gesagt werden. »War es wegen dir?«

»Was sollte das mit mir zu tun haben?«, fragte Liam in scharfem Tonfall.

Jake prustete. »Oh, um Himmels willen. Du warst bei der Beerdigung. Du hast alle Anwesenden gesehen. Du hast ihre Reaktionen sogar selbst angesprochen. Hatte Caleb Angst, es ihnen zu sagen, weil du schwarz bist?«

Liam schnaubte. »Nun, das ist besser, als ich erwartet hatte. Nach allem, was Caleb mir über eure Stadt erzählt hat, hab ich schon fast damit gerechnet, dass du ein Farbiger sagst. Ich schätze, du und er wart euch ähnlicher, als er dachte.« Noch eine Pause. »Tut mir leid. Ich kann dir nicht helfen.«

»Jetzt warte doch mal!« Erneut kochte Jakes Wut hoch.

»Nein, du wartest mal.« Liam atmete schwer. »Ich verstehe, dass du dieses ganze emotionale Chaos durchmachst. Tja, hier ist eine Neuigkeit für dich – das gilt auch für mich. Du hast deinen Bruder verloren, und ja, ich weiß, dass das verdammt wehtut, aber weißt du was? Ich hab grad den Mann verloren, den ich liebe. Er ist verdammt noch mal direkt neben mir gestorben. Also vergib mir, wenn ich an deinem Selbstmitleid kein Interesse habe. Im Moment hab ich genug damit zu tun, mit meinem eigenen fertigzuwerden.« Und damit legte er auf.

Benommen und verwirrt starrte Jake auf das Display. Was zum Teufel? Auf keinen Fall würde er Liam die Sache so beenden lassen. Nicht, wenn er noch so viele Fragen hatte. Und er lässt sich über mein Verhalten aus?

»Jacob? Komm bitte rein«, rief Daddy von der hinteren Veranda aus.

Aww, Mist. Jake kannte diesen Tonfall. Irgendwas war im Busch. »Komme!« Er kämpfte sich auf die Füße und schob das Handy in die Tasche seiner Jeans. Als er sich dem Haus näherte, sah er, dass sein Daddy auf ihn wartete, und der Anblick reichte aus, dass er sich ein bisschen schneller bewegte.

Daddy deutete hinein. »Geh ins Wohnzimmer. Mama und ich wollen mit dir reden.«

Nicht jetzt, stöhnte er innerlich. Er hatte keine Ahnung, was auf ihn zukam, aber er wusste, dass es nichts Gutes sein würde. Folgsam ging er durchs Haus dorthin, wo Mama neben dem Kamin in ihrem Sessel saß. Jake ließ sich auf der Couch nieder, sein Herzschlag beschleunigte sich. Was soll das alles?

Daddy kam herein und nahm den anderen Sessel in Beschlag. »Okay. Willst du uns sagen, was los ist?«

Jake blinzelte. »Was?«

Daddy durchbohrte ihn mit einem scharfen Blick. »Jacob John Greenwood, denkst du nicht, dass ich dich mittlerweile kenne? Du warst nicht mehr bei klarem Verstand, seit du in Atlanta gewesen bist. Also schätz ich mal, du sagst uns, was dich umtreibt? Und erzähl mir keinen Mist von wegen, du trauerst immer noch um Caleb. Denn natürlich tust du das, genau wie wir. Aber ich kenn dich, Junge. Das ist nicht dasselbe. Dir geht irgendwas im Kopf rum, und das macht dich irre.«

Bevor Jake ihm sagen konnte, dass er falschlag, mischte sich Mama ein. »Du redest kaum noch mit uns. Ich dachte immer, du würdest zu mir kommen, wenn du ein Problem hast.« Sie presste die Lippen zusammen. »Es kommt mir vor, als würde ich dich nicht mehr kennen.«

Oh Gott, der Schmerz, der sich bei diesen Worten in seine Brust bohrte. Jake schnürte es die Kehle zu und er senkte den Blick. Auf keinen Fall konnte er seine Gedanken mit ihnen teilen, aber er musste hier irgendwie durch. »Ich denke…«, setzte er an, aber er fand nicht die richtigen Worte.

»Jacob?« Er hob den Kopf und begegnete dem Blick seiner Mama. »Wenn du dich uns nicht anvertrauen kannst, gibt es jemand anderen, mit dem du reden kannst? Weil ich den Eindruck hab, dass du alles in dich reinfrisst, und das ist nicht gut für die Seele. Soll ich Reverend Hubbert bitten vorbeizuschauen?«

Bloß nicht. Jake atmete schneller. »Schon gut, Mama. Du musst den guten Reverend nicht belästigen.« Eine Idee schoss ihm durch den Kopf und ein Gefühl der Leichtigkeit breitete sich in ihm aus. »Es gibt jemanden, mit dem ich reden könnte… Allerdings ist er nicht hier. Ich würde wegfahren müssen, um ihn zu sehen.«

Mama warf ihm einen spekulativen Blick zu. »Lebt er zufällig in Atlanta?«

Gott segne Mama und ihre Intuition.

Jake lächelte und Erleichterung durchströmte ihn. »Ja, Ma'am.«

»Von wem redet ihr?« Daddy runzelte die Stirn und sah zwischen Mama und Jake hin und her.

»Calebs Mitbewohner.« Sie nickte wissend. »Es liegt auf der Hand, dass er ein guter Gesprächspartner wäre. Und wenn es was helfen könnte, dann musst du natürlich dorthin.« Sie warf Daddy einen finsteren Blick zu. »Findest du nicht auch?«

Daddy räusperte sich. »Sicher. Aber kann das bis zum Wochenende warten? Ich brauche Jacob zurzeit wirklich. Es gibt zu viel zu tun und ich schaff das nicht allein.«

»Na klar.« Jake lächelte seinen Daddy beruhigend an. »Ich lass dich nicht im Stich. Ich breche am frühen Samstagmorgen auf, wie letztes Mal.«

Daddy strahlte. »Du bist ein guter Junge.« Er sah zum Kamin hinüber und seine Miene verhärtete sich. »Gott hat uns mit zwei wundervollen Söhnen gesegnet.«

Jake folgte seinem Blick und hatte plötzlich Schwierigkeiten zu schlucken. Auf dem Kaminsims standen mehrere gerahmte Fotos, von denen eines Caleb in seiner Robe beim Highschoolabschluss zeigte. Jake stand vor ihm, reichte ihm kaum bis zur Schulter. Calebs Hände lagen auf Jakes Schultern und Jake sah bewundernd zu seinem großen Bruder auf.

Jake war nicht überrascht, als Daddy aufstand und den Raum verließ.

Mamas Blick war bestürzt. »Scheint, dass du nicht der Einzige bist, der dieser Tage weniger redet.« Die Bemerkung war so unerwartet, dass Jake innehielt. In diesem Moment war sie mehr als nur seine Mama – sie war die Ehefrau seines Daddys, dessen Seelenverwandte. Dann blinzelte sie und der Moment verging. »Wenn ich jetzt in die Küche gehe, finde ich dann alles Geschirr abgewaschen und weggeräumt vor?« Das Funkeln in ihren Augen war nach der Ernsthaftigkeit der letzten Minuten ein willkommener Anblick.

Jake biss sich auf die Lippe. »Ich fang gleich an, Mama.«

»Tu das.« Sie nahm ihre Stickerei auf. »Bringst du mir ein Glas Eistee, wenn du fertig bist? Du könntest deinem Daddy auch eins bringen.«

»Klar, Mama.« Jake verließ das Zimmer und eilte in die Küche. Während er seine Arbeit erledigte, waren seine Gedanken bereits bei der Fahrt nach Atlanta. Nicht, dass Liam von seinem geplanten Besuch erfahren würde. Oh nein. Jake würde ihm nicht die Möglichkeit geben, eine Ausrede zu finden, warum er nicht dort sein würde. Am Wochenende würde er höchstwahrscheinlich zu Hause sein.

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