Kitabı oku: «Einer der auszog, um reich zu werden», sayfa 6
Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff
Am folgenden Tag regnet es, weshalb wir erst später aufstehen. Wir kochen Mittagessen und packen unsere Sachen aus. Dann nutze ich das schlechte Wetter, um eine Präsentation für die kommende Woche vorzubereiten und E-Mails zu beantworten. Da der Online-Geldtransfer meiner britischen HSBC Bank von Hongkong nach Shanghai blockiert ist, muss ich mich auch darum kümmern und eine E-Mail schreiben. Währenddessen arbeitet Hong weiter an der Übersetzung unseres Ehevertrages vom Chinesischen ins Deutsche, damit ich ihren Vertragsentwurf verstehen kann. Sie möchte unabhängig von mir leben und ihren Reichtum, den sie von ihren Eltern erben wird, nicht mit mir teilen müssen. Ich frage mich, was passiert, wenn ich mit Hongs Vorschlägen nicht einverstanden bin und nicht unterzeichne, immerhin sind wir bereits verheiratet und da gelten die Regeln ohne Vertrag, zumindest in Deutschland. Hong hat den Vorteil, sich bei den chinesischen Gesetzen auszukennen. Das wird noch ein spannender und vermutlich langer Kampf werden.
Da sich der Zinssatz bei den Banken erhöht hat, möchte ich keinen Tag verschenken und besuche gleich am nächsten Tag die lokale Filiale der Bank of Suzhou in Taicang, um endlich ein Festgeldkonto zu eröffnen und mein Geld aus der ICBC Bank dorthin umzubuchen. Leider kann ich kein neues Geld als Festgeld anlegen, weil meine Finanzlage das nicht zulässt.
Dann fahren wir zum Headquarter meiner Firma nach Shanghai. Dort habe ich einen Termin mit meinem Chef, um über das Ende meiner Probezeit und über meine Bewertung zu sprechen. Ich erwarte kein großes Lob, aber auch keine nennenswerten Probleme. Am Abend wollen Hong und ich beim AHK-Treffen im German Center sein.
Offenbar ist meine Abteilung während meines Urlaubs zwei Stockwerke höher gezogen. Ein bisschen verärgert bin ich, dass niemand mein Equipment mitgenommen hat, also erledige ich das jetzt und checke noch meine E-Mails, bevor ich ins Meeting gehe. Dort warten schon die Leiterin der Personalabteilung und mein Chef. Er sieht mich mit einem seltsamen Blick an und kommt ohne Umschweife zu den Ergebnissen meiner Bewertung. Sowohl meine chinesischen als auch die deutschen Chefs sowie weitere Mitarbeiter seien befragt worden und niemand sei mit meiner Leistung zufrieden.
Ich schlucke schwer und mir wird abwechselnd heiß und schlecht, als ich wie durch einen Nebel höre, dass mein Vertrag nach den internen Richtlinien beendet werden müsse. Als Beweis erhalte ich die Zusammenfassung der Bewertung. Mit zitternden Fingern starre ich auf das Blatt Papier, das mich meinen Job kostet.
Ohne einen Funken von Mitleid rechnet mir die Personalleiterin meine restlichen Urlaubstage vor, die vom laufenden Monat abgezogen werden. Entsetzt wird mir klar, dass demnach heute mein letzter Arbeitstag ist. Ich verlasse das Meeting und kann mir eine Drohung nicht verkneifen: »Wir sehen uns bei Gericht!«
Was zum Teufel ist hier los? Warum werde ich vor die Tür gesetzt? Wie in Trance räume ich meinen eben bestückten Schreibtisch leer. Ein Mann vom Sicherheitsdienst verlangt von mir Laptop, Ausweis und Handy, mein Chef begleitet mich zum Aufzug und verabschiedet sich von mir. Ich zittere am ganzen Körper und bin immer noch verwirrt. Alles ging so verdammt schnell. Erst als ich mit dem Aufzug nach unten fahre, begreife ich, was gerade passiert ist.
Hong arbeitet an ihrem Laptop in der Lobby. Verstört und mit hängenden Schultern setzte ich mich neben sie und erzähle, was vorgefallen ist.
Jeder normale Mensch hätte etwas Mitleid gezeigt oder wenigstens geheuchelt. Nicht so Hong. Mit gleichgültigem Gesicht und sehr rational klärt sie mich auf: »Ganz ehrlich, das überrascht mich wenig, denn du bist für die Firma zu teuer. Es gibt Chinesen, die den gleichen Job zu niedrigeren Gehältern machen.«
»Aber meine Erfahrung …«, will ich meine Verteidigung aufbauen, aber meine Ehefrau unterbricht mich gnadenlos.
»Ach, Erfahrung«, winkt sie ab. »Cost Cutting ist wichtiger als Erfahrung. Ich wusste eh schon, dass du entlassen wirst.«
Ich horche auf, denn das überrascht mich doch sehr, und mein fragender Blick fordert eine Erklärung ihrerseits, mit der sie auch nicht lang hinter dem Berg hält.
»Ich habe gleich gesehen, dass dein Fahrer das Auto während unseres Urlaubs nicht wie vereinbart reparieren lassen hat, und habe ihn darauf angesprochen. Er wird uns ab Monatsende nicht mehr fahren und dann muss sich seine Firma um die Reparatur kümmern, da sie den Wagen ja weiter vermieten möchte. Polizei und Versicherung sind informiert und bereiten ihm und der Leasingfirma keine Probleme.«
Einerseits wundert es mich nicht, dass der Fahrer bereits Bescheid wusste, denn Chauffeure bekommen viel mehr mit, als man ahnt. Andererseits bin ich enttäuscht, dass Hong mich nicht in ihre Gedankengängen und Vermutungen eingeweiht hat, um mich zu warnen, schließlich haben Frauen oft eine feinfühligere Antenne als Männer. Ich rege mich aber nicht auf, da ich im Moment nicht auch noch einen Streit mit meiner Frau brauche. Ich war noch halb in Urlaubsstimmung, so dass ich gar nicht auf den Wagen geachtet und auch den Fahrer nicht nach der Reparatur gefragt hatte.
In der Firma wird man mich genauso durch einen Chinesen ersetzen, wie den General Manager für Asien, der kurz vor Weihnachten nach Deutschland zurückversetzt worden war. Von einer Freundin, die früher bei meiner Firma gearbeitet hatte, hat Hong gehört, dass wohl der gesamte Bereich aufgelöst werden soll.
»Es ist immer so, dass zuerst der Chef die Mitarbeiter entlassen muss, um am Ende selbst auch zu gehen. Mach dir keine Sorgen, ich unterstütze dich«, verspricht meine Frau.
Ich traue dem nicht so, denn nicht zum ersten Mal ändert sie ihrer Meinung Schlag auf Schlag. Noch im Urlaub hat sie mich niedergemacht, weil sie angeblich alles finanzieren musste.
»Ich bin ja Rechtsanwältin, notfalls bekommst du von mir kostenlosen Rechtsbeistand.«
Gut zu wissen, denn meine Firma schuldet mir noch das Geld vieler Spesenrechnungen. Zudem muss ich auch noch das Büro in Taicang ausräumen, hoffentlich gibt es da keinen Ärger.
Auf dem Weg zum AHK-Treffen stehen wir im Stau und kommen verspätet an, doch der zwangslose Plauderteil ist noch im vollen Gange. Ich verteile nicht wie üblich die Businesskarten meiner Firma, bei der heute mein letzter Arbeitstag war. Stattdessen bringe ich Visitenkarten meiner Firma, die ich vor ein paar Jahren in Deutschland gegründet habe, unter die Leute. Diese Firma bietet Service, Beratungen und Schulungen an. Hong hat sich eigene Karten drucken lassen, denn ohne Visitenkarten ist man in China ein Niemand. Firmenname und Logo haben wir im letzten Jahr bereits als Trademark in China registrieren lassen. Die Homepage ist zwar noch nicht fertig, doch nun scheint es, als ob diese eigene Firma ein Strohhalm ist, an den wir uns beide klammern können. Sowohl ich als auch Hong brauchen im nächsten Monat wieder Einnahmen.
Auf dem Heimweg bekomme ich einen Anruf von meiner britischen HSBC Bank aus Shanghai, die meine Nachricht von der Hongkong-Filiale bekommen hat. Der Geldtransfer wurde nicht durchgeführt, da meine Post zurückgekommen war. Ich hatte doch glatt vergessen, der Bank meine neue Anschrift mitzuteilen. Seit meinem Umzug nach Taicang vor einem halben Jahr hat die Bank nur über E-Mails mit mir kommuniziert, daher frage ich mich, welche Nachricht den offiziellen Postweg gehen musste. Hier merke ich wieder den Unterschied zu Deutschland, wo die Bank auf Kosten des Kontoinhabers einfach die neue Anschrift beim Einwohnermeldeamt erfragt und nicht gleich das Konto gesperrt hätte. Britische Banken in China sind da wohl weniger kunden-, sondern mehr sicherheitsorientiert.
Höflich bedanke ich mich für die Information und möchte wissen, ob ich gleich telefonisch meine Adresse ändern lassen könnte. Der Banker verweist mich wieder auf die Hotline und das System dreht sich im bürokratischen Kreis. Dieser nicht vorhandene Service veranlasst mich, eine Kündigung in Betracht zu ziehen, sobald ich bei der chinesischen Bank Fuß gefasst habe.
Am späten Abend betreiben wir gemeinsam am Esstisch Brainstorming, um zu überlegen, wie es weitergehen könnte. Trotz der momentanen Situation kann Hong es sich nicht verkneifen, das Thema Kinder fallen zu lassen. Sie sollen in den USA, Deutschland oder einem Land aufwachsen, in dem es warm ist. Zudem ist eine Promotion auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften noch immer in ihren Zukunftsplänen enthalten.
Wie immer denke ich pragmatisch und weise sie darauf hin, dass es erst einmal sinnvoll wäre, eine sichere Einnahmequelle aufzubauen, denn sonst würden unsere Kinder in Armut aufwachsen, was sicher nicht in ihrem Interesse sei. Daher schlage ich vor, meine deutsche Firma in China registrieren zu lassen und diese publik zu machen.
Obwohl es vielleicht etwas unpassend ist, mache ich einen Scherz: »Ich könnte auch am Strand liegen, Krabben essen und Bücher schreiben.«
»Oder Frauen jagen«, fügt Hong hinzu.
Wieder weiß ich nicht, ob diese Aussage spaßig gemeint ist oder die Eifersucht aus ihr spricht. Offenbar habe ich diesmal Glück, denn sie erzählt mir die Geschichte eines Mannes, der auch einen Job sucht, aber immer wieder entlassen wird, bis er eines Tages sein Talent entdeckt und reich wird. Hong vergleicht es mit einem Feld, auf dem nur ganz bestimmte Pflanzen wachsen, andere dagegen stets eingehen. Ihr Fazit: Ich müsse solange Jobs ausprobieren, bis ich erfolgreich werde.
Nach einem spärlichen Frühstück aus Haferbrei mit Wasser – unser Kühlschrank war leer –, erreiche ich bei der Hotline meiner britischen Bank, dass sie mich für die Onlineeingabe meiner neuen Anschrift und meiner Mobilnummer freischaltet. Allerdings kann ich den Geldtransfer noch immer nicht durchführen und werde auf nächste Woche vertröstet. Hong macht sich auf den Weg, um Gemüse zu kaufen, ich räume mein Büro auf und sortiere die Unterlagen, die sich während unseres Urlaubs angesammelt haben. In die Stille schleichen sich die Worte meines Ex-Chefs: »Dann müssen wir wohl alle den Gürtel etwas enger schnallen!«
Tags darauf ist mein Zorn etwas verraucht, so dass ich meinem Ex-Chef in einer E-Mail rational und sachlich die Punkte auflisten kann, die aus meiner Sicht noch offen sind: Erstattung der noch nicht beglichenen Reisekosten, meine Bücher im Taicang-Büro und die variablen Gehaltsanteile. Meiner Meinung nach habe ich gute Arbeit geleistet und ein Recht auf diese leistungsabhängige Vergütung. Ich kann mir die schlechten Bewertungen noch immer nicht erklären und frage mich, warum niemand eher meine Arbeitsweise kritisiert hat, denn dann hätte ich eine faire Chance gehabt, etwas daran zu ändern. Wie sich mein Empfinden mit den gesetzlichen Regelungen vereinbart, weiß ich allerdings nicht, aber Forderungen stellen ist ja legitim.
Trotz Hongs Warnung, dass für heute hohe Smog-Werte gemeldet worden sind, jogge ich am Fluss entlang. Danach bereite ich meine Rede für das am Nachmittag stattfindende AHK-Event vor, auf dem ich meine neue Firma vorstellen möchte: »Vielen hier bin ich bereits bekannt, mein Name ist Franz Übermut und ich bin seit mehr als zwanzig Jahren im Chinageschäft tätig. Ich greife auf vierzig Jahre Berufserfahrung in mehreren namhaften internationalen Firmen zurück und bewege mich beruflich seit etwa fünf Jahren im asiatisch-pazifischen Raum. Nun ist es Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen. Meine Frau Hong und ich werden in Suzhou die Service-, Beratungs- und Trainingsfirma ›ECOCUT‹ eröffnen. ECOCUT steht für ›Efficient Cost Cutting‹. Wir sind unter anderem darauf spezialisiert, Firmen aus der Industrie auf dem Gebiet der Kostenreduzierung zu unterstützen, zum Beispiel bei Preisverhandlungen mit Lieferanten oder beim Verkaufsgespräch mit Kunden. Erfolg kommt durch Mut und Selbstvertrauen. Nicht nur beim Weg in die Selbständigkeit, sondern auch beim Knüpfen der richtigen Kontakte. Deshalb tauschen Sie noch heute Ihre Visitenkarte mit mir. Sie werden überrascht sein, welches Potential in Ihnen steckt und um wie viel Sie Ihren Profit steigern können. Wir sitzen links vorne. Vielen Dank.«
Mir ist die Ironie, selber »Opfer« von Cost Cutting geworden zu sein und sie hier noch weiter zu propagieren, sehr wohl bewusst, doch hier geht es ums Geschäft und nicht um Rücksichtnahme.
Gegen zwei Uhr nachmittags fahren wir nach Shanghai, um uns dort wie vereinbart mit meinem Freund Liu Meng im Stadtteil Pudong zu treffen und gemeinsam zum AHK-Treffen ins Hotel Shangri-La zu fahren. Liu Meng ist genauso alt wie ich, hat in China studiert und in Deutschland bei Daimler gearbeitet, bevor er wieder zurück nach China ging, um sich mit einem Handelsunternehmen mit Import-Export-Lizenz selbstständig zu machen. Im Hotel-Café erzählt er, dass er seine Geschäfte in den letzten Jahren ausschließlich über seinen Freundeskreis und ohne Verträge abgewickelt hat. Das lässt mich vermuten, dass sein Verdienst eher gering sein wird, und bestärkt mich darin, wie bisher an deutschen detailliert ausgearbeiteten Verträgen festzuhalten.
Ein deutscher Geschäftsmann, den Hong und ich letzten Dienstag getroffen haben, läuft zufällig an uns vorbei. Ich stelle Liu Meng und sein Instandhaltungsbusiness vor und erkläre ihm die Gemeinsamkeiten zu seinem eigenen Geschäft. Beide verkaufen »Fasteners«, so bezeichnet man Schrauben und andere Kleinteile, mit denen man verschiedene Objekte miteinander verbinden kann, jedoch mit hohem Qualitätsanspruch für die Industrie.
»Sarkozy hat 2009 ein Antidumping-Gesetz eingeführt, das es ermöglicht, Fasteners aus China mit achtzig Prozent Einfuhrzöllen in Europa zu verkaufen. Die chinesische Regierung war stinksauer und hat daraufhin europäische Fasteners mit einem Durchmesser von mehr als sechs Millimetern mit knapp dreißig Prozent Strafzoll belegt.« Liu Meng ist die Verärgerung darüber anzusehen, denn das Geschäft meiner beiden Gesprächspartner war davon stark betroffen und leidet noch heute darunter.
Wir verabschieden uns und ich begleiche die Rechnung für die Getränke aus der gemeinsamen Kasse. Als Hong und ich beim AHK-Event eintreffen, warten schon viele Gäste auf den Einlass. Der heutige Hauptredner, der Luxemburger Rupert Hoogewerf, hat einen sogenannten »Hurun-Report« über alle reichen Chinesen veröffentlicht. Hong lässt sich ein Buch von ihm signieren und ich knipse ein Bild von den beiden. Nachdem ich den Eintritt für uns beide bezahlt habe, begeben wir uns zum Büffet. Ich starte mit dem Nachtisch, denn dort ist noch keine Warteschlange, dann folgt die Hauptspeise und zum Schluss gönne ich mir die Vorspeise. Nachdem ich mich sattgegessen habe, verspüre ich keine Lust mehr, mich auf die Bühne zu quälen und meinen Text vorzutragen.
»Das nächste Mal«, flüstere ich Hong zu. Mich irritiert, dass Hong hier keine Widerworte hervorbringt. Schließlich beschwert sie sich ja immer, dass ich zu wenig für meinen Erfolg tue. Wahrscheinlich kommt die Rüge zuhause, wo sie frei von der Leber reden kann.
Als der Hauptredner seine Rede beendet hat, stellt Hong ihre vorbereiteten Fragen und bekommt dafür Applaus. Mit ihrem neuen Bekanntheitsgrad im deutschen Wirtschaftskreis in Shanghai fällt es uns nicht schwer, unsere neuen Businesskarten zu verteilen und zu erklären, was unsere Firma leisten kann. Dafür ernten wir Lob, aber auch Zweifel am Erfolg. Ein Professor einer berühmten europäisch-chinesischen EMBA-Schule meint sogar, ohne »EMBA-Wissen« käme man da nicht weit.
Hong glaubt, er wolle nur Werbung für seine teure Schule machen. Aber wir erfahren, dass die meisten reichen Chinesen Teilnehmer an EMBA-Kursen waren. Seit Jahren unterstützen sie sich gegenseitig im Business.
Hongs Zitat hierzu: »Reich wird man auch, wenn man verrückte Ideen hat sowie den Mut, diese auch umzusetzen.«
Mit Schwermut denke ich an die Sonnenaufgänge in Thailand, wenn ich durch die geschlossenen Fenster die Regenströme sehe. Im Internet lese ich, dass die chinesische Handelskammer ihre erste Filiale in Europa und zwar in Berlin eröffnet hat. Sie vertritt alle chinesischen Firmen, die in Deutschland gegründet worden sind. Der Präsident dieser neuen Handelskammer ist der General Manager der chinesischen ICBC Bank, der größten Bank der Welt. Als ich gerade einen Artikel über den Ukrainekonflikt auf der Halbinsel Krim überfliege, stapft Hong mit wütendem Gesichtsausdruck ins Zimmer.
»Die gefährlichsten Leute sind die, die dir am nächsten stehen. Die Leute, die dich gut kennen, können dich verarschen. Alle, die weit weg sind, können dir nicht schaden!«, legt sie los.
»Was ist denn los?«
»Ich habe gerade erfahren, dass all die Übersetzungsarbeiten, die ich letztes Jahr für die Kanzlei übernommen habe, nicht bezahlt werden! Einfach nicht bezahlt! Ich habe praktisch das letzte Jahr für die fast umsonst gearbeitet. Alles für die Katz. Dabei habe ich auf den Freund vertraut, der mir diese Arbeiten vermittelt hat«, rief sie mit Tränen in den Augen, »ich brauche eine neue Arbeitsstelle. Die paar tausend RMB von der Suzhou Universität reichen nicht, aber ich kann auch nicht Vollzeit in einem Unternehmen arbeiten, denn dann verliere ich meinen Pensionsanspruch an der Uni. Was soll ich nur machen?«
Ich lege meinen Arm um sie und versuche, sie aufzumuntern. »Das bisschen Geld kannst du woanders leicht reinholen. Du bist ein freier Mensch! Du kannst arbeiten und leben wo du möchtest. Du kannst auch ins Ausland gehen, denn deine Eltern sind noch nicht so alt, dass sie in den nächsten Jahren intensive Betreuung benötigten. Und sie können sich gegenseitig unterstützen.«
Doch Hong sieht mich nur traurig an. »Solange meine Mutter lebt, kann ich diesen Schritt nicht machen. Sie bestimmt in der Familie, was zu tun und zu lassen ist. Solange ich nicht das Familienoberhaupt bin, muss ich gehorchen, das ist und bleibt ein ungeschriebenes Gesetz in chinesischen Familien. Sollte ich die Uni verlassen, würde sie mich enterben. Sollte ich ihr nicht wenigstens ein Enkelkind schenken, droht mir das gleiche.«
Manchmal irritiert mich die Widersprüchlichkeit meiner Frau, denn oft schon hat sie auch im Familienkreis angesprochen, dass sie gern im Ausland leben und Kinder definitiv nicht in China großziehen möchte. Versucht sie mit diesen Äußerungen, ihre Mutter zu provozieren? Oder lotet sie aus, wie weit sie gehen kann und wo ihre Mutter tatsächlich die Grenzen zieht? Eine deutsche Frau in Hongs Alter hat normalerweise diese Phase lange hinter sich, aber zumindest bei meiner Frau scheint der Abnabelungsprozess noch in vollem Gange zu sein.
Beschweren kann Hong sich sicher nicht, denn ihre Eltern haben ihr viel ermöglicht. Wie nahezu jedes chinesische Kind hat Hong den Schulalltag mit Grundschule, Mittelschule, chinesisch Chu-Zhong, und die Oberstufe Gao-Zhong durchlaufen und die härteste Abschlussprüfung, Gao Kao genannt, die gleichzeitig die Zulassung zur Hochschule bedeutete, bestanden. Nach ihrem vierjährigen Jurastudium an der Universität Peking erlaubten Li Gengnan und Wu Meilan ihrer Tochter ein aufbauendes Studium im deutschen Bonn, wo sie nebenbei bei Starbucks etwas Geld verdiente. Nach ihrer einjährigen Unterstützung einer Frankfurter Kanzlei als Rechtsanwältin kehrte sie für ein halbes Jahr nach Suzhou zurück, um eine schwere Lungenkrankheit auszukurieren. Doch Hongs Wissensdurst war noch nicht gestillt, ebenso wenig ihr Fernweh. So studierte sie im schweizerischen Genf an einer Dolmetscherschule und konzentrierte sich auf Übersetzungen für die Sprachen Englisch, Chinesisch und Deutsch. Die Beamtenstelle als Lehrerin an der Berufshochschule in Suzhou hatten Li Gengnan und Wu Meilan ihrer Tochter vermittelt, doch sie kam mit dem Regime nicht zurecht, da ihre Verbesserungen nicht anerkannt wurden. Nach der bestandenen Prüfung für die chinesische Rechtsanwaltlizenz arbeitete Hong als Praktikantin bei einer Rechtsanwaltskanzlei in Shanghai, bis sie sich für eine freiberufliche Tätigkeit in der Rechtsanwaltskanzlei in Suzhou entschied, die sie nun nach Strich und Faden betrogen hat.
Anhand ihres Lebenslaufes kann man Hongs Zielstrebigkeit, aber auch ihre Zerissenheit erkennen. Sie beendet alles, was sie begonnen hat mit Erfolg, aber sie fährt auch verschiedene Linien, da sie sich offenbar nicht festlegen kann oder will.
Leider lässt sie mich nicht in ihr Innersten schauen, so dass ich ihren Eifersüchteleien und Wutausbrüchen hilflos ausgeliefert bin. Ihr hoher Anspruch an sich selbst und ihre starken, teils sehr leidenschaftlichen Gefühle führen zu großen inneren Spannungen und münden in einen immerwährenden inneren Kampf. Ihre strengen Wertvorstellungen und ihr nahezu pedantischer Perfektionismus hat sie sicher von Wu Meilan übernommen, die ihr darin in nichts nachsteht.
Ich vertraue ihrem Ehrgeiz und ihrem Durchhaltevermögen und weiß, dass ich mit ihr an meiner Seite alles schaffen kann. Auch wenn mir ihr stetiger Informationsrausch manchmal auf die Nerven geht, zeigt das nur, wie interessiert sie an ihrer Umwelt ist und wie gründlich sie versucht, alles zu verstehen. Dabei wird ihr sicher oft nicht bewusst, wie sehr sie einem Kontrollzwang unterliegt, auch Macht einsetzt, um andere zu unterdrücken, und ab und zu auch sehr boshaft und heimtückisch erscheint. Ich glaube, dass diese Hartnäckigkeit und der fast fanatische Eifer ihr manchmal im Weg stehen und verhindern, dass sie einfach nur lebt und glücklich ist, aber wenn sie all diese Eigenschaften begraben würde, wäre sie nicht mehr die Frau, die ich liebe.
Als ich bei der Everbright Bank mein dort angelegtes Festgeld für ein paar Monate verlängern möchte, erklärt mir die Finanzberaterin, dass das Geld trotz heutiger Fälligkeit noch nicht verfügbar sei und erst morgen verlängert werden könne. Ich hoffe, dass alles klappt, denn im Moment bietet die Bank gute Zinssätze für diesen Zeitraum. Vorteil von längeren Laufzeiten sind lukrativere Zinssätze, Nachteile ergeben sich, wenn man Geld benötigt, denn diese Anlagen erlauben keinen vorzeitigen Zugriff.
Beim Vergleich der Konditionen verschiedener Banken stelle ich fest, dass mein Angebot nicht das Beste ist. Zum Glück habe ich ja noch eine Chance, das Geld morgen abzuziehen und woanders gewinnbringender anzulegen. Auf meiner inneren Merkliste notiere ich, dass ich mich in Zukunft erst informiere und dann zuschlage, um unnötigen Mehraufwand und Enttäuschungen zu vermeiden.
Im Hotel Shanghai Hilton haben wir einen Termin mit einem Geschäftsmann aus Hongkong, den ich auf LinkedIn kennengelernt habe. Ich schöpfe aus dem Vollen und schildere auf Englisch meinen Automotive-Hintergrund und mein Fachwissen über die von ihm vertriebenen Produkte. Anhand meiner vielen Fachfragen wird Mr. Chong klar, dass ich nicht hochstaple, sondern tatsächlich Ahnung von der Materie habe, und er hofft, dass mit meiner Hilfe der Automotive-Zweig seiner Firma ausgebaut werden könne. Nachdem wir uns über meine Provision einig geworden sind, lädt er uns zum Abendessen ein. Als Hong erklärt, sie hätte keinen Hunger und möchte heimfahren, bin ich verwirrt, da sie normalerweise mehr Hunger als ich hat. Aber ich halte mich zurück, wir verabschieden uns von Mr. Chong und vereinbaren ein Wiedersehen in Hongkong.
Während der Taxifahrt zur Laowai Jie 101, einer Fußgängerzone mit überwiegend internationaler Gastronomie im Straßenviertel Hongmei Lu, spreche ich meine Frau auf ihre Ablehnung des Geschäftsessens an.
»Seine Einladung war nur pure Höflichkeit, doch unsere Umgangsformen verbietet es, diese Einladung anzunehmen. Das gilt immer für das erste Treffen, wenn noch keine gemeinsamen Geschäfte abgeschlossen wurden, denn du würdest auf Kosten des Geschäftspartners essen, ohne etwas dafür getan zu haben. Daher ist eine Notlüge erlaubt. Außerdem wäre das Abendessen auch nicht umsonst gewesen. Wie in chinesischen Geschäftskreisen üblich, wären wir verpflichtet gewesen, ihn das nächste Mal einzuladen«, erklärt sie mir und gesteht, auch einen Bärenhunger zu haben.
In der »Ausländerstraße« angekommen entscheiden wir uns für chinesisches Essen, obwohl es recht teuer ist. Während wir essen, bemerken wir, wie sich ein Gast mit Sohn beschwert, dass er seine Bestellung nicht bekommen habe, und wie einige junge Gäste mit Zigaretten im Mund nach einem Blick in die Speisekarte gleich wieder gehen. Glücklicherweise blieben die Raucher nicht lange, denn das wäre Gift für Hongs Husten gewesen. Ich wünschte, hier in China gäbe es auch ein Nichtraucherschutzgesetz in Gaststätten wie in Europa.
Wir haben wieder einmal viel zu viel bestellt und lassen den Rest einpacken. Beim Bezahlen flüstert Hong mir zu, dass wir in Taicang und Suzhou für diese Summe zweimal hätten essen können und die Qualität des Essens wesentlich besser gewesen wäre.
Auf dem Nachhauseweg diskutieren wir über weitere Ideen, die eventuell Geld einbringen könnten.
Mir fallen die hohen Gagen von Politikern ein. »Toni Blair hat 2007 in Dongguan bei einer Immobiliengesellschaft für 330.000 USD gesprochen, hingegen hat Bill Clinton fünf Jahre zuvor in Shenzhen bei einem Bauträger nur 250.000 USD erhalten.«
Hong erwidert in ihrer Leichtigkeit: »Siehst du, du musst nur berühmt sein und gut quatschen können.«
»Bei mir liegt weder das eine noch das andere vor. Zudem quatscht Bill nur, um seinen Charité-Fund aufzufüllen.«
Hong kramt wieder eine ihrer Geschichten hervor: »Ein Tierarzt untersuchte einen irischen Wolfshund, der an Krebs litt. Nachts blieb die gesamte Familie bei ihm, damit er nicht allein war. Als der Hund friedlich einschlief, war der Jüngste nicht traurig und meinte zu wissen, warum das Leben von Haustieren kurz sei. Hunde genössen ihr Leben vom ersten Tag an, sie versteckten ihre Gefühle nicht und heuchelten nie. Deshalb reiche den Tieren ein kurzes Leben. Menschen dagegen müssten lange leben, um zu erfahren, wie sie ein schönes Leben führen könnten.«
Ich war gerührt. Eine schöne Moral, die man im Alltag leider meist vergisst.
Während ich noch in meiner Ergriffenheit schwelge, wechselt Hong wieder abrupt das Thema. »Wir sollten eine Gegenüberstellung entwerfen. Wo auf der Welt kann man am günstigsten leben? In welchem Land ist die Lebensqualität am höchsten? Wo sollen unsere Kinder aufwachsen?«
»An verregneten Tagen wie heute muss ich immer an die traumhaften Sonnenaufgänge in Thailand denken, daher möchte ich in den warmen Süden ziehen. Ja, warm muss es sein. Das ist auch für deinen Husten am besten.«
Zuhause schreibe auch ich eine Zusammenstellung … über mein Vermögen. Wie lange reicht das Geld noch ohne Einnahmen? Wie lange muss ich meinen Sohn noch unterhalten? Kann ich weiterhin die Schulden bei diversen Banken abtragen?
Hong schaut mir über die Schulter und fragt lächelnd: »Müssen meine Eltern und ich dich bald aushalten?«
Wieder wird mir die Sprunghaftigkeit meiner Frau bewusst, denn noch vor wenigen Tagen hat sie mir wegen des Geldes die Hölle heiß gemacht und nun ist sie beim selben Thema sehr freundlich gestimmt.
»Nein!«, rufe ich energisch. »Ich habe Ziele … Wir haben Ziele. Wir schaffen das. Niemand geht hier pleite!«
Die Toilette ist Hongs Örtchen, um sich über das Weltgeschehen zu informieren. Samstagmorgen kommt sie mit einer brisanten Nachricht zu mir ins Schlafzimmer. »Die Russen sind in die Ukraine einmarschiert!«
Ich bin schlagartig hellwach, da ich den Wertverlust meiner Aktien förmlich spüren kann. Ich springe auf, um meine Aktien sofort auf Verkaufen zu setzen, denn sobald die Börse in Europa öffnet, werden die Aktienkurse rapide fallen. In der Zwischenzeit durchstöbert Hong das Internet und informiert sich, wo man am besten Immobilien kaufen kann, denn wir wollen ihren Eltern beim nächsten Treffen unbedingt eine Lösung für unser finanzielles Problem unterbreiten.
Mir ist nicht klar, wie ich durch den Kauf einer Immobilie mit Geld, dass ich nicht habe, meine finanziellen Probleme lösen kann, aber meine Frau erklärt mir ihre Herangehensweise. Statt mein Festgeld aufs Neue anzulegen, solle ich es lieber in eine kleine Wohnung investieren, die ich dann vermieten könne. Wenn die Immobilienpreise steigen, dann verkaufe ich die Wohnung teuer und erziele einen höheren Profit als durch Festanlagen. Sie und ihre Eltern haben mit dieser Strategie nur gute Erfahrungen gemacht und in Immobilien investiertes Geld sei bei Inflation sicher.
Das funktioniert natürlich nicht ohne gute Beziehungen zu Bankangestellten, die einen mit guten Investments und preiswerten Wohnungen auf dem Laufenden halten. Durch Geldanlagen direkt am Schalter haben Hongs Eltern sogar ihren Hausstand aufgebessert, denn man bekommt die verschiedensten Dinge wie Toilettenpapier, Tücher, Seife, Eierkocher, Reiskocher, Eieruhr … alles, was man halt so benötigt.
Nach diesen schockierenden Nachrichten brauche ich erst einmal eine Runde Joggen. Nach meiner Rückkehr fühle ich mich erholt und berichte Hong von der nach dem Regen so angenehm frischen und kalten Luft. »Ich konnte mit einem flussaufwärtsfahrenden Lastkahn mitjoggen. Der Kahn hat mich zwar nicht überholt, aber am Ende hat er doch mit seinem Durchhaltevermögen gesiegt. Viele Kähne liegen am Ufer vor Anker. Ich denke, das ist ein Zeichen dafür, dass die chinesische Wirtschaft nicht mehr richtig brummt.«
Wir setzen uns zusammen, essen Haferbrei, Eier und den alten Fisch von gestern. Hong erzählt mir von einem Bericht, den sie gelesen hat. »Das meiste Essen in China ist nicht mehr natürlich. Alles ist auf schnellstmögliches Wachstum und größtmöglichen Gewinn ausgerichtet. Dank Hormonbehandlung wachsen die Tiere rasend schnell, das Gemüse wird in Gift ertränkt und durch Gene optimiert. Freilaufende Hühner halten die meisten hier für einen Mythos, denn Platz ist in China viel zu kostbar dafür.«
Mich interessiert, ob Hong glaubt, dass der Boden in unserem Garten für den intensiven Gemüseanbau geeignet ist. Im Moment liegt er brach, da der Vermieter ihn vernachlässigt hat. Hong ist sich trotz fehlender Bodenuntersuchung sicher, dass die meisten Böden in China mit Schwermetallen verschmutzt sind. Aber nichtsdestotrotz würden wir das Gemüse essen.
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