Kitabı oku: «Die Angst vor dem Tod überwinden», sayfa 2
2 | Sterben als physischer Prozess |
Jeder Mensch stirbt auf seine eigene Art und Weise. Der eine stirbt langsam, der andere schnell, der eine muss einen mühevollen Todeskampf führen, der andere entschläft sanft. Bestimmte Vorgänge treten jedoch immer wieder auf und auch der biologisch-körperliche Sterbeprozess durchläuft beschreibbare Phasen.
Jahrhundertelang galt der Stillstand des Herzens als Zeichen des physischen Todes. Erst 1966 legte die französische Akademie der Medizin als eine der ersten medizinischen Einrichtungen den Ausfall der Hirnaktivität als ausschlaggebenden Todeszeitpunkt fest und definierte dafür Kriterien. 1997 wurde diese Definition im deutschen Transplantationsgesetz eingeführt. Sie ist in den meisten westlichen Ländern gültig, trotz zahlreicher kritischer Stimmen, die sich darauf beziehen, dass der Status des Hirntodes schwer zu klassifizieren ist, vor allem dann, wenn andere Organe noch funktionsfähig sind.24
In unserem Organismus sterben unaufhörlich in den verschiedenen Organen Zellen ab und werden bis zum Lebensende wieder erneuert. Bis heute kann man nicht wirklich mit absoluter Sicherheit sagen, wann und wodurch der physische Tod eintritt. Selbst medizinische Bezeichnungen wie z. B. Herz-Kreislauf-Versagen, Leberversagen oder Nierenversagen bleiben ungenau. Oft sterben Menschen auf Palliativstationen trotz multiplen Organversagens erst Tage oder Wochen später, ohne dass es dafür eine medizinische Erklärung gibt.
Die physischen Anzeichen für den Tod sind nicht eindeutig. Sie treten nicht immer in einer bestimmten Reihenfolge auf und geben keine Auskunft über den exakten Todeszeitpunkt. Viele derartiger Anzeichen können isoliert auch bei schwerer Krankheit auftreten. In seltenen Fällen können Sterbeprozesse sogar reversibel sein. So schildert Gian Domenico Borasio in seinem Buch „Über das Sterben“25 etliche Fälle, die medizinisch unerklärlich bleiben. Solche Dinge sind kein seltenes Phänomen.
Vor nicht allzu langer Zeit begleitete ich eine alte Dame, die bereits die typische Cheyne-Stoke-Atmung mit immer größer werdenden Zeitabständen hatte, bis ihre Atmung ganz aussetzte. Nach minutenlanger Pause atmete sie plötzlich tief ein, erhob sich im Bett, reichte mir die Hand und stellte sich förmlich und in völliger Klarheit mit ihrem Namen vor.
Aus medizinischer Sicht durchläuft der physische Tod die folgenden drei Phasen:
• Präterminale Phase: In dieser Phase treten deutlich sichtbare Symptome der fortgeschrittenen Erkrankung auf. Schmerzen können in dieser Phase in der Regel beherrscht, die allgemeinen Symptome gelindert werden; eine aktive Teilnahme am Leben ist aber nicht mehr möglich. Diese Phase kann mehrere Wochen bis Monate andauern.
• Terminalphase: Der Schwerkranke nähert sich dem Tod. Er ist die meiste Zeit oder dauernd bettlägerig. Prognostisch ist sein Leben auf wenige Tage bis zu einer Woche begrenzt.
• Finalphase (Sterbephase): Der Kranke liegt im Sterben. Der Eintritt des Todes ist in einigen Stunden zu erwarten.
Man unterscheidet fünf physiologische Haupttodesursachen, wobei die Todesursache meist in der Kombination des Versagens mehrerer Organe besteht:
1. Herz-Kreislaufversagen: als Folge einer Herzinsuffizienz, meist infolge chronischer Erkrankungen wie Diabetes, Rauchen, o.ä., oder Erkrankungen des Herzens selbst.
2. Lungentod: durch plötzliche oder chronische Atemnot; bei chronischer Atemnot meist friedlicher Tod, bedingt durch CO2-Selbstvergiftung (CO2-Narkose)
3. Lebertod: hervorgerufen durch Störung der Entgiftungsfunktion, meist mit Gelbfärbung. Anfallende Abfallstoffe (v.a. Ammoniak) bewirken mitunter Verwirrtheit und Unruhe, in der Regel aber schlafen Leberkranke im Leberkoma friedlich ein, wenn es nicht durch den Blutrückstau zu einer Varizenblutung (platzende venöse Gefäße, meist in der Speiseröhre) kommt und der Tod rasch eintritt.
4. Nierentod: Nierenversagen kann durch Störung des Elektrolythaushalts im Körper zu Verwirrtheit, Herzrhythmusstörungen und Krampfanfällen führen; meist ist der Sterbeverlauf aber ähnlich wie beim Leberkoma.
5. Gehirntod: durch Blutung, Gewebeschwellung, Tumor oder Schlaganfall; verläuft – abgesehen vom Schlaganfall – meist schnell mit rascher Bewusstlosigkeit, allerdings können Schmerzen und Krampfanfälle auftreten.26
Die folgenden Tabellen über die biologische Uhr des Menschen zeigen, dass die meisten Menschen dann sterben, wenn die Körpertemperatur am niedrigsten und der Kreislauf am labilsten ist:27
Abb. 2: Die meisten Menschen sterben, wenn die Körpertemperatur am niedrigsten ist.
Abb. 3: Die meisten Menschen sterben in den frühen Morgenstunden, wenn der Kreislauf am labilsten ist.
Abb. 4: Sterbehäufigkeit im Tagesverlauf
Ferner lassen sich bei einem bevorstehenden Sterbeprozess bestimmte medizinische Veränderungen feststellen.
Diese unmittelbaren Anzeichen sind:
• Wochen bis Tage vor dem Tod verweigern die Menschen feste und auch flüssige Nahrung. Mitbedingt durch Flüssigkeitsmangel kann es dabei zu Verwirrtheit und Panik kommen.
• Die Haut des Sterbenden wird blass, bedingt durch den veränderten Pulsschlag und abfallenden Blutdruck. Die Haut an Füßen, Händen, Fingerspitzen auf der Liegeseite verfärbt sich.
• Der Körper friert und zittert, bedingt durch den Temperaturabfall.
• Der Sterbende erkennt Menschen, auch nahestehende, nicht mehr.
• Die Augen blicken offen oder halb offen in die Ferne, ohne etwas anzusehen. Die Pupillen zeigen keine Lichtreaktion.
• Reaktionen auf die Umwelt kommen zum Erliegen; trotzdem kann der Sterbende noch wahrnehmen und hören, denn der Hörsinn stirbt ganz zuletzt.
• Der „Todeskampf” beginnt durch die Unterversorgung mit Sauerstoff, mitunter begleitet von Hektik und Muskelkrämpfen.
• Der Atemrhythmus flacht ab und verändert sich, der Atem wird laut, ggf. mit Schleimabsonderungen, es setzt eine keuchende Atmung bis zur Schnappatmung ein.
• Der Sterbende fällt in einen langen Schlaf oder in eine Ohnmacht, die kaum vom Schlaf zu unterscheiden ist, und ist nur noch schwer erweckbar. Es kann sich ein sanftes Entschlafen einstellen.
• Es ist auch möglich, dass der Sterbende plötzlich aufwacht und sich in völliger Geistesgegenwärtigkeit aufrichtet.
• Kurz vor dem Sterben können Sterbende mit Blick ins Jenseits ausrufen: ‚Ich komme!’.
Sichere Todeszeichen: frühe Veränderungen
• Zum Zeitpunkt des Todes kann ein krampfartiges Erbrechen auftreten.
• Nach dem Tod erschlafft infolge des Sauerstoffmangels die Muskulatur; Darm und Blase entleeren sich.
• Der Körper erkaltet pro Stunde um ein Grad, nach zwei Stunden setzt die Toten- oder Leichenstarre ein. Sie beginnt mit der Kaumuskulatur und breitet sich dann zu den unteren Gliedmaßen hin aus.
• Etwa 20 bis 60 Minuten nach Eintritt des Todes bilden sich Totenflecke (Livores).
• ‚Leichengift’ gibt es übrigens nicht, nur beim Tod durch Krankheitserreger sollte man vorsichtig sein.
• Sichere Todeszeichen sind außerdem sogenannte ‚mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzungen’, die den Körper unwiderruflich zerstören, wie z. B. nach schweren Unfällen, tödlicher Waffengewalt, Verkohlung usw.
Sichere Todeszeichen: späte Veränderungen
• Meist zersetzt sich der Leichnam durch chemische Verwesung, bakterielle Fäulnis und Autolyse durch körpereigene Enzyme.
• Im Freien kann er auch von Fliegen und Käfermaden besiedelt bzw. von Ameisen oder Ratten, Füchsen oder Fischen als Nahrung genutzt werden, bis zur Skelettierung.
• Unter Luftabschluss kann sich eine Leichen- oder Fettwachsbildung entwickeln.
• Wassermangel in trockener Umgebung kann den Körper oder einzelne Glieder mumifizieren.
Abb. 5: Herbst im Park in Leipzig
3 | Sterben als transpersonaler Prozess |
Der islamische Sufi-Mystiker Jelaladdin Rumi (1207-1273) schrieb: „Der Tod ist in Wirklichkeit eine spirituelle Geburt. Dabei wird der Geist aus dem Gefängnis der Sinne in die Freiheit Gottes entlassen, genau wie man bei der leiblichen Geburt aus dem Gefängnis des Schoßes in die Freiheit der Welt hinaus gelangt. … Die meisten Menschen haben Angst vor dem Tod, aber die echten Sufis lachen nur angesichts seiner. Nichts vermag ihre Herzen zu erschüttern. Was die Austernschale zertrümmert, kann die Perle nicht einmal ankratzen.“28
In der Arbeit mit Menschen, die sich schwerkrank in Richtung Tod bewegen, aber auch mit körperlich Gesunden, die unter hypochondrischen Ängsten vor Krankheit und Tod leiden, hat sich gezeigt, dass ein transpersonaler Ansatz – neben klassischen psychotherapeutischen Behandlungsverfahren – den Umgang mit der eigenen Sterblichkeit erleichtern kann.
Sterben könnte man auch als Wandlungsprozess, als Verwandlung oder Metamorphose verstehen: Etwas vergeht, etwas anderes entsteht und das alles findet innerhalb desselben Seins statt. Das Mysterium des Seins enthüllt sich, offenbart seine Schönheit in der (körperlich verdichteten) Form und wandelt sich wieder zu etwas Unsichtbarem. Ist der Hauptsinn menschlicher Geburt, wie Goethe es ausdrückt, dass wir „zum Sehen geboren, zum Schauen [des Unwandelbaren] bestellt“ sind?
„Transpersonal“ bezieht sich auf einen Bereich jenseits der engen Grenzen des persönlichen Ich-Erlebens. Diese Perspektive ist besonders hilfreich beim Umgang mit der Vergänglichkeit. Dabei geht es nicht allein um ein ‚Erspüren’ eines unvergänglichen Seins, sondern um die Überschreitung unserer begrenzten Vorstellungen von Vergänglichkeit, indem wir uns als Teil eines Ganzen wahrnehmen.
„Wenn keine Wolke über dem Berge hängt, durchdringt das Mondlicht die Wellen des Sees“, heißt es in einem Zen-Dialog.29 Als der Mönch diese Wahrheit nicht nur mit dem Verstand begriff, sondern sie ihn im Herzen berührte, erfuhr er Erleuchtung. Das große Suchen und Zweifeln kam zum Ende.
Die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit ist ein wichtiger Bestandteil aller Kulturen. Im indischen Kulturraum finden sich Unterweisungen zur Vergänglichkeit bereits in den Upanishaden (entstanden vermutlich zwischen 2000 und 100 v. u. Z.) wie in der Katha Upanishad, die einen Dialog zwischen dem jungen Naciketas und dem Tod beschreibt, den er zu seinem Guru (Lehrer) wählt.
An diese alte Tradition knüpfte Buddha an, der stets betonte, dass die Vergänglichkeit ein wichtiger Lehrmeister sei. Auf Anweisungen Buddhas bezieht sich daher eine buddhistische Form der Sterbemeditation, die der indische Meister Atisha um das Jahr 1000 u. Z. in Tibet einführte.30
Für die vorbuddhistische Praxis des Yoga Nidra besteht bereits das Grundproblem der Angst vor Vergänglichkeit in unserer Identifizierung mit unserer materiell-körperlichen Form, mit ihren Empfindungen, Gefühlen, Gedanken sowie in der Vorstellung, ein eigenständiges Ich zu besitzen. Die Übung des Yoga Nidra zielt deshalb darauf ab, allmählich einen Perspektivenwechsel zwischen Ich-Erleben und Ich-Beobachtung zu erreichen, indem man durch zahlreiche Wiederholungen lernt, sein eigenes Erleben gleichsam ‚von außen’ zu betrachten und dann als Teil des energetischen Schöpfungskörpers. Die gewonnene Distanz und Einbettung in die Energie des Ganzen soll helfen, die Verhaftung an den vergänglichen Organismus zu verringern. Zu diesem Zweck – als Hilfe zur Desidentifikation mit dem Ich und zur Vorbereitung auf den eigenen Tod – findet sich in diesem Buch eine Yoga-Nidra-Anleitung (Kap. 11) und die buddhistische Sterbemeditation (Kap. 12 und 15).
Ähnlich wie auch andere meditative Praktiken ermöglicht die Yoga-Nidra-Übung eine nicht wertende Grundhaltung gegenüber Körperempfindungen, Gefühlen, Gedanken und der Ich-Vorstellung. Loslösung und Ent-Identifikation leiten einen transpersonalen Prozess ein, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verlust der körperlich-geistigen Integrität hat, wie sie der Tod von uns fordert. Denn dabei geht es letztlich um die Lösung von Dingen, die uns ohnehin nur dem Namen nach gehören, wie es der thailändische Theravada-Buddhist Ajahn Chah (1918-1992) treffend ausdrückte. Entdeckt man Vergänglichkeit um sich herum, kann sich ein innerer Frieden ausbreiten. Wenn ein welkes Blatt vom Baum fällt oder ein Insekt seine letzten Zuckungen vollzieht, kann ein Augenblick mystischer, transpersonaler Stille entstehen, ein Zur-Ruhe-Kommen im Sein. Wenn wir die alltäglichen Zeichen von Vergänglichkeit an uns selbst und um uns herum klarer beobachten, eröffnen sich uns neue Dimensionen, die über unsere Ich-Grenzen hinausführen. Der persische Mystiker Bayasid Bistami (803-875) formulierte es poetisch:
Unter meinem Gewand ist nichts als Gott;
ich streifte mein Ich ab wie eine Schlange,
die ihre Haut abstreift.
Dann sah ich mein Wesen an
und es zeigte sich, dass ich Er war.31
Daher fordert der islamische Mystiker Jelaladdin Rumi dazu auf, beim Dahinscheiden nicht zu trauern, sondern eher froh zu sein:
„An meiner Grabstätte schreit nicht: ‚Weh, du bist fort!’, denn für mich ist das die Zeit froher Begegnung. Wenn ich ins Grab gesenkt werde, ruft mir keine Abschiedsworte nach. Ich habe dann den Vorhang zur ewigen Gnade durchschritten.“32
4 | Andere werden älter – ich nicht |
Selbstironisch schreibt ein alternder Mann im Internet33: „Die Menschen meiner Altersgruppe haben sich verändert. Sie sehen alle viel älter aus als ich. Kürzlich traf ich einen Schulkameraden, der so gealtert war, dass er mich nicht mehr erkennen konnte. Vieles ist heute anders als früher. Es ist zweimal so weit zum Park und nun ist auch noch ein Berg dazwischen. Es kommt mir so vor, als würde man die Treppen heute steiler machen.
Und ich habe längst aufgegeben, zum Bus zu rennen, der fährt jetzt schneller weg als früher. Zeitung lesen fällt jetzt auch schwerer, weil sie die Schrift verkleinert haben. Es hat auch keinen Sinn, jemand zu bitten, mir etwas vorzulesen, denn sie sprechen alle so leise, dass ich sie kaum verstehe. Auch die Klamotten sind neuerdings so eng geschneidert, besonders um die Hüften herum. Es fällt mir immer schwerer, mich zu bücken, um meine Schuhe zu binden.
Die Wartezimmer beim Arzt sind mir fast so vertraut wie mein Wohnzimmer. Vor wenigen Wochen hat ein Arzt zu meinem Nachbarn, der nur zwei Jahre älter ist als ich, gesagt, in seinem Alter lohne sich die Operation nicht mehr. Aber eines freut mich und zeigt mir, dass ich doch noch nicht so alt bin: Ich bin unverändert kontaktfreudig und lerne jeden Tag neue Menschen kennen. Einige von denen sagen allerdings, sie würden mich schon lange kennen!“
Ist der Mensch erst einmal erwachsen, wiegt er sich gern in dem Glauben, dass es ewig so weitergeht. Das liegt unter anderem daran, dass die Entwicklung der Persönlichkeit bis etwa zum 35. Lebensjahr weitgehend abgeschlossen ist. Im Gehirn ist diese Ich-Funktion vor allem in den Regionen hinter den inneren Augenbrauen lokalisiert. Diese neuronalen Netzwerke machen das Erleben einer eigenständigen Person möglich. Der Mensch erfährt sich als mehr oder weniger stabile Einheit, die sich durch Lebenserfahrung weiter ausformt. Das Gehirn ist, so der Neurowissenschaftler Gerhard Hütter34, eine zeitlebens offene Struktur, die sich im Laufe des Lebens ändert, weiterentwickelt, aber wie andere Körperstrukturen auch dem Alterungsprozess unterworfen ist und Leistungseinbußen erfährt. Anders als bei genetisch determinierten Lebensformen, wie z. B. Insekten, biologisch determinierten, wie Vögel und Säugetiere, die nur in bestimmten Lebensabschnitten lernen, kann das Gehirn eines Menschen bis zum Lebensende lernen, selbst wenn es degenerative Veränderungen bis hin zur Demenz aufweist und dadurch die normale Kommunikation beeinträchtigt. Selbst ein dementer Mensch kann die Frage nach der Freude am Leben noch bejahen. Je trainierter allerdings das Gehirn, so der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, desto länger bleibe die Denkleistung und das Bewusstsein, ein Ich zu besitzen, erhalten.35 Stabile Ich-Funktionen stellen in gewisser Weise ein Dilemma dar: Einerseits sind sie essenziell für die geistige Entwicklung und das Funktionieren in der Gesellschaft, andererseits aber können sie auch die Verhaftung an ein Ich oder Ego verstärken und das Loslassen im Sterbeprozess erschweren.
Der Mensch erlebt den Alterungsprozess durch das Schwinden der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, der Beweglichkeit und der Kondition. Besonders im Vergleich mit anderen kann er erkennen, dass seine körperlichen und geistigen Kräfte nachlassen und sich seine Ansichten über das Leben verändern. Dem Meditationslehrer Larry Rosenberg wurde sein Alter – er war etwas über 60 Jahre alt – erstmals bewusst, als jemand ihm einen Sitz in der U-Bahn anbot, wo doch sonst immer er derjenige war, der anderen seinen Platz angeboten hatte.
Wie ist es bei Ihnen? Wann ist Ihnen zum ersten Mal wirklich aufgefallen, dass Sie zu den Älteren gehören?
Das Nachlassen unserer Energien und – langfristig betrachtet – das Sterben ist mitten unter uns, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Die Anti-Aging-Industrie will uns mit zahllosen Angeboten glauben machen, dass dem nicht so sei. In der Geschichte der Kosmetika und Medikamente wurden schon immer ‚böse’ Stoffe gefunden, die angeblich zum Altern beitragen, und neue Substanzen und ‚Therapien‘ entwickelt, die davor schützen sollten. Abgesehen von Substanzen, die nachweislich gesundheitliches Leid verringern, und solchen, die erwiesenermaßen die Gesundheit schädigen (Rauchen, Alkohol, Drogen) – wäre es nicht besser, das Altern einfach Altern sein zu lassen?
„Gäbe es den Tod nicht – man müsste ihn erfinden! Ein ewiges Leben wäre zum Sterben langweilig: Ohne irgendein Ende gäbe es keinen Anfang und keine Mitte, gäbe es keinen Rhythmus, keine Melodie, kein Motiv, weder Durchführung noch Finale. Ohne Tod wird der Sensenmann zahnlos. Dabei brauchen wir den Zahn der Zeit, der an uns nagt, mal fies an den Gelenken, aber wenn wir hinhören, auch mal liebevoll am Ohrläppchen. … Anstatt sich um lebensverlängernde Zusatzstoffe zu kümmern, ist das Radikalste, was wir tun können, es nicht in der Apotheke zu finden. Wir finden es in der Freude am Leben selbst.“36 Vom Radikalenfänger-Fresser zum bewussten Genießer zu werden, wie Eckard von Hirschhausen vorschlägt, wäre heute wirklich radikal.
Aber der Tod ist allgegenwärtig. Fast 80 Millionen Menschen sterben jährlich auf der Welt. 75 Prozent der Bevölkerung atmen ihren letzten Atemzug in einem Pflegeheim oder Krankenhaus. Alle 45 Minuten bringt sich in Deutschland ein Mensch um.37
Joan Halifax forderte in ihren Hospizkursen die Teilnehmer auf, sich zu überlegen, was das schlimmste Szenario ihres Todes wäre. Vielleicht nehmen Sie sich einmal die Zeit, sich ein solches Szenario im Detail vorzustellen, aufzuschreiben und mit anderen zu besprechen? Wenn Sie damit fertig sind, fragen Sie sich, wie Sie sich jetzt fühlen, wie sich Ihr Körper anfühlt. Was sagt Ihnen Ihr Körper bei einer solchen Vorstellung?
Und dann nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit dafür, sich zu fragen, wie Sie sterben wollen, und spüren nach, wie sich dabei Ihr Körper anfühlt. Vielleicht finden andere Menschen Ihre persönlichen Vorstellungen gar nicht so schrecklich wie Sie selbst, vielleicht haben andere ganz unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen? Vielleicht haben sich aber auch Ihre eigenen Vorstellungen nach der Lektüre dieses Buchs verändert?38
5 | Altern beginnt früher, als man denkt |
Für die meisten Menschen verläuft das Leben auf einer Zielgeraden. Je länger die Linie, desto mehr, glauben sie, haben sie gelebt und desto weniger schrecklich stellen sie sich den Endpunkt vor. Der Tod junger Menschen erfüllt uns daher mit besonderem Schrecken.
In der indianischen Kultur dagegen wird das Leben als Kreis verstanden, der sich in der Pubertät schließt. Indianer sehen einen jungen Menschen bereits als Ganzheit an, die sich nach außen hin entfaltet. Wenn sich der Ring einmal geschlossen hat, stirbt man immer im Zustand der Vollkommenheit, egal wann der Tod eintreten mag. Ganzheit sehen sie nicht in der Dauer der gelebten Zeit, sondern in der Fülle, in der man die Ganzheit eines jeden Augenblicks erlebt. Der Indianer Crazy Horse sagte einmal: „Heute ist ein guter Tag zum Sterben, denn es gibt nichts, was meinem Leben noch fehlt.“39
Haftet man nicht am Leben, macht es keinen Unterschied, ob das Leben kurz oder lang ist (Dschuang Zse, taoistischer Philosoph), denn das Schicksal wendet sich so schnell, wie ein Pferdeschweif wedelt (Buddha).
Der in den 50er Jahren bekannte katholische Religionsphilosoph und Priester Romano Guardini (1885-1968) beklagte schon zu seiner Zeit, dass die Gewichtung unserer Existenz zu sehr „nur im jugendkräftigen Zustand“ liege, dass der Tod ausgeblendet und nur noch als „ein bloßes Negativum“ gesehen werde … Dadurch habe der Tod keinen positiven Wertakzent mehr. Man betrachte ihn nur noch als bloßes „Aufhören“, das dazu noch unter furchterregenden Umständen vor sich geht und, aus dem Blickfeld verdrängt, uns unvorbereitet trifft. Zwischen dem Tod und dem vorausgehenden Leben bestehe keine Verbindung mehr. Der Tod komme also von außen auf den Menschen zu und die Symptome, mit denen er sich in der Phase des hohen Alters ankündigt, würden nicht in den Zusammenhang des Daseins einbezogen, sondern nur erduldet.40
Die Beobachtungen Guardinis sind aktueller denn je, denn die Ignoranz des Sterbens und des Todes begegnet uns in der heutigen Zeit in noch stärkerem Umfang. Eine Gesellschaft, die den Tod verdrängt, so Eckhart Tolle41, muss in die Oberflächlichkeit absinken. Und das ist mittlerweile nicht nur im Westen, sondern zunehmend auf der ganzen Welt der Fall.
Wie aber sollte man das Leben sehen? Eine Geschichte gibt uns die folgende Antwort:
„Ein alter Chinese soll einmal auf seinem Weg ein junges, hübsches Mädchen getroffen haben. Er blieb stehen, schaute es an, verbeugte sich und fragte: ‚Wie alt bist du, mein schönes Kind?’ ‚Ich bin 17 Jahre, mein Herr.’ ‚Du bist schön und du wirst viel Freude im Leben haben. Aber sei nicht traurig, dass die Jahre schnell vergehen und mit ihnen deine Jugendschönheit. Wenn du aus der Güte lebst, wirst du im Alter schön sein in der Reife und in der Würde deiner weißen Haare.’ Das Mädchen verstand, verbeugte sich noch tiefer vor dem Alten und ein jeder ging seines Weges.
Ein anderes Mal traf der Alte eine schöne Frau, die ein Kind an der Hand führte. Er begrüßte sie und sagte: ‚Es ist ein schöner Tag heute, so schön wie dein freundliches Antlitz. Du stehst auf dem Gipfel deiner körperlichen Reife. Sicherlich hast du die 30 überschritten. Es sind nur noch so viele oder wenige Jahre und du wirst das Ziel deiner Wanderung erreicht haben. Lebe jeden Tag bewusst und dankbar und mit dem Willen, über dich selbst hinauszuwachsen zur vollen Reife und Beglückung des Alters. Dann werden deine Kinder und Kindeskinder und die Nachbarn in Ehrfurcht zu dir aufblicken und deinen Worten lauschen.’
Dann begegnete der weise, alte Mann einer weißhaarigen Frau, die auf einer Bank saß und in die untergehende Sonne schaute. Ihr Gesicht war von Runzeln durchfurcht, der Mund zahnlos. Der alte Mann blieb stehen und verbeugte sich vor der Greisin, so tief er konnte. ‚Ich beglückwünsche euch. Ihr seid am Ende eures Weges und habt das Ziel erreicht. Ihr tragt die Fülle des in 80 Jahren Erlebten in euch. Von euch strahlt Ruhe, Gelassenheit, Güte, Duldsamkeit, Weisheit und Würde aus. Weil ihr über euch hinausgewachsen seid, sind jetzt eure geringen Handlungen und eure wenigen Worte ähnlich den Zeichen des Himmels.’ Er setzte sich zu ihr auf die Bank und schaute mit ihr in die untergehende Sonne.“42
Pater AMA Samy erzählte in einem seiner Vorträge von einem chinesischen Kaiser, der alle Philosophen des Landes gefragt haben soll, was das Leben sei. Nachdem viel Zeit verstrichen war, brachten sie unzählige Bücher auf sechs Kamelen, die der Kaiser las und las, bis er ein hohes Alter erreicht hatte und feststellen musste, dass noch immer die Bücher von drei Kamelen nicht gelesen waren. Er bat die Philosophen, eine Zusammenfassung zu machen, damit er sie zu Ende lesen konnte. Doch auch die Zusammenfassung war noch so umfangreich, dass er, auf dem Sterbebett liegend, noch immer nicht alles gelesen hatte. In den letzten Tagen seines Lebens bat er um eine noch kürzere Zusammenfassung, worauf die Philosophen empfahlen, einen Zen-Meister zu Rate zu ziehen. Dieser eilte schließlich gerade noch rechtzeitig herbei. Auf die Frage des Kaisers: „Was ist das Leben?“ antwortete er: „Geburt, Alter und Tod“. Nach diesen Worten soll der Kaiser still eingeschlafen sein.43
„Wir glauben und halten fest an unserem Leben, weil wir davon ausgehen, dass sich unser Leben zwischen Geburt und Tod erstreckt. Wir glauben, dass wir während dieser Zeit leben und danach nicht mehr oder in anderer Form. Aber es wäre eine falsche Auffassung zu meinen, unser Leben beginne mit dem Augenblick unserer Geburt und es ende im Augenblick unseres Todes. Während einer sogenannten Lebensspanne gibt es Millionen Geburten und Millionen Tode. Tagtäglich sterben in unserem Körper Zellen – Gehirnzellen, Hautzellen, Blutzellen und viele, viele andere mehr und neue bilden sich. Selbst wenn Sie den Austausch Ihrer Zellen kaum mitbekommen, sind Sie nach kurzer Zeit nicht mehr der, der Sie einmal waren. Auch die Sonnensysteme, unser Sonnensystem, unser Planet sind Körper, die sich unaufhörlich wandeln. Wir und unsere Körperzellen sind nur Zellen dieses Ganzen. Müssen wir jedes Mal weinen, wenn eine Zelle unseres Körpers stirbt? Der Tod ist notwendig, damit Leben in anderer Form sein kann. … Wir lieben dieses eine Leben und wollen es ganz festhalten. Wir fürchten den Tod und wollen uns vor ihm verstecken. Dadurch schaffen wir uns großen Kummer und große Sorgen, doch dies rührt einzig und allein von unserer Auffassung von einer [festen und begrenzten] Lebensspanne“, schrieb der Zen-Mönch Thich Nhat Hanh.44
Der Missionar St. Bonifaz wurde bei einer Unterredung mit dem englischen König, die bis spät in die Nacht dauerte, gefragt, was das Christentum über die Zeit nach dem Tod zu sagen habe. In diesem Augenblick flog ein Vogel durch ein Fenster des Saales, setzte sich kurz auf den Leuchter in der Mitte des Raumes und flog zu einem anderen Fenster wieder hinaus. Bonifaz sagte daraufhin, dass es sich mit der Lebensspanne ebenso verhalte. Sie sei nur ein kurzer Abschnitt in der Zeit, das große Mysterium davor und danach bleibe unbekannt.