Kitabı oku: «Surazo», sayfa 4
LA ESTRELLA
Die Konstellation trägt den schönen Namen La Estrella (Der Stern). Dieser Stern ging in den 1950er- und 60er-Jahren auf. Der Inhaber der Firma war eine der schillerndsten Figuren in der lateinamerikanischen Naziszene: Der ehemalige SS-Sturmbannführer Friedrich Schwend, der im Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes in den 1940er-Jahren große Mengen englischer Pfundnoten gefälscht hatte, um die englische Wirtschaft zu destabilisieren und dem Reich Devisen zu verschaffen. Ein Drittel der hergestellten Devisen durfte er behalten. Außerdem war er dafür zuständig, Nazigold zu verstecken. 1946 setzte er sich schließlich nach Peru ab. Agent WALTER bewunderte Schwend und band ihn in großem Stil in die Koordination der Waffengeschäfte ein. La Estrella handelte mit allem Möglichen und unterhielt ein halbes Dutzend Außenstellen in Lateinamerika. Die Firma fungierte außerdem als ein institutionalisiertes Netzwerk, um die Verbindungen zwischen den Gleichgesinnten in Übersee aufrechtzuerhalten, sodass sich Schwends Adressbuch, die Namensliste der sogenannten Estrella-Vertreter, wie das »›Who is who‹ der nach Lateinamerika geflüchteten NS-Täter« liest: Willem Sassen, der Protokollant von Eichmanns Memoiren, vertrat La Estrella in Buenos Aires; Sassens jüngerer Bruder Alphons, der sich später rühmte, Ecuador von der Guerilla frei gehalten zu haben, vertrat die Firma in Quito, Klaus Barbie-Altmann in La Paz. In Madrid wurde die Firma vom ehemaligen SS-Obersturmbannführer Otto Skorzeny vertreten, der sich der Anhörung in den Nürnberger Prozessen durch Flucht in letzter Minute entzogen hatte und auch Kontakte nach Nordafrika pflegte. Hans-Ulrich Rudel wiederum war der Vertreter in Paraguay und reiste in offizieller Mission regelmäßig nach Österreich und Libyen, in die Schweiz und in die Bundesrepublik. In einem Brief an Álvaro Castro berichtete Klaus Barbie 1974 launig aus Paraguay:
Nun ja, es stimmt, am 7. dieses Monats reiste ich nach Asunción, auf persönliche und spezielle Einladung meines Freundes und Kriegskameraden, unseres obersten Helden Oberst Hans U. Rudel, des berühmten Stukafliegers. Ich selbst hatte nicht mit dieser Reise gerechnet, aber er wollte mich sehen und übernahm alle Kosten für die Reise, das Hotel und so weiter. Eine schöne Reise, nette Leute, sehr angenehme Tage für mich. Leider wurde ich von Journalisten gesehen – mein Gesicht ist wirklich weltbekannt – und daher die Nachricht.
Es war Rudel, der für Barbie-Altmann den Kontakt mit dem österreichischen Waffenlieferanten Steyr-Daimler-Puch hergestellt hatte, sodass dieser zum gewinnbeteiligten Vertreter des Panzerproduzenten in Bolivien avancierte, was wiederum dazu führte, dass 1980 auf den Straßen von Santa Cruz und Oruro mit Steyr Kürassier-Panzern auf demonstrierende Arbeiter geschossen wurde.
Rudel war einer von denjenigen Altnazis, die trotz ausgezeichneter Sicht unsichtbar blieben. Immer wieder fiel jedoch das Blitzlicht eines Skandals auf ihn: 1976 löste die sogenannte Rudel-Affäre eine Mediendebatte über die Traditionspflege in der Bundeswehr aus, nachdem ranghohe Bundeswehroffiziere ihn zu einem Traditionstreffen des Schlachtgeschwaders Immelmann eingeladen hatten. 1978 wurde Rudel im Trainingsquartier der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Argentinien empfangen. 1981 soll der Mossad die Entführung seines zwölfjährigen Sohns Christoph in Erwägung gezogen haben, um Zugriff auf den von Rudel regelmäßig mit Geld versorgten Josef Mengele zu erpressen. Israelische Agenten sollen sich zur Planung der Entführungsaktion in Kufstein aufgehalten haben. Und anlässlich seines Begräbnisses 1982 kam es zu einem Eklat, weil angeblich mehrere Phantoms und Starfighter der Luftwaffe der Bundeswehr das Grab in Bayern ehrenhalber überflogen.
Ich breche hier ab. Hinter jedem dieser Namen und Daten entfaltet sich die Düsternis weltweit agierender post-nationalsozialistischer Netzwerke mehrerer Jahrzehnte. Diese Männer waren die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aktiv und produktiv, sehr viel länger, als das rassistische NS-Regime in Deutschland währte. Auch vor meinen Recherchen zu den Ertls war ich mir über die Kontinuität von Amtsträgern, Wissenschaftlern und Teilen der kulturellen Elite des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich im Klaren. 1968 verstand ich – wie viele andere – als eine vornehmlich kulturelle, in Teilen auch militante Reaktion auf den Skandal dieser Kontinuität. Was mich an dem, was ich nun las, verstörte, war, dass das Wirken von Barbie, Schwend, Rudel und Co. unmittelbar, brutal und tiefgreifend jahrzehntelang in das Leben von Millionen von Menschen eingewirkt hat, die nur über diese Fernwirkung mit Europa in Verbindung standen. Das ist eine andere Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus als diejenige, die ich bis dahin im Blick gehabt hatte. Wie könnte ich mich der brutalen Arbeit nähern, die die ehemaligen SS-ler und Gestapo-Schergen in den Maschinenräumen und Folterkellern der rechten Diktatoren verrichtet haben? Was bedeutet es für die Zeitgeschichtsschreibung, dass die Langzeitfolgen von Naziwissen und Nazitechniken einen ganzen Kontinent ein halbes Jahrhundert lang geprägt haben? Dass etwa das Folterwissen der Gestapo, gehätschelt im antikommunistischen Kampf der USA, bis in die Achtzigerjahre in Bolivien, Argentinien, Chile, Uruguay weiter perfektioniert wurde?
Hätte ich das alles gewusst, hätte ich im Spätsommer 2019 nicht mehr so gut geschlafen im Hotel Stimmersee.
HELDEN UND HELDINNEN
– Ihre Geschichte ist nicht sehr hoffnungsvoll, eigentlich geht bei Monika Ertl doch alles schief; und die ELN verschwindet bald in der Bedeutungslosigkeit.
– Im Rückblick wirkt das so, aber mir scheint es wichtig, die Hoffnungen von damals nicht vollkommen zu entwerten, nur weil sie nicht den ersehnten Erfolg hatten. Es gab damals massiven Gegenwind, wirklich gewaltsame Gegenmaßnahmen. Und in der Langzeitperspektive betrachtet: Sogar Barbie wurde ja doch noch in den Achtzigerjahren festgenommen und ausgeliefert. Vieles hat Anfang der 1970er begonnen und die Leute in meinem Buch haben es in Gang gesetzt.
– Gibt es denn so was wie eine geheime Heldin oder einen geheimen Helden in ihrer Erzählung?
– Loyola Guzmán wäre zumindest eine Kandidatin, sie war in der ELN und ist bis heute politisch aktiv. Leute wie sie, die aus einer dezidiert linken Perspektive den populistischautoritären Führungsstil von Morales kritisiert haben, sind wichtig für Bolivien. Dass es solche Kritik aus dem Inneren geben kann, beweist, dass die demokratischen Institutionen sich inzwischen doch gefestigt haben.
– Die harten Fraktionskämpfe innerhalb der Linken in Bolivien, wie ich sie selbst seit den 1960er-Jahren erlebt habe, haben es lange Zeit sehr schwer gemacht, die autoritären Regierungen effizient zu bekämpfen. Viele der líderes waren außerdem gezwungen, aus dem Untergrund heraus zu agieren, das fördert nicht unbedingt demokratische Institutionen.
– Loyola Guzmán hat, als sie nicht mehr unmittelbar durch Festnahme bedroht war, das linke Projekt mit Menschenrechtsfragen und demokratiepolitischen Anliegen verknüpft. Das ist charakteristisch für die Frauen in der Bewegung. Sie gilt aber heute, weil sie Evo Morales kritisiert hat, beinahe als Renegatin. Dabei ist sie sehr klar in ihrer Positionierung: links, aber deshalb nicht kritiklos.
– Gibt es auch einen geheimen Helden?
– Nein. Helden gab’s damals mehr als genug, das reicht erst mal.
HITO - HITO (Dokumentarfilm, Hans Ertl, 1958)
Drei Einstellungen:
Monika Ertl, wie sie zuerst frisch gefangene, in der Pfanne gebratene Piranhas an ihren Vater und Burgl Möller verteilt, sich dann breitbeinig hinhockt und, in die Kamera lachend, direkt aus der Pfanne isst. Eine, die sich Raum nimmt, wie ein Junge sitzt und der im Erzählkommentar deshalb besonders weibliche Eigenschaften zugeschrieben werden müssen. Beispielsweise als die Paddel der Kanus getarnt werden müssen: »Monika erledigt das Make-up für die Paddel. Wie alle Frauen malt sie gern.«
Noch einmal Monika Ertl, wie sie mit süffisantem Lächeln giftige Schlangen fängt, mit ihnen vor der Kamera kokettiert, sie am Ende in eine Flasche füllt und mit Alkohol »angießt«, sodass sie unbeschädigt beim Auftraggeber, dem Bronx-Zoo in New York City, ankommen werden. Verführung und Tod, lächelnd für die Kamera vorgeführt. Später, in der Guerilla, nannte sie sich Imilla, Quechua für Mädchen.
Ein Seitenblick diesmal: Im Bild sind zuerst Sirionó-Frauen, die mit Alltagsdingen beschäftigt sind. Sie bearbeiten Nahrungsmittel, kochen, stillen, liegen in der Hängematte, Pfeifchen im Mund. Ein Kameraschwenk: Monika Ertl kämpft mit der Kamera. Sie muss rasch einen neuen Film einlegen. Die Erzählstimme kontrastiert das Glück und die Unbeschwertheit der Sirionó-Frauen mit dem Zivilisationsstress der modernen Kamerafrau.
Würde man Hans Ertls bayrisch gefärbte Erzählstimme weglassen, die die altbekannte Geschichte von der Entfremdung der »Primitiven« von ihrer natürlichen Lebensweise aufgrund der weißen Eindringlinge erzählt, könnte man den Film Hito-Hito sachlich nennen: Relativ lange, monotone Einstellungen, viele Bilder von Kaimanen. Wir folgen einem Kameraauge, das an Strukturen interessiert ist, an Strukturen, die in der Überfülle des Regenwaldes oft nicht leicht auszumachen sind. Überhaupt gibt es viel vergleichendes Sehen in der Wiederholung. Der titelgebende Tanz Hito-Hito ist zweimal gefilmt: einmal im Wald, wo er von unbekleideten Menschen ausgeführt wird, ein Kreis, in dem sich Männer und Frauen rhythmisch bewegen und davon singen, dass sie unbeschwert und glücklich sind. Dann noch einmal, auf einer estancia, einer Farm, auf der die Sirionó-Gruppe temporär Quartier nimmt, um bei der Ernte Geld zu verdienen. Wieder wird getanzt und gesungen, diesmal sind die Tanzenden aus Rücksichtnahme auf die weiße Arbeitgeberin bekleidet. In beiden Fällen aber: ekstatische Gesichter, Gesichter in Erwartung.
Der Film handelt von der Vertreibung aus dem Paradies. Die Sirionó werden als uranfängliche Menschen präsentiert, die, solange sie im Wald leben, unbelastet sind von Zivilisationsstress und Zerstörung. Genau die bringt aber Hans Ertl, in verstörendem Kontrast zur sentimentalen Perspektive auf das demnächst unwiederbringlich Verlorene, persönlich in den Wald. Die erste »Sichtung« einer Sirionó wird mit dem Ausruf »Ein Indianermädchen!« kommentiert, geradeso wie zuvor das Auftauchen von besonders spektakulären Wildtieren. Hans hat schon die Kamera im Anschlag, das eben noch friedvoll badende Mädchen erschrickt und verschwindet scheu im Wald. Ertl inszeniert die Gewalt des Eindringens und spielt sie gleichzeitig herunter: Geschossen wird hier nur mit der Kamera; oder aber, um beim Wettschießen nicht ganz zu versagen, auch mal mit der Flinte. Beim Schießen mit Langbögen kann der zweite Mann im Team, Franz Ressel, mit den Sirionó-Männern nicht mithalten. Ertl schießt dafür mit der Flinte auf eine Dose.
Wie für den ethnografischen Film dieser Zeit typisch, inszeniert Ertl die angebliche medientechnische Überlegenheit des Westens, indem er die Sirionó-Männer dabei filmt, wie sie die Kamera untersuchen, oder indem er Franz Ressel bei der Vorführung mechanischer Spielzeuge zeigt, die bei den Kindern Begeisterung und Erstaunen hervorrufen. Das Staunen der anderen ist der Abstandsmesser zwischen »wir« und »sie«. Die Bilder dienen gleichzeitig der Verstärkung des Effekts einer nostalgischen Identifikation mit den Objekten des Kamerabegehrens: Uns ist es verwehrt, glücklich und nah am Ursprung zu leben, wie es diese »Anderen« tun; und auch für sie wird es bald vorbei sein mit ihrer von der Zivilisation unbeschwerten Existenz. Hans Ertl hat, das ist spürbar, die Sirionó ehrlich bewundert, seine Perspektive ist trotzdem vom ideologischen Apparat kulturrevolutionistischer Vorstellungen von Fortschritt und Primitivität geprägt. Sein Blick auf die Sirionó ist deutlich inspiriert von populären ethnologischen Publikationen, wie etwa Richard N. Wegners Zum Sonnentor durch altes Indianerland, das 1931 erstmals erschien. Es erfuhr 1936, ausladend bebildert, eine Neuauflage, was auf großes Publikumsinteresse schließen lässt. Der deutsche Mediziner und Ethnologe bereiste zwischen 1927 und 1929 das bolivianische Tiefland und schilderte in seiner auf Tagebucheinträge zurückgreifenden Reisebeschreibung verschiedene Sirionó-Gruppen. Bis weit in die 1980er-Jahre waren sie, mit den Mbyá-Guaraní sprachlich und kulturell verwandt, ein ethnologisches Faszinosum. Die spirituelle Durchdrungenheit ihres Alltags und ihre gegen staatliche Zugriffe widerborstige Lebensform sollten noch in den Schriften von Hélène und Pierre Clastres nachhallen. Diese Verknüpfung von indigenem Prophetismus und anarchistisch gestimmter politischer Organisation war schon für Wegner und Ertl interessant. Schon in Wegners Publikation finden sich Fotografien von Männern, die beim Hito-Hito-Tanz ekstatisch die Köpfe verdrehen; auch er thematisiert bereits das wahrscheinliche Verschwinden der Lebensform. Auch er möchte sie retten, indem er Fotografien anfertigt. Und sich als Grabräuber betätigt. Wo auch immer er kann, gräbt er Schädel aus oder raubt sie sogar aus offensichtlich rituellen Arrangements, um sie zu vermessen und rassentheoretische Überlegungen anzustellen. Hans Ertl beerbt diese zupackende, nostalgische Populärethnologie sowohl mit seinem Kamerablick als auch in der Filmnarration.
Aus feministischer Perspektive ist die Inszenierung der Frauen in Hito-Hito ambivalent. Zum einen sind die zwei Expeditionsteilnehmerinnen, wie zu erwarten, mit der sorgenden und häuslichen Seite der Expedition betraut. Neben der Versorgung mit Essen und der Zeltlogistik betrifft das das Verhältnis zu Tieren. Burgl Möller wird vorzugsweise gezeigt, wie sie Störche und Rehkitze aufpäppelt oder Gürteltiere mit Leckereien füttert. Aber sowohl sie als auch Monika Ertl jagen und fischen auch. Und sie müssen schwere körperliche Arbeit erledigen, wie Hans betont: ohne Rücksichtnahme auf das Geschlecht. Aufgrund der Dominanz des Regisseurs als Auge und Stimme des Films bleibt den Akteurinnen nicht viel Spielraum, trotzdem entsteht der Eindruck, dass gerade Monika sich ihren Raum nimmt. Ihre körperliche Präsenz und die Art, wie sie mit der Kamera agiert, sind Aktivposten. Ihr Vater inszeniert sie indessen als Blickfang und Attraktion: Entspannt lächelnd lauscht sie den Fischen, die Franz Ressel vor das Mikrofon hält, exponiert thront sie mit der Kamera auf einem Felsen, mutig steckt sie einem Piranha einen Bleistift zwischen die messerscharfen Zahnreihen, mit cooler Lässigkeit schwingt sie sich auf den abfahrenden Ochsenkarren. Sie gibt das Covergirl für den Film, etwa für die Münchner Illustrierte, die 1958 einen mehrteiligen Bildbericht über die Expedition brachte. Einen geschossenen Truthahn in der Hand, lächelt sie hier mit etwas zu roten Lippen in die Kamera und von der Titelseite. »Ihre Spezialität: Truthahn à la Ertl« titelte die Zeitung. Das Doppeldeutige des Bilds, das Kokettieren mit Unschuld und Tod, Gemütlichkeit und Gewalt entspricht punktgenau dem, wie Monika im Film inszeniert ist. Mädchen à la Ertl also.

PER BAHN IN DEN REGENWALD (2019)
Dass die Zugstrecke überhaupt noch existiert, ist ein kleines Wunder. Denn, wie so häufig in Südamerika, wurden zwar im Zuge der (Agro-)Industrialisierung Schienennetze errichtet, der Eisenbahnverkehr kam in der Petromoderne aber weitgehend zum Erliegen und wurde durch Lkw und Individualverkehr ersetzt. Die Ferroviaria Oriental betreibt heute immerhin über tausend Kilometer Schienennetz für Personen und Gütertransport und hat Anschlüsse zum Eisenbahnnetz von Brasilien, Argentinien und Paraguay. Nicht angebunden ist sie an das andine Eisenbahnsystem. Nur über das Nachbarland Argentinien wäre theoretisch eine Reise ins bolivianische Hochland möglich. Die Trennung von Hoch- und Tiefland ist politisch und symbolisch wirksam und geht sehr weit. Es sind beinahe getrennte Kreisläufe: ökonomisch, politisch und kulturell. Es ist kurz vor Weihnachten 2019 und in den bolivianischen Medien wird über Evo Morales’ Agitation von Argentinien aus berichtet. Man spekuliert, ob er nun dort festgesetzt wird oder nicht. Als ich mit dem Zug durch die kleineren Dörfer zwischen Santa Cruz und San José tuckere, sind die Spuren des Anti-Morales-Wahlkampfes noch überall zu sehen: Gegenkandidaten haben in schreienden Farben ganze Dörfer angemalt. Nicht das Wahlkampfplakat dient hier der Reklame, sondern großflächige Umfärbung von Haus- und Gartenmauern inklusive gemalter Wahlkampfslogans. Ein Dorf, durch das wir fahren, ist komplett grün eingefärbt.
Es macht Spaß, Zug zu fahren. Alle scheinen sich zu freuen, wenn die zwei Triebwagen durchkommen. Von welchem anderen Verkehrsmittel könnte man heute noch behaupten, dass seine Durchfahrt Freude bereitet? Autos, Busse und die hier omnipräsenten Motorräder sind Mittel zum Zweck, Touristenbusse ein notwendiges Übel, riesige Lkws zeugen von der wirtschaftlichen Potenz lokaler Geschäftsleute und internationaler Konzerne. Der Zug hingegen wird winkend begrüßt. Die Betreuung an Bord ist auf die lokalen Vorlieben ausgelegt: Brüllend lauter Latino-Hiphop und dann zwei US-amerikanische Actionfilme, einer ziemlich folterlastig, einer klamaukig. Als die Filme endlich zu Ende sind, die picada (gegrilltes Fleisch zum »picken«) serviert und das Innenlicht aus, fängt es erst richtig an: Der kleine Zug macht die Scheinwerfer an und wir fahren endlos durch den Regenwald. Wie Filmbilder reihen sich die verschwenderischen Baum-Busch-Parasiten-Formationen kurz aufblitzend aneinander. Die Wiesen dazwischen sind von Glühwürmchen erleuchtet. Es ist wie eine Mischung aus Avatar und Arthur C. Doyles The Lost World – also: Jurassic Park –, und als ich am nächsten Tag aus meiner Bleibe trete, blicke ich wirklich auf eine Tafelbergformation. Die Vorstellung, dass sich auf einem solchen Hochplateau ein völlig anderes, anachronistisches Ökosystem erhalten haben könnte, scheint mir nach dieser kinematografischen Anreise plausibel. Warum sollte man sich nicht durch die Zeit bewegen können? Längst hat sich ja die Idee einer einheitlichen, planetarischen Zeit verflüchtigt. Natürlich, ich bin auch hier per Telefon und WLAN an die standardisierte Technozeit angeschlossen. Ich freue mich darüber, dank dieser Technozeitlichkeit mit mir lieben Menschen in Kontakt bleiben zu können. Gleichzeitig wird gerade hier in Chiquitos Eigenzeitlichkeit erfahrbar. Ereignisketten sind – anders als meine Zugfahrt, die der planetarischen Uhrzeittaktung gemäß funktioniert (man sollte nie vergessen, dass die Standardisierung von Zeit unter anderem einem Fahrplanproblem entsprang) – in San José improvisatorisch organisiert: Anfragen kreieren Antworten, wenig ist vorgeplant, alles findet nach einer Wartezeit eine Lösung. Oder auch nicht. Wie auch die in meinen europäischen Augen überbordende Tier- und Pflanzenwelt ein ineinandergreifendes Gefüge von Mikroabläufen vorführt, organisiert sich hier in Teilen das soziale Leben. Warum also nicht Jurassic Park? Plastikdinos habe ich jedenfalls schon gesehen.
SURAZO, VERLORENES FILMMATERIAL
1959/60 drehte Hans Ertl erste Aufnahmen für seinen dritten bolivianischen Dokumentarfilm. Er sollte Surazo heißen, wie der kalte Wind, der aus dem Süden, von Patagonien herkommend, in unregelmäßigen Abständen in die bolivianischen Tropen einfällt und die Temperaturen in kürzester Zeit um zwanzig oder mehr Grad nach unten drückt. Auf meiner ersten Bolivienreise hat er mich in Santa Cruz überrascht. Ich saß bibbernd im Bus nach Concepción, da ich keine passende Kleidung mithatte und auch keine Decke, wie alle anderen. Ertls Film Surazo sollte im Stil von Hito-Hito Tiere und Menschen aus der Region Isoso, südlich von Santa Cruz, dokumentieren. Bei Karin Hissink vom Frobenius-Institut in Frankfurt hatte er Auskünfte zu den indigenen Gruppen im Isoso erbeten, und sie hatte ihn auf dortige Missionare und die einschlägigen Stellen in der Gesamtdarstellung der indigenen Gruppen des Chaco von Alfred Métraux verwiesen. Das belichtete Filmmaterial schaffte es jedoch nicht in die Kinos. Nach etwa der Hälfte des Drehs stürzte Ertls Lkw 1962 beim Überqueren einer Brücke in einen Fluss und das belichtete Material ging verloren. Ertls Filmfirma mit Sitz in Bayern verfügte über keinerlei Reserven und Ertls Bemühungen um finanzielle Unterstützung seitens des Deutschen Innenministeriums blieben erfolglos. Er war auf die weltfremde Idee verfallen, um eine Revision der Entscheidung zur Nichtanerkennung des deutschen Filmpreises für Nanga Parbat und die Nachzahlung der Prämie anzusuchen. Danach zog sich Ertl vom Filmen zurück und stellte auf seiner Farm La Dolorida ein Schild auf: Freistaat Bayern.
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