Kitabı oku: «Kriminologie», sayfa 7

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„Warum platzte über Nacht der Kühler meines Autos? Der Tank war bis an den Rand mit Wasser voll; der Deckel war fest verschlossen; es war kein Anti-Frost-Mittel eingefüllt worden; der Wagen stand im Hof; die Temperatur sank während der Nacht wider Erwarten auf einige Grade unter Null. Dies waren die Antecedensdaten. In Verbindung mit den Gesetzen der Physik – insbesondere dem Gesetz, dass sich das Volumen von Wasser ausdehnt, wenn es gefriert – erklären sie, dass der Kühler geplatzt ist. Mit der Kenntnis der Antecedensdaten [58] und der Gesetze hätten wir das Ereignis mit Sicherheit voraussagen können. Dies ist in der Tat ein gutes Beispiel für eine Erklärung.“118

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Die erklärende retrospektive Annahme, das erhöhte Kriminalitätsvorkommen stehe mit der inzwischen gestiegenen Arbeitslosigkeit in Zusammenhang, lässt sich zwanglos in die prospektive prognostische Aussage umkehren, dass bei weiter steigender Arbeitslosigkeit vermutlich auch die Kriminalität weiter zunehmen werde. Daraus wird die praktische Bedeutung kriminalätiologischer Aussagen deutlich: Eine zureichende Ursachenerklärung gibt die Grundlage für eine Kriminalitätsprognose (→ § 10 Rn 15 ff.) und damit für ein Kriminalitätsvorbeugungsprogramm ab.

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Doch Vorsicht! Wir sollten uns an die vom Kritischen Rationalismus bezeichneten Grenzen erfahrungswissenschaftlicher Realitätserfassung (→ § 3 Rn 13 ff.) und an die insoweit beschränkte Verwertbarkeit von am Erklärungsmodell orientierten empirischen „Sozialdaten“ (→ § 3 Rn 18) für die praktische Kriminalpolitik erinnern, um diesen Gedanken nicht zu überzeichnen. Empirische Belege für theoretische Annahmen über das Zustandekommen, die Entwicklung und die Verbreitung kriminellen Verhaltens können die Kriminalitätsentstehung nicht definitiv „klären“. Empirisch erweisbar ist nur die Widerlegung, nicht die Bestätigung einer Theorieannahme. Die Erfahrungsübereinstimmung einer Hypothese besagt bloß, dass die Vermutung ihrer Wahrheit in den veranstalteten Erfahrungstests nicht entkräftet wurde, die Hypothese also in einem vorläufigen, mit prinzipiellen Irrtumsmöglichkeiten behafteten Sinne als bestätigt anzusehen ist. Kriminalätiologische Aussagen bleiben allemal Wahrscheinlichkeitsannahmen, deren „Wahrheit“ empirisch nicht endgültig beweisbar ist.

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Dem gemäß ist es unmöglich, die „letztlichen“ oder „eigentlichen“ Ursachen der Kriminalität erfahrungswissenschaftlich auszumachen. Kriminalätiologische Theorien können nur Faktoren benennen, deren kausaler Zusammenhang mit kriminellem Verhalten einstweilen mehr oder weniger gut auf kontrollierte Beobachtung gestützt werden kann. Die Feststellung eines solchen Zusammenhanges lässt lediglich die probabilistische Aussage zu, dass bei bestimmten Ausgangsbedingungen die Wahrscheinlichkeit späteren Auftretens bestimmter Kriminalitätsphänomene größer ist als bei Fehlen dieser Ausgangsbedingungen. Nicht hingegen lässt sich daraus ableiten, die Kriminalitätsphänomene seien durch die Ausgangsbedingungen in einem strengen Sinne verursacht. Eine solche unzulässige Verwechslung von Korrelation mit Kausalität liefe auf den induktiven Fehlschluss post hoc, ergo hoc (weil Ereignis X nach Ereignis Y gehäuft auftritt, wurde Ereignis X durch Ereignis Y bewirkt) hinaus.

[59]16

Induktionen – also Schlüsse von erfahrungsgestützten Einzelaussagen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten – sind nicht logisch zwingend. Wenn wir beobachten, dass Schwäne weiß gefiedert sind und Gefängnisinsassen armen und zerrütteten Familien entstammen, neigen wir zu generalisierenden Aussagen wie: Alle Schwäne sind weiß, sämtliche Strafgefangene entstammen armen und zerrütteten Familien. Solche Aussagen bezeichnen nicht Gesetzmäßigkeiten, sondern enthalten bloß einstweilen durch Erfahrung gestützte Hypothesen, die an neu zu gewinnender Erfahrung scheitern können. Mit der Beobachtung eines schwarzen Schwans oder der Feststellung, dass es Strafgefangene aus reichen und intakten Familien gibt, werden die vorläufig bestätigten Hypothesen widerlegt. Stets ist mit der Widerlegung auf Erfahrung beruhender Annahmen über die Kriminalitätsentstehung zu rechnen. Die Suche nach den „eigentlichen“, „letzten“ Kriminalitätsursachen ist deshalb unnütz. Diese Frage zu stellen, hieße, mit Ursachen zu rechnen, die kriminelles – wie überhaupt menschliches – Handeln in einem zwingenden Sinne, nicht nur im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit, determinierten. Richtig verstanden, behaupten kriminalätiologische Theorien deshalb keine zwingende Determiniertheit kriminellen Verhaltens durch bestimmte Ursachen, sondern nur einen einstweilen unwiderlegten statistisch begründbaren Wahrscheinlichkeitszusammenhang von Kriminalität mit bestimmten Einflussfaktoren.

17 Diese Einsicht relativiert die Erklärungskraft ätiologischer Theorien. Die Feststellung bestimmter Zusammenhänge schließt nämlich prinzipiell nicht aus, dass es andere Zusammenhänge im Sinne intervenierender Variablen119 gibt, die nicht geprüft wurden und die unter Umständen vom gewählten theoretischen Ausgangspunkt her gar nicht überprüfbar sind. Die Beobachtung, dass Kinder und Jugendliche mit großen Füssen statistisch über eine höhere Intelligenz als solche mit kleinen Füssen verfügen, lässt keinen Schluss von der Schuhgröße auf die Intelligenz zu, weil dabei das Alter als intervenierende Variable unberücksichtigt bleibt, das sowohl die Schuhgröße wie die Entwicklung der Intelligenz beeinflusst. Erfahrungsgestützte Theorien sind nichts weiter als Orientierungen des Verstandes, welche die freie Assoziation disziplinieren, indem sie diese in eine bestimmte Richtung lenken – und damit von anderen gleichermaßen konsistent verfolgbaren Denkrichtungen entfernen. Nicht die Theorien, sondern nur die mit Hilfe der Theorien erbrachten Erklärungen können wahr oder falsch sein. Erfahrungsgestützte Theorien erweisen sich bei der Anwendung als mehr oder weniger plausibel und brauchbar, um getätigte Wahrnehmungen zu interpretieren und sinnvolle Zusammenhänge zwischen Einzelbeobachtungen herzustellen.

[60]II. Reichweite und Einteilung

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Genau genommen suggeriert der Begriff „Kriminalitätstheorie“ eine falsche Vorstellung. Er weckt die uneinlösbare Erwartung, die Kriminalitätsgenese vermittels konsistenter empirisch überprüfbarer Theorieannahmen adäquat und umfassend darstellen und erklären zu können. Dies ist unmöglich, weil die theoretische Wahrnehmung notwendig perspektivgebunden und eine endliche Menge von Wahrnehmungsperspektiven nicht nachweisbar ist. Je nach gewählter theoretischer Prämisse fallen das Abstraktionsniveau und die Reichweite der zu prüfenden Annahmen sowie die empirischen Prüfmöglichkeiten unterschiedlich aus. Die Unsicherheit bei der Beantwortung der eingangs (→ § 1 Rn 1) gestellten Frage: „Was ist Kriminalität und was ist daran erklärungsbedürftig?“ deutete die Problematik bereits an.

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Wegen der Unterschiede hinsichtlich Fragestellung, Abstraktionsgrad, Erklärungsreichweite und empirischer Prüfmöglichkeit sind die einzelnen Kriminalitätstheorien nicht ohne weiteres vergleichbar. Entgegen des begrifflichen Anscheins wollen und können Kriminalitätstheorien nicht die Kriminalität und die damit assoziierbaren Realphänomene in toto erklären, sondern weisen nur einzelne Zugangswege zu jeweils besonderen Aspekten des Kriminalitätsphänomens. Sie sind Anwendungen bezugswissenschaftlicher (→ § 1 Rn 4) Theorien auf das Problemfeld Kriminalität, von dem aus der gewählten bezugswissenschaftlichen Perspektive immer nur die jeweils fachimmanent zugänglichen Aspekte ins Blickfeld gelangen.

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Da jede Theorie nur bestimmte, ihrem Wahrnehmungshorizont zugängliche, Relevanzstrukturen des Kriminalitätsphänomens berücksichtigt, liegt es nahe, sich um eine Kombination verschiedener Kriminalitätstheorien zu bemühen. Doch ist die Erwartung, dass die einzelnen Theorien in gegenseitiger fruchtbarer Ergänzung ein aussagekräftiges Gesamtbild der Kriminalität und ihrer Bezüge formen würden, wohl nicht einzulösen. Die Theorien liefern eben nicht Teile eines Puzzles, die einfach zusammengelegt werden könnten, sondern gleichsam Stücke mit runden und eckigen Kanten, die nicht ohne Lücken zusammenpassen, und deren unterschiedliche Höhen sich nicht auf die Zweidimensionalität des Puzzlebildes reduzieren lassen.

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Obgleich Kriminalitätstheorien zumindest derzeit nicht zu einer in sich konsistenten Globaltheorie geordnet werden können, bestehen doch zwischen den einzelnen Theorien Zusammenhänge und Abhängigkeiten. Der zunächst naheliegende Eindruck eines beziehungslosen Nebeneinanders von unterschiedlichen Beobachtungsfeldern und -perspektiven täuscht. Dies wird schon dadurch deutlich, dass die verschiedenen Theorien in Konkurrenz zueinander stehen.

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Während vordem eine „Schule“ – oder zumindest die Auseinandersetzung mit ihr – das kriminologische Denken einer Epoche bestimmte, ist im 20. Jahrhundert das [61]Monopol einer epochalen Kriminalitätserklärung gebrochen und hat einem freien Markt vielfältiger Erklärungsangebote Platz gemacht. Obwohl die theoretischen Deutungsmuster je einzeln eine konsistente Kriminalitätserklärung abzugeben beanspruchen, sind sie doch immer nur als Alternative zu konkurrierenden gleichzeitig vertretenen anderen Deutungsmustern zu verstehen. Wie immer überzeugt man von einer bestimmten Kriminalitätserklärung sein mag – das Bewusstsein, dass auch andere Deutungsmöglichkeiten wissenschaftlich vertretbar sind, bleibt allgegenwärtig.

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Die Konkurrenzsituation ist erklärungsbedürftig, scheint doch die Befassung mit dem einen thematischen Aspekt oder Gegenstandsbezug so legitim wie die Behandlung eines anderen. Weshalb zwischen den sich mit kriminellen Individuen befassenden Mikrotheorien und den soziale Strukturen thematisierenden Makrotheorien Brücken bestehen sollen, ist zunächst ebenso wenig einsichtig wie, weshalb den Mikrotheorien vorzuwerfen sei, dass sie die Makroperspektive vernachlässigen und umgekehrt. Indes ergeben sich Zusammenhänge daraus, dass sich einzelne Theorien in ihren Erklärungsansprüchen überschneiden, wobei die empirische Bestätigung der einen Erklärungshypothese die der anderen in Zweifel zieht. So wird die biologische Annahme der kriminellen Veranlagung bestimmter Individuen durch den Nachweis von Einflüssen des sozialen Umfeldes oder der gesellschaftlichen Struktur auf das Kriminalitätsvorkommen irritiert: denn wenn kriminelles Verhalten mit der individuellen Veranlagung zusammenhinge, müsste dieser Zusammenhang in unterschiedlichen sozialen Umfeldern und Strukturen stabil bleiben.

24 Für jede bislang vertretene Kriminalitätstheorie ist charakteristisch, dass sie weder notwendige Bedingungen kriminellen Verhaltens angibt noch, dass die von ihr angegebenen Bedingungen zur Erklärung des Auftretens kriminellen Verhaltens hinreichen. Wieso keineswegs jede Integration in eine deviante Subkultur kriminelles Verhalten auslöst, kriminelle Karrieren trotz gleichbleibend negativer Einflüsse mitunter unvermutet abbrechen, frühkindliche Fehlentwicklungen oder psychopathologische Auffälligkeiten großteils anders als durch Delinquenz kompensiert werden, lässt sich bislang ebenso wenig zulänglich beantworten wie unter welchen Randbedingungen ein Ladendiebstahl anomietheoretisch oder frustrationstheoretisch zu beantworten ist. Die Ableitung prognosetauglicher Aussagen aus kriminalitätstheoretischen Annahmen scheitert an der derzeit unüberwindlichen Schwierigkeit, die Zusatzvoraussetzungen erschöpfend und zugleich hinlänglich präzise zu benennen, welche die behauptete Stringenz der jeweiligen kriminalitätsindizierenden Faktoren erst herstellen.

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Kriminalitätstheorien sind darum bloß Fragmente einer universellen Erklärung der Kriminalitätsgenese, Versatzstücke, die in ihrer Eindimensionalität prinzipiell inadäquat ausfallen. Sie liefern Teilerklärungen bestimmter Phasen der delinquenten [62]Entwicklung, deren Gesamtverlauf einstweilen nicht adäquat darstellbar ist. Deshalb sind sie nicht im (anspruchsvollen) Wortsinne Theorien der Kriminalität, sondern nützliche heuristische Vorstellungshilfen oder modellhafte Ansätze mit je beschränkter Perspektive und Reichweite.

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Diese zurückhaltend-skeptische Einschätzung macht die Beantwortung der kriminalätiologischen Frage nach den Bestimmungsgründen für das Zustandekommen, die Entwicklung und die Verbreitung kriminellen Verhaltens schwieriger denn je. Die meisten von uns werden – mehr oder weniger intuitiv – eine bestimmte Ursachenerklärung anderen vorziehen. Der Glaube an die Abhängigkeit strafbaren Verhaltens von Einflüssen der biologischen Anlage, des sozialen Umfeldes oder der Gesellschaftsstruktur verleitet zur gleichsam statischen Annahme eines strengen Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges, die der Komplexität und Dynamik von Kriminalitätsphänomenen nicht gerecht wird. Eine solche statische Annahme ist verlockend, weil sie eine erschöpfende Erklärung von Kriminalitätsphänomenen behauptet. Der Hinweis, dass eine bestimmte Anlage, ein bestimmtes soziales Umfeld oder eine bestimmte Gesellschaftsstruktur keineswegs zwingend zu kriminellem Verhalten führt, irritiert die um eingängige und endgültige Antworten bemühten Gemüter. Machen wir uns frei von solchen allzu simplen Vorstellungen und seien wir bereit, anzuerkennen, dass die Kriminalitätsentstehung komplexer ist als die um vorschnelle Problemlösungen bemühten eindimensionalen Alltagsvorstellungen.

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Diese Überlegungen sollten nicht im Sinne einer prinzipiellen Unerklärbarkeit der Kriminalität missverstanden werden. Die Behauptung von der Unergründlichkeit der Kriminalitätsentstehung macht aus dieser ein Mysterium, ein unlösbares Rätsel120, dem mit Mitteln des Verstandes nicht beizukommen ist und welches eine vernünftige Kriminalpolitik desavouiert. Wir sollten nicht vorschnell den begrenzten Erkenntnisfortschritt preisgeben, den Kriminalitätstheorien erbringen, sondern aus der Erkenntnis der Begrenztheit dieses Fortschritts die Lehren ziehen. Darauf ist bei der zusammenfassenden Würdigung der Kriminalitätstheorien (→ § 14) zurückzukommen.

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Wir wollen das Theorienspektrum in seiner gesamten thematischen Bandbreite erörtern. Freilich ist angesichts der schier unendlichen Nuancierungsmöglichkeiten keine vollständige, sondern eine typisierende Darstellung angezeigt.121 Die Darstellung folgt einer systematischen Einteilung und nicht stets chronologisch der historischen Entstehung der erörterten Theorien.

29 Drei Typen kriminologischer Theorien können unterschieden werden: Theorien, welche individuelle Merkmale benennen, die die Wahrscheinlichkeit kriminellen [63]Verhaltens erhöhen. Ferner Theorien, welche Strukturmerkmale sozialer Einheiten bezeichnen, die die Häufigkeit und Verteilung des Kriminalitätsvorkommens beeinflussen. Schliesslich Theorien, welche sich mit der Kontrolle der Kriminalität befassen. Individuenbezogene Theorien verwenden biologische, psychologische und psychiatrische Erklärungen. Diese Theorien gehen davon aus, dass die Bereitschaft zur Verübung kriminellen Verhaltens bei manchen Menschen größer als bei anderen ist, unabhängig von der sozialen Situation, in der sich diese befinden. Auf soziale Einheiten bezogene Theorien verwenden soziologische und sozialpsychologische Erklärungen. Diese Theorien nehmen an, dass gewisse ungünstige Beschaffenheiten des sozialen Umfelds mit einem erhöhten Kriminalitätsvorkommen und einer bestimmten Kriminalitätsverteilung zusammenhängen, unabhängig von den Merkmalen der Individuen, die sich in diesem Umfeld befinden. Beide Theorietypen richten sich auf die Erklärung kriminellen Verhaltens, sind also Kriminalitätstheorien. Auf die Kriminalitätskontrolle bezogene Theorien sind zunächst Kriminalisierungstheorien, die sich mit den förmlichen Reaktionen auf Kriminalität und den Verläufen der Reaktionsprozesse befassen. Daneben sind solche Theorien ebenfalls Kriminalitätstheorien, die das Auftreten „sekundärer Devianz“ (→ § 13 Rn 6) aus der Übernahme eines durch Kontrollvorgänge erzeugten kriminellen Selbstbildes bestimmen.

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Zunächst werden individuenbezogene Theorien erläutert, welche um die Aufklärung der individuellen Ursachen des Straffälligwerdens (also ätiologisch) bemüht sind und das deterministische Verhaltenskonzept sowie das Erklärungsmodell zu Grunde legen. Wir werden diesen Theorietyp an Hand von Entwicklungen der Biokriminologie (→ § 7) und psychologischer und psychiatrischer Persönlichkeitskonzepte (→ § 8) darstellen.

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Bei den auf soziale Einheiten bezogenen Theorien werden Abnormitäten mit der Häufigkeit und Art des Kriminalitätsvorkommens in diesen Einheiten in Zusammenhang gebracht. Diese Theorien nehmen an, dass soziale Einheiten verhaltensbestimmend sind, insofern eine Mehrheit der in diesen Einheiten lebenden Individuen den darin bestehenden Verhaltenserwartungen folgen wird. Solche sozialen Einheiten lassen sich auf der Mikroebene des Umfelds des Täters, der Mesoebene sozialer Teilsysteme und der Makroebene gesamtgesellschaftlicher Strukturen lokalisieren. Auch diese Theorien sind (im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit) deterministisch, erklärend und ätiologisch. Wir werden diesen Theorietyp an Beispielen sozialstruktureller Konzepte (→ § 9) und der Sozialisation im sozialen Nahbereich (→ § 10) studieren. Die anschließend zu erörternden Kontrolltheorien (→ § 11) beruhen im Kern auf der Annahme von kriminalitätsbegünstigenden Kontrolldefiziten und lassen sich ebenfalls dem Typ der Kriminalitätserklärung aus Abnormitäten sozialer Einheiten zuordnen. Bei den aktuellen spätmodernen Theorien (→ § 12) ist eine eindeutige Typisierung nicht möglich. Während die ökonomische [64]Kriminalitätstheorie eine von sozialen Einflüssen freie, also indeterministische Verhaltenswahl behauptet (→ § 12 Rn 12 ff.), geht die allgemeine Theorie von Gottfredson und Hirschi (→ § 12 Rn 43 ff.) von einer frühkindlichen, lebenslang erhalten bleibenden Verhaltensprägung durch Bezugspersonen aus.

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Als auf die Kriminalitätskontrolle bezogene Theorie ist der labeling approach (→ § 13 Rn 6 ff.) bekannt. Dieser befasst sich mit den Bedingungen der Vergabe der Eigenschaft „kriminell“ durch den Gesetzgeber und die Instanzen der Strafrechtsanwendung. Um die Verbindung des labeling approach mit dem Verstehensmodell (→ § 2 Rn 11 ff.) deutlich zu machen und die fortwährende Bedeutung dieses Modells auch nach dem inzwischen eingetretenen Bedeutungsverlust des labeling approach zu begründen, wird Kriminalität in den Zusammenhang mit sozialer Interaktion gerückt und das interpretative Paradigma (→ § 13 Rn 1 ff.) als Leitidee präsentiert. Schließlich wird die soziale Konstruktion der Geschlechterrollen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ in der Genderforschung als allgemeiner Deutungsrahmen für das Verständnis der Kriminalitätskontrolle und als Anwendungsbeispiel des interpretativen Paradigmas herausgearbeitet (→ § 9 Rn 33 ff.).

117 Atteslander 2010, 24 ff.; Friedrichs 1990, 94.

118 S. von Wright 1974, 25.

119 Friedrichs 1990, 94.

120 Lange 1970.

121 Weitere Differenzierungen etwa bei Eifler 2002, 59, 69, 72.

§ 7 Entwicklungen der Biokriminologie

Lektüreempfehlung: Wilson, Edward O. (1975): Sociobiology: The New Synthesis. Cambridge.

Nützliche Websites: http://www.geneticsandsociety.org/article.php?id=4713.

1

Biologische Erklärungen besitzen gemeinsame Funktionen: Sie verbinden biologische mit sozialer Abweichung, markieren schwer überwindbare Grenzen zwischen Normalität und sozialer Abweichung, stehen in einem besonderen Näheverhältnis zur staatlichen Strafverfolgung, reproduzieren und legitimieren deren Praxis der Exklusion von Schwer- und Karrierekriminellen und rechtfertigen die Selektivität der Strafverfolgung durch Abgrenzung der „Unverbesserlichen“ von Gelegenheitstätern.122

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Heute ist nur ein Teil der Erklärungen anlagebezogen; andere Erklärungen stützen sich auf biochemische Einflüsse der Umwelt, die durch die Nahrung, die Luft, durch Unfälle oder Krankheiten die Psyche in kriminogener Weise verändern können sollen.123 Die uns heute skurril anmutende Erkennbarkeit der Verbrecherpersönlichkeit [65] an leicht erkennbaren äußerlichen Merkmalen wird nicht mehr vertreten. Vor allem nicht evidente, nur noch der Fachperson durch aufwendige wissenschaftliche Prozeduren erkennbare, zumeist genetische, Merkmale werden in einen Zusammenhang mit Kriminalität gebracht.

3 Zudem wird der bereits von Lombroso als bloß typisch, jedoch nicht zwingend angenommene Zusammenhang zwischen bestimmten Anlagen und Kriminalität weiter gelockert. Der Anlageneinfluss wird nur noch im Sinne einer biologischen Prädisponiertheit und eines Risikofaktors für antisoziales Verhalten verstanden. Schon Lavater hat diese Einsicht weitsichtig formuliert:

„Keiner muss ein Bösewicht aus Anlage werden, aber alle können’s. Die Übeltat kann nicht stehenden Fußes sich dem Schädel einprägen – sowenig so und so ein Schädel diese oder jene Übeltat begehen muss.“124

4 Biosoziale Theorien rechnen mit einem Zusammenwirken von Anlagen- und Umwelteinflüssen. Durch die moderne Soziobiologie125 inspiriert, wird Umwelteinflüssen eine intermediäre, doch prinzipiell nachrangige Bedeutung zugestanden.126 Anstelle einer kurzschlüssigen Verknüpfung von ungünstiger Anlage und Kriminalität nach dem simplen Muster „Böses gebiert Böses“ wird angenommen, dass die biologische Prädisposition bei gegenläufigen Umwelteinflüssen latent bleiben und kompensiert werden kann. Dem entsprechend ist der Begriff der kriminellen Anlage im Sinne einer anlagebedingten Aggressionsbereitschaft bestimmter Menschentypen zu verstehen, deren Entwicklung je nach Umwelteinfluss auch in nicht kriminellen Bahnen verlaufen kann. Ein Beispiel bilden Zwillingsbrüder, von denen der eine die Karriere eines Gewaltverbrechers, der andere die eines Rausschmeißers in einem Nachtlokal einschlägt. Der biologische Genotyp eines Individuums bestimmt die Grenzen seiner möglichen Phänotypen; deren konkrete Gestalt wird freilich durch Umwelteinflüsse konturiert. Bündig ausgedrückt: Die Anlage disponiert Möglichkeiten, welche die Umwelt ausschöpft.

[66]5

Dies bedeutet einen Schritt hin zu einer integrativen Betrachtung der Täterpersönlichkeit (→ § 10 Rn 12 ff.), die mit einem Zusammenwirken von Anlage- und Umwelteinflüssen rechnet. Dem Anliegen der spätmodernen Kontrollgesellschaft entsprechend (→ §§ 21, 22, 24) richtet sich das Interesse weniger auf den Einzelnen und seine Disziplinierung als auf die (möglichst frühe) Prävention.127

I. Zwillings- und Adoptionsforschung

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Wegbereiter biokriminologischer Studien, die auch mit Umwelteinflüssen rechnen, ist die Zwillingsforschung. Sie stellt den Versuch dar, mit Hilfe eines naturgegebenen Experiments den verhaltensbestimmenden Einfluss der (Erb-)Anlage vom Einfluss der Umwelt zu isolieren und die jeweilige Stärke dieser Einflüsse zu prüfen.

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Die Zwillingsforschung macht sich den Umstand zunutze, dass eineiige Zwillinge das gleiche Erbgut aufweisen, zweieiige Zwillinge dagegen – wie Geschwister im Übrigen – erbverschieden sind. Durch Verhaltensvergleiche von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen und sonstigen Geschwistern soll der Anlageneinfluss bei relativ konstant gehaltenen Umweltbedingungen erhoben werden. Eine gehäufte Verhaltensübereinstimmung bei erbgleichen Personen wird als Beleg für die Bedeutung der Anlagen gewertet.

8

Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich dahin zusammenfassen, dass zwar ein gewisser empirischer Zusammenhang zwischen vererbten Eigenschaften und Kriminalität zu bestehen scheint, dieser Zusammenhang freilich eher schwach ausgeprägt ist und desto schwächer ausfällt, je aktueller die Studien und je größer die untersuchten Fallzahlen sind sowie je anspruchsvoller das methodische Design der Untersuchung ist.128

9

Der Beweis, dass kriminelles Verhalten durch die Anlage disponiert wird, lässt sich mit Zwillingsstudien nicht führen. Eineiige Zwillinge verhalten sich womöglich häufiger übereinstimmend, weil sie mehr aneinanderhängen, mehr Zeit miteinander verbringen, öfter Freunde und Hobbys teilen als andere Geschwister. Sie werden vielleicht eher gemeinsam straffällig, weil sie häufiger sonstige gemeinsame Lebensgewohnheiten aufweisen. Vielleicht werden sie auch nur häufiger gemeinsam erwischt, weil sie als „doppelte Lottchen“ eine erhöhte Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder bei Ermittlungen, die sich gegen einen eineiigen Zwilling richten, der [67]Verdacht einer Beteiligung seines Zwillings näherliegt als bei sonstigen Geschwistern. Dafür spricht eine weitere Studie, die Straftaten nicht nach amtlichen Registern, sondern nach anonymem Selbstberichten erhob, aus denen sich keine erhöhte kriminelle Verhaltensübereinstimmung bei eineiigen Zwillingen ergab.129

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Bei der Adoptionsforschung werden Anlage- und Umwelteinfluss durch Vergleich der Kriminalitätsbelastung von Adoptivkindern mit derjenigen ihrer leiblichen Eltern einerseits und ihrer Adoptiveltern andererseits erhoben. Die Verhaltenskonkordanz bei biologischer Verwandtschaft wird als Indiz für genetische Disposition zur Kriminalität, die Konkordanz in der Adoptivbeziehung als Hinweis auf sozialen Einfluss gewertet.

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Auch Adoptionsstudien fallen nicht eindeutig zugunsten vererbter Einflüsse aus. So erbrachte eine breitere und verfeinerte Replikationsstudie deutlich schwächere Indizien für biologische Einflüsse als die ursprüngliche Studie.130 In einer neueren Metaanalyse wurde für den Einfluss von Erbfaktoren lediglich eine mittlere Effektstärke von 0.11 nachgewiesen.131 Demnach gilt auch bei Adoptionsstudien: Je aktueller, je statistisch aussagekräftiger und je methodisch ausgefeilter die Untersuchung, desto stärker nivellieren sich angenommene vererbte Effekte.

12

Wo die Ergebnisse der Adoptionsforschung genetische Effekte zu belegen scheinen, sind die Befunde auch anders verstehbar. Eltern, die ihre Kinder zur Adoption weggeben, sind häufig psychischen und sozialen Belastungen ausgesetzt, die mit Kriminalität einhergehen. Bei den Kindern kann das Adoptionsverhältnis eine erhöhte kriminelle Gefährdung bewirken. Die oft als Trauma erlebte Adoption erschwert die soziale Eingliederung. Adoptionen geht nicht selten ein für die kindliche Entwicklung schädlicher Heimaufenthalt voraus.

II. Genetische Annahmen

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In den 1960er Jahren haben Chromosomenstudien Aufmerksamkeit erregt. Spektakuläre Kriminalfälle, deren Ursache unerfindlich schien, fanden in der Chromosomenanomalie des überführten Täters eine scheinbar befriedigende Erklärung. Die irrtümliche Meldung etwa, dass der achtfache Frauenmörder Richard Speck aus Chicago ein überzähliges Y-Chromosom (XYY-Syndrom) aufgewiesen habe, fand breite Resonanz in der Öffentlichkeit und wurde als Entdeckung des „Mörderchromosoms“ gefeiert.

[68]14

Neuere Untersuchungen lassen diese Annahmen zweifelhaft erscheinen.132 So ist die Anzahl der XYY-Männer unter Strafgefangenen nicht signifikant höher als in der Gesamtbevölkerung.133 Überhaupt scheint ein überzähliges Y-Chromosom mit aggressivem Verhalten in keiner kausalen Verknüpfung zu stehen.134 Amerikanische Studien deuten im Gegenteil trotz gewisser psychischer Auffälligkeiten auf eine verminderte Aggressionsneigung von XYY-Männern hin.135 Eine auslesefreie Untersuchung sämtlicher (31.436) in Kopenhagen in den Jahren 1944 bis 1947 geborener Männer untermauert dies.136 Auch die Überzähligkeit von X-Chromosomen bei Männern (sog. Klinefelter-Syndrom) dürfte entgegen früherer Mutmaßungen in keinem Zusammenhang zur Kriminalität stehen. Die Feststellung erhöhter Häufigkeit dieses Syndroms unter Straffälligen erreicht keine signifikanten Werte; zudem bleibt die Kriminalität von Klinefelter-Männern typischerweise im Lebenslängsschnitt episodenhaft.137

15 In der neuseeländischen Stadt Dunedin wurden alle 1972 und 1973 in demselben Spital geborenen Personen (N = 1037) während 30 Jahren von einem Forscherteam um das Ehepaar Terrie Moffitt und Avshalom Caspi im Hinblick auf während der Kindheit erlittene Misshandlungen und späterem gewalttätigem Verhalten beobachtet. Dabei ergab sich, dass zwar Opfer von Misshandlungen im Kindesalter später zu etwa 50 % eher zu gewalttätigem Verhalten neigen als nicht misshandelte Kinder, diese Beziehung jedoch für die meisten misshandelten Kinder nicht zutrifft. Die Forscher vermuten einen Einfluss eines nur bei Männern vorhandenen Gens, das für die Bildung des Enzyms Monoaminoxidase A (MAOA) verantwortlich ist. Dieses Gen sorgt dafür, dass Aggressivität fördernde Neurotransmitter im Gehirn wie Norepinephrin (NE), Serotonin (5-HT) und Dopamin (DA) deaktiviert werden. Als Knaben misshandelte Männer, bei denen diese hemmende Funktion unzureichend ist (low-activity-Allel), benahmen sich später zu mehr als 80 % antisozial und zu mehr als 30 % gewalttätig. Angenommen wird, dass die genetischen Dispositionen erst durch Misshandlung in der Kindheit „angeschaltet“ würden.138 In den Forschungsberichten werden die Art der erlittenen Misshandlungen und der verübten Gewalt nicht spezifiziert. Einflüsse des Lebensabschnittes zwischen kindlicher Misshandlung und späterer Gewaltausübung bleiben ausgeblendet. So wird aufgrund der festgestellten statistischen Beziehung der Eindruck eines fast zwingenden Zusammenhanges von erlittener und verübter Gewalt bei entsprechender genetischer Ausstattung erzeugt.

[69]III. Hirnforschung

Lektüreempfehlung: Heinemann, Torsten (2014): Gefährliche Gehirne: Verdachtsgewinnung mittels neurobiologischer Risikoanalysen. KrimJ 46, 184-199; Kunz, Karl-Ludwig (2010): Lebenswissenschaft und Biorenaissance in der Kriminologie. In: Böllinger, Lorenz. u. a. (Hrsg.): Gefährliche Menschenbilder. Biowissenschaften, Gesellschaft und Kriminalität. Baden-Baden, 124-137; Maier, Wolfgang; Helmchen, Hanfried; Sass, Henning (2005): Hirnforschung und Menschenbild im 21. Jahrhundert. Der Nervenarzt 76, 543-545; Reemtsma, Jan Philipp (2006): Das Scheinproblem „Willensfreiheit“. Ein Plädoyer für das Ende einer überflüssigen Debatte. Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 60, 193-206; Singer, Wolf (2003): Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt a. M.; Strasser, Peter (2013): Brains and Would-be Brains. Outlines of Neurocriminology. KrimJ 45, 58-68.