Kitabı oku: «Kriminologie», sayfa 6
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In der Mitte des 20. Jahrhunderts interessiert sich die nordamerikanische Kriminologie in einem vorwiegend theoretischen Diskurs für die Prozesse, welche die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität bestimmen (→ § 2 Rn 4). Der labeling approach rückt den Kriminalisierungsprozess und seine Agenten ins Blickfeld (→ § 13 Rn 6 ff.). Seit den 1980er Jahren gewinnen, unter dem gesellschaftspolitischen Vorzeichen des Neoliberalismus, spätmoderne Theorien an Einfluss, die eine soziale Geprägtheit von Kriminalität bestreiten und sich wieder unverblümt den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens zuwenden (→ § 12).
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Neben Forschungen über das Zustandekommen „klassischer“ Kriminalität werden Konzepte zur Erfassung der Kriminalität der Weißen Kragen (white collar crime) entwickelt und dabei die Strategien analysiert, mit denen es den Trägern weißer Kragen gelingt, nicht nur dem strafrechtlichen Kontrollnetz zu entschlüpfen, sondern sogar zu verhindern, dass strafrechtliche Verbote gegen ihr sozialschädliches Verhalten zustande kommen. Landesweit periodisch wiederholte Opferbefragungen haben die Entwicklung einer systematischen Opferforschung (Viktimologie) ermöglicht (→ § 18 Rn 19 ff.). Die Frage, welche Maßnahmen der Kriminalprävention gleichermaßen realisierbar, kostengünstig und erfolgversprechend sind, ist ein nachhaltiges Thema der nordamerikanischen Kriminologie. Die überaus harte Sanktionierungsstrategie in den USA (→ § 21 Rn 11 ff.) ist Gegenstand kritischer Studien. Neuestens steht die verbreitete gesellschaftliche Verunsicherung über kriminelle Ereignisse (→ § 24 Rn 19 ff.) sowie die Prävention besonders „brennender“ Kriminalitätsprobleme in den Bereichen der Straßengewalt (→ § 24 Rn 31), des [46]Drogenhandels, der organisierten Kriminalität (→ § 2 Rn 26) und des Terrorismus im Blickfeld.
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Angesichts all dieser Entwicklungen bildet sich der Eindruck eines komplexen Forschungsrepertoires, das in seiner Reichhaltigkeit, aber auch Disparität weltweit einzigartig ist, ein Sammelbecken sämtlicher aktueller Perspektiven der Kriminologie bildet und als Steinbruch für jegliche kriminalpolitische Argumentation dienen kann. Die Kriminologie in den USA ist weltweit prägend und richtungsweisend. Spätestens mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, der Krise des europäischen Wohlfahrtsstaates und der Homogenisierung der Kulturen im globalen Rahmen werden die USA zur Leitkultur der Weltordnung und damit zum alleinigen Trendsetter auch für die Kriminologie und die Kriminalpolitik.
74 Morus/Campanella/Bacon 1960.
75 Zitiert nach Alff 1989, 85 f.
76 Deimling 1989, 171.
77 Foucault 1976a, 93 ff.
78 Becker 2002, 11 ff.
79 Lavater 1775-1779, 490.
80 Gall/Spurzheim 1809-1812.
81 Garland 2002, 8 f.
82 Quételet 1914; Quételet 1921.
83 Quételet 1914, 104 f., 107.
84 Crews 2009.
85 Debuyst u. a. 2008.
86 Lombroso 1887.
87 Lombroso 1902, 326 f.
88 Kürzinger 1977.
89 Strasser 2005, 47.
90 Goring: The english convict, zitiert nach Vold 1958, 58.
91 Gebhardt/Heinz/Knöbl 1996.
92 von Liszt 1905, 65.
93 von Liszt 1883.
§ 5 Kriminologische Forschungsmethoden
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Als Erfahrungswissenschaft liegt ein Schwerpunkt kriminologischer Forschung neben theoretischen Arbeiten auf der empirischen Forschung. Anders als normative Wissenschaften, wie etwa die Rechtswissenschaft, untersucht die Kriminologie die Lebenswirklichkeit – so unverstellt wie möglich. Dabei sollen in der Theorie entwickelte Annahmen überprüft und/oder weiterentwickelt werden, die sowohl die Entstehung von abweichendem Verhalten als auch die Praxis des Kriminalisierungsprozesses betreffen können. Für diese Forschung greift die Kriminologie auf die Methoden verschiedener Bezugswissenschaften zurück, im Besonderen auf die der empirischen Sozialforschung. Diesen kommt die Aufgabe zu, den Forschungsprozess möglichst frei von unerwünschten Einflüssen zu strukturieren und so allgemein gültige Erkenntnisse zu erlangen.94
I. Grundlagen
2 Innerhalb der Methoden der empirischen Sozialforschung besteht die Wahl zwischen quantitativen und qualitativen Methoden. Quantitative Methoden messen zählbare Eigenschaften und versuchen anhand der Häufigkeit ihres Vorkommens und des Zusammentreffens mit anderen Elementen Aussagen über Kausalzusammenhänge [47] zu treffen. So kann beispielsweise gefragt werden, ob eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit zu einer höheren Gewaltbereitschaft im Erwachsenenalter führen. Für die Aussagekraft solcher Untersuchungen kommt es darauf an, dass eine repräsentative Stichprobe aus der jeweiligen Gesamtheit untersucht wird.
3 Qualitative Methoden der Sozialforschung verfolgen als sinnverstehende, interpretative Herangehensweise eine Perspektive des Verstehens anstelle des Erklärens (→ § 2 Rn 21 f.).95 Dabei bemühen sie sich um ein tieferes Verständnis der sozialen Zusammenhänge im Sinne eines Nachvollziehens.96 Qualitative Methoden wurden aus der Erkenntnis entwickelt, dass quantitative Verfahren im Bemühen um Objektivität sich den Zugang zu einem intersubjektiv gebildeten sozialen Forschungsgegenstand verstellen. Andererseits sind quantitative Verfahren angesichts ihres geplanten Forschungsablaufs der Gefahr ausgesetzt, weniger offensichtliche Umstände und Zusammenhänge, die vom Forschungsdesign nicht erfasst worden sind, im Laufe des Forschungsprozesses zu übersehen und so zu einer selektiven Wahrnehmung zu gelangen.97 Demgegenüber handelt es sich bei qualitativen Methoden oft um naive Verfahren, die bemüht sind, möglichst frühzeitig mit dem praktischen Forschungsprozess zu beginnen, um aus dem empirischen Material heraus das konkrete Vorgehen zu entwickeln. Dies kann die Gefahr bergen, das eigene Vorverständnis unhinterfragt als allgemein gültig zu unterstellen.
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Quantitative Ansätze stehen auch in der kriminologischen Forschung immer noch im Vordergrund, obwohl die Bedeutung qualitativer Methoden hier wie auch allgemein in den Sozialwissenschaften zunimmt. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung und können methodisch gültige empirische Erkenntnisse erbringen. Allerdings sind sie für verschiedene Fragestellungen in unterschiedlichem Maße geeignet.98 Ihre Wahl bleibt von der Weltsicht der Forschenden und der jeweiligen Forschungsintention abhängig.
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Unabhängig von der methodischen Herangehensweise stellt sich weiterhin die Frage, ob die für das Forschungsvorhaben notwendigen Daten selbst erhoben werden sollen (Primärdaten) oder ob bereits für einen anderen Zweck erhobene Daten ausgewertet werden können (Sekundärdaten).99 Wichtige Quellen für Sekundärdaten im Bereich der Kriminologie sind zum einen die amtlichen Statistiken (Polizeiliche Kriminalstatistik, Staatsanwaltschafts-, Strafverfolgungs- und Strafvollzugsstatistik) sowie die durch Strafverfolgungsbehörden angelegten Akten. Außerdem können auch Daten, die für andere Studien erhoben wurden, für weitere Fragestellungen [48] verwendet werden. Auswertungen von Sekundärdaten haben den Vorteil, dass die meist ressourcenintensive eigene Datenerhebung entfällt. Zugleich ergeben sich aus der Verwendung von Sekundärdaten auch Nachteile, da die Erhebung der Daten nicht im Hinblick auf den Forschungszweck erfolgt ist und von partikularen Interessen geleitet sein kann. Generell liefern Sekundärdaten ein durch das spezifische Interesse bei der Datenerhebung und die gewählte Erhebungstechnik verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Insbesondere amtliche Quellen, wie aktenmäßige Erfassungen und Statistiken, betreffen nur das amtlich bekannt gewordene Hellfeld der Kriminalität und dürfen nicht als Abbild der Wirklichkeit verstanden werden (→ § 15 Rn 6).
II. Einzelne Methoden der Datenerhebung
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Für die Erhebung von Primärdaten in kriminologischen Forschungsvorhaben sind aus der empirischen Sozialforschung vor allem die verschiedenen Formen der Befragung, der Beobachtung und des Experiments von Bedeutung. Diese können jeweils quantitativ bzw. qualitativ ausgestaltet werden oder beide Aspekte kombinieren, was als Triangulation oder mixed-method-Forschung bezeichnet wird.100 Die Methodenwahl ist von der angestrebten Erkenntnis abhängig. Besondere Problemstellungen hinsichtlich der Methoden ergeben sich bei der Dunkelfeldforschung, die daher gesondert behandelt wird (→ § 17 Rn 19 ff.).
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Befragungen können in Form von Fragebögen (von den Befragten selbst auszufüllen) oder von Interviews (Befragung durch einen Interviewer) durchgeführt werden. Fragebögen, die online oder in Papierform zur Verfügung gestellt werden, sind das Standardinstrument in vielen quantitativen kriminologischen Forschungen und in sehr unterschiedlicher Form möglich101. Sie sind kostengünstig, weshalb große Stichproben realisierbar sind. Anonymität und die Abwesenheit eines Interviewers ermöglichen auch die Abfrage sensibler Daten, z. B. hinsichtlich eigener Viktimisierungs- oder Tätererfahrung. Allerdings sind bei Befragungen mit Fragebögen die Rücklaufquoten meist niedrig, was die Aussagekraft erheblich einschränken kann. Werden die Befragungen unmittelbar durch einen Interviewer geführt, ist der Anteil abgeschlossener Befragungen deutlich höher und eventuell auftretende Missverständnisse können direkt beseitigt werden.102 Allerdings ist dieses Vorgehen kostenintensiver und mit Möglichkeiten der subjektiv verzerrten Datenerfassung belastet.
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Bei Fragebögen sind die Fragen meist geschlossen formuliert, d.h. mit der Frage wird dem Befragten gleichzeitig eine begrenzte Anzahl möglicher Antworten vorgegeben.103 Auf diesem Weg lassen sich die erhobenen Daten vergleichsweise einfach statistisch und sogar automatisiert auswerten. Im Gegenzug begründet die Vorstrukturierung der Antwortmöglichkeiten durch die Forschenden die Gefahr, dass von diesen übersehene, aber relevante Antwortmöglichkeiten in der Untersuchung nicht erfasst werden.
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Bei Interviews können verschiedene methodische Herangehensweisen unterschieden werden, die zu erheblichen Divergenzen bei den sichtbar gemachten Daten führen. Die Unterschiede bestehen insbesondere in einer unterschiedlich starken Strukturierung der Interviews. Bei strukturierten (standardisierten) Interviews stehen Inhalt, Anzahl und Reihenfolge der Fragen schon vor der Befragung fest. Ein solches Vorgehen dient in der Regel dazu, mit geschlossenen Fragen vor allem quantitativ auswertbare Daten zu erzeugen. Demgegenüber werden freie Interviews mit offenen Fragen für ethnografische und andere qualitative Studien eingesetzt. Dazwischen gibt es zahlreiche Möglichkeiten eines semi-strukturierten Interviews, etwa anhand von Leitfäden, in denen die interviewende Person die Möglichkeit hat, die Interaktion zu beeinflussen und so auch außerhalb der ursprünglichen Fragen liegende Aspekte aufzunehmen, die sich erst im Laufe der Befragung ergeben.104
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Bei jeglicher Form der Befragung ist die Datenerhebung durch das Erinnerungsvermögen der Befragten begrenzt. Dies kann zu Verzerrungen führen, da kürzlich als einschneidend empfundene Erlebnisse und Erfahrungen besser erinnert werden als solche, die als üblich oder bagatellhaft empfunden werden und schon länger zurückliegen.105 Durch die Formulierung der Fragen haben die Forschenden großen Einfluss auf das Antwortverhalten, z. B. durch Suggestivfragen, die Art der Formulierung und die Reihenfolge der Fragen. Dies kann zu einer Beeinflussung der Ergebnisse führen.106
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Eine weitere Methode zur Gewinnung qualitativer Daten sind moderierte Gruppendiskussionen oder focus groups, bei denen Experten oder Akteure eines bestimmten sozialen Feldes über vorgegebene Fragestellungen diskutieren. Die Diskussion zwischen den zumeist sechs bis acht Teilnehmenden wird von diesen selbständig geführt, um eine dynamische Gruppeninteraktion zu erreichen, die möglichst ohne Einmischung der forschenden Personen viele inhaltliche Aspekte zu dem jeweiligen Thema hervorbringt. Der Einsatz von focus groups eignet sich vor [50] allem für explorative Studien, mittels derer ein Überblick über das Forschungsfeld gewonnen werden soll.107
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Die Beobachtung ist überwiegend ein Verfahren zur Gewinnung qualitativer Daten. Sie kann offen oder verdeckt erfolgen, die beobachtende Person kann sich als solche zu erkennen geben oder nicht. Eine weitere Unterscheidung wird vorgenommen zwischen teilnehmenden Beobachtungen, also solchen bei denen der Beobachtende durch bloße Anwesenheit oder aktive Teilnahme Teil des Interaktionsgeschehens ist, und nicht-teilnehmenden Beobachtungen. Während ethnografische Studien auf Grundlage von Beobachtungen im angloamerikanischen Raum häufiger vorkommen, sind sie in der deutschsprachigen kriminologischen Forschung eher selten. Aus der Nähe der Forschenden zum Feld ergibt sich einerseits die Möglichkeit, menschliche Interaktionen direkt und nicht vermittelt über die Aussagen Dritter wahrzunehmen und den nonverbalen Kontext des Verhaltens zu beobachten. Andererseits hat die Anwesenheit von Beobachtenden einen Einfluss auf die Situation, in der sich die Beobachtung vollzieht. Eine neutrale Beobachtung ohne Interaktion mit dem sozialen Beobachteten ist nicht möglich. Dies wird als reaktiver Effekt bezeichnet und kann dazu führen, dass die Probanden ein anderes Verhalten an den Tag legen, als sie dies ohne (offene) Beobachtung tun würden.108
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Bei der Methode des Experiments wird ein Verhalten oder Geschehen untersucht, dessen Bedingungen durch die forschende Person vorab festgelegt sind.109 Das zu untersuchende Geschehen wird dabei unter verschiedenen Bedingungen wiederholt, um so die Abhängigkeit einer Variable von einer anderen festzustellen, z. B. den Einfluss einer Interventionsart auf das generelle Ausmaß an Straffälligkeit.110
III. Ablauf eines Forschungsprojekts
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Eine empirische Untersuchung kann in Konzipierungs-, Durchführungs- und Auswertungsphase eingeteilt werden.111 In der Konzipierungsphase wird festgelegt, was erforscht wird und wie dies passieren soll. Hierfür wird eine Forschungsfrage formuliert und eine Forschungsstrategie entwickelt. Dabei reflektieren die Forschenden idealerweise auch ihre ontologischen und erkenntnistheoretischen Positionen. Ontologische Positionen betreffen die eigenen Vorstellungen über die „Natur“ [51] der Wirklichkeit, erkenntnistheoretische die Frage nach der „Natur“ von Wissen und die Zugänglichkeit der Wirklichkeit. Hierbei lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden: Eine konstruktivistische, die Wirklichkeit als soziales Konstrukt versteht, dass nur subjektiv erfassbar ist und eine positivistische, die die Wirklichkeit als unabhängig existierenden und objektiv erfassbaren Gegenstand auffasst, der erklärt werden kann (→ § 2 Rn 7 ff.).112 Ebenfalls entscheidend sind die eigenen Vorannahmen über den Forschungsgegenstand Kriminalität. Dieser kann eher aus einer ätiologisch-erklärenden Perspektive oder aus einer interaktionistischen Perspektive untersucht werden, wobei bei letzterer die Kriminalisierung das primäre Erkenntnisinteresse ausmacht.
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Auf dieser Basis wird dann das Forschungsdesign entwickelt. Hier ist zu klären, welche Daten mit welchen Methoden wie erhoben und ausgewertet werden sollen, um die jeweilige Fragestellung möglichst optimal zu untersuchen. Dabei kann zwischen Längsschnitt- und Querschnitt-Design unterschieden werden. Bei Längsschnitt-Studien gibt es wiederholte Erhebungen zu mindestens zwei unterschiedlichen Zeitpunkten, um so prozesshafte Entwicklungen nachzuzeichnen. Die wiederholten Erhebungen können entweder bei unterschiedlichen Stichproben (Trenddesign) oder bei ein und derselben Stichprobe erfolgen (Paneldesign). Bei Querschnitt-Forschungen werden hingegen nur einmalig Daten erhoben, so dass keine Aussagen über Veränderungen im Zeitverlauf möglich sind.113
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Generelle theoretische Kategorien und Konzepte wie Kriminalität oder das Klima einer Strafanstalt können mit den beschriebenen Methoden nicht direkt gemessen werden. Sie müssen hierfür operationalisiert, also die Operationen beschrieben werden, die zur Messung des jeweiligen Konzepts erforderlich sind.114 Dies bedeutet, Kriterien zu entwickeln, anhand derer die jeweilige Kategorie bzw. das Konzept mit den gewählten Methoden messbar ist. Um z. B. Kriminalität zu messen, muss festgelegt werden, anhand welcher messbaren Kriterien bestimmt werden soll, was als Kriminalität im Sinne des Forschungsprojektes gilt, beispielsweise ein angezeigter Fall oder ein verurteilter Tatverdächtiger.
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Bei der Datenerhebung muss zunächst über deren Umfang entschieden werden. Dies ist bei quantitativen Methoden von besonderer Relevanz. Da eine Totalerhebung, bei der die interessierenden Aspekte der Wirklichkeit umfassend untersucht werden, nur selten möglich und ökonomisch sinnvoll ist, wird in der Regel eine Teilerhebung vorgenommen. Um z. B. Aussagen über eine Großstadt treffen zu können, müssen nicht all deren Einwohner befragt werden, sondern es genügt die Befragung eines Teils der Bewohner – so genannte Stichprobe –, um Aussagen über die Gesamtbevölkerung der Stadt treffen zu können. Damit aber die Aussagen über [52] die Stichprobe auf die Gesamtheit übertragen werden können, ist es wesentlich, dass die Stichprobe (sample) methodisch korrekt gebildet wird. Idealerweise erfolgt dies in Form einer Zufallsstichprobe und damit in der Weise, dass alle Einheiten der Grundgesamtheit die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, Teil der Stichprobe zu werden.
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Auf die Konzipierung folgt die Durchführungsphase, in der die Datenerhebung vorgenommen wird. In der daran anschließenden Auswertungsphase werden die erhobenen Daten eingehend analysiert und bewertet, um das so gewonnene Wissen mit den Ausgangshypothesen abzugleichen. Dabei lassen sich quantitative Daten statistisch auswerten. Auf diesem Weg sind Aussagen über die Häufigkeitsverteilung bestimmter Merkmale in einer Gruppe oder über Beziehungen (Korrelationen) zwischen zwei oder mehreren Variablen möglich. So kann in einer Studie z. B. untersucht werden, ob die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, gleichmäßig nach Geschlecht, Alter oder ethnischer Zugehörigkeit verteilt ist oder ob zwischen den Variablen Alter und strafrechtliche Registrierung eine Korrelation besteht. Qualitative Verfahren erfordern hingegen andere Auswertungsmethoden, die je nach dem gewählten Forschungsdesign variieren. Neben freieren Formen der Interpretation ist die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring115 mit einer systematischen Vorgehensweise eine häufig genutzte Methode.116
94 Bock 2013, Rn. 52 ff.
95 S. Bohnsack 2014, 13 ff.
96 Dazu Flick 2012, 28 f., 95; Meier 2010, 87.
97 S. Eisenberg 2005, 102.
98 Fuchs/Hofinger/Pilgram 2016.
99 Wincup 2013, 103.
100 Bock 2013, Rn. 74; Neubacher/Oelsner/Schmidt 2013, 675.
101 Wittenberg 2015, 96 ff.
102 Newburn 2013, 950.
103 Wincup 2013, 104.
104 Wincup 2013, 105.
105 Eisenberg 2005, 134 f.
106 Eisenberg 2005, 110.
107 Wincup 2013, 106.
108 Schneider 2007, 226.
109 Eisenberg 2005, 113.
110 Schneider 2007, 219.
111 Schwind 2013, 169 f.
112 Coomber u. a. 2014, 35.
113 Meier 2010, 94 f.
114 Schneider 2007, 231 f.
115 Mayring 2016.
116 Bock 2013, Rn. 84.
[53]2. KAPITEL KRIMINALITÄTS- UND KRIMINALISIERUNGSTHEORIEN
§ 6 Notwendigkeit und Begrenztheit von theoretischen Vorstellungen
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Im 20. Jahrhundert haben sich unterschiedliche Vorstellungen über kriminelles Verhalten, seine fördernden, es stabilisierende oder unterbrechende Einflüsse und – ganz allgemein – über das Bewirken von Kriminalität durch die biologische Anlage, die Gesellschaft und die Kriminalitätskontrolle entwickelt. Dabei steht seit dem Bedeutungsverlust der klassischen Schule die Frage nach den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens im Zentrum.
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Den Vorstellungen ist gemeinsam, dass sie kriminelles Verhalten nach Erklärungsmustern bestimmen, welche für menschliches Handeln überhaupt gelten. Kriminelles Verhalten folgt keinen besonderen Gesetzmäßigkeiten, sondern den allgemeinen Regeln menschlichen Handelns. Ob ich danach frage, warum Menschen kriminell werden, zu übermäßigem Alkoholkonsum neigen oder ihre Partner sozial toleriert demütigen: Die Gründe für all das sind nach einheitlichen Vorstellungen über menschliches Handeln zu bestimmen, welche in der menschlichen Natur, den sozialen Abhängigkeiten oder in sonstigen Einflussfaktoren liegen mögen. Aus der Erklärung krimineller Betätigung nach allgemeinen Verhaltenskonzepten folgt, dass eine Klärung der Zusammenhänge kriminellen Handelns pars pro toto zur Klärung der Zusammenhänge menschlichen Handelns überhaupt beiträgt. Ebendies macht die wissenschaftliche Befassung mit dem Verbrechen von Anbeginn zu einer „Schule der Bildung“ und einer „umfassenden Menschheitswissenschaft“ (→ § 3 Rn 4).
3 Die Divergenzen der unterschiedlichen kriminologischen Schulen jener Zeit rühren daher, dass sie auf der Basis dieser Gemeinsamkeit unterschiedliche Vorstellungen über das Wesen menschlichen Handelns favorisieren. Die vertretenen Handlungsmodelle lassen sich grob danach einteilen, ob ihnen ein deterministisches oder ein indeterministisches Menschenbild zu Grunde liegt. Die Klassische Schule (→ § 4 Rn 4 ff.) vertrat in der Tradition der Aufklärung eine indeterministische Position,[54] die das Individuum als rational und eigenverantwortlich handelnd versteht. Die biologisch-anthropologische Schule (→ § 4 Rn 18 ff.) und die aufkommenden soziologischen, auf das soziale Milieu bzw. die Anomie der gesellschaftlichen Strukturen bezogenen, Erklärungen (→ § 4 Rn 17; § 9 Rn 3 ff.) beruhen hingegen auf einem deterministischen Menschenbild. Dieses erachtet menschliches Verhalten als durch willensunabhängige empirisch benennbare Faktoren im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit kausal determiniert. Aus den jeweiligen Verhaltenskonzepten ergeben sich je unterschiedliche praktische Konsequenzen für die Prävention und die strafrechtliche Intervention.
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Schaubild 2.1: Menschenbilder und Verhaltenskonzepte der frühen Kriminologie
[55]I. Entwicklung kriminologischer Theorien
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Aus der fortschreitenden Differenzierung jener Verhaltenskonzepte entwickeln sich die heute vertretenen theoretischen Zugangswege zur Kriminalität, die wir in der Folge „Kriminalitätstheorien“ nennen wollen. Das deterministische Verhaltenskonzept ist die Basis für die Mehrzahl der bis in die 1980er Jahre entwickelten Kriminalitätstheorien. Ihm entspricht erkenntnistheoretisch das Erklärungsmodell und das Selbstverständnis der Kriminologie als einer vorzugsweise quantitativ vorgehenden, die Ursachen kriminellen Verhaltens empirisch erforschenden Erfahrungswissenschaft (→ § 2 Rn 8 f.). Dem indeterministischen Verhaltenskonzept folgen in Reinform die ökonomische Kriminalitätstheorie (→ § 12 Rn 12 ff.), ferner ansatzweise die Kontrolltheorien (→ § 11) und jene theoretischen Zugangswege zur Kriminalität, welche, wie der symbolische Interaktionismus (→ § 13 Rn 1 ff.), am sinnhaften Verstehen des Handelns interessiert sind und qualitative Methoden bevorzugen (→ § 2 Rn 11 ff.).
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Die Wahl eines bestimmten theoretischen Zugangsweges zur Kriminalität ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, Kriminalität überhaupt wahrnehmen und sinnvolle Aussagen darüber machen zu können. Dies gilt nicht nur für die systematischen Wahrnehmungen der kriminologischen Wissenschaft, sondern bereits für Alltagswahrnehmungen von Kriminalität. Denn jeder soziale Akteur entwickelt routinemäßig für ihn überzeugende schematische Vorstellungen über den Sinn seines eigenen Handelns und dasjenige anderer. Jede Wahrnehmung menschlichen Handelns ist deutungsabhängig und damit theoriegeleitet, mag die Anleitung auch unbewusst geschehen und es sich dabei um eine unüberprüfte Alltagstheorie handeln. Insofern theoriegeleitete Vorstellungen unabdingbar sind, ist es vorzugswürdig, sich die theoretischen Hintergründe der eigenen Vorstellungen bewusst zu machen und sie kritisch zu prüfen, anstatt diese unreflektiert hinzunehmen.
7 Theorien sind gedankliche Operationen zur Erfassung der Wirklichkeit über den wahrgenommenen Einzelfall hinaus. Sie machen Aussagen über die Struktur der Welt, in der wir leben. Sie stellen den Versuch dar, unsere Wahrnehmungen zu ordnen, Erwartungssysteme zu stabilisieren und eine Kontrolle über die Umwelt zu erlangen. Theorien vereinfachen die Komplexität der Wirklichkeit so weit, dass ein Verständnis von Wirkungszusammenhängen möglich wird. Eine wissenschaftliche Theorie will eine Optimierung zwischen Abstraktion und Konkretisierung finden: Sie will einerseits durch Reduktion der Komplexität der Wirklichkeit deren Begreifbarkeit, Kommunizierbarkeit und systematische Überprüfbarkeit ermöglichen. Andererseits will sie die Wirklichkeit in ihrer Komplexität so weit erhellen, dass die jeweils interessierende Fragestellung möglichst reich an Eindrücken „wirklichkeitsverankert“ und „wirklichkeitsgesättigt“ beantwortet werden kann. Während Theorien, die sich quantitativer Verfahren bedienen, starkes Gewicht auf die Reduktion[56] der Komplexität von Wirklichkeit legen, sind Theorien, welche qualitative Verfahren benutzen (→ § 2 Rn 11 ff.; § 5 Rn 2 ff.), um eine möglichst gegenstandsadäquate Wahrnehmung der Wirklichkeit bemüht.
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Der erste Versuch einer Synthese verschiedener theoretischer Zugangswege zur Kriminalität erfolgte durch den Vereinigungsgedanken von Liszts. Kennzeichnend dafür war das Bemühen, den Anlage-Umwelt-Streit in einem pragmatischen Sowohl-als-auch aufzulösen (→ § 4 Rn 24 ff.), das keiner bestimmten theoretischen Vorstellung verpflichtet war, sondern sich allein von dem praktischen Anliegen leiten ließ, aus der Erkenntnis der Ursachen des Verbrechens Ratschläge für seine Verhütung und die Besserung von Kriminellen zu entwickeln. Unabhängig von jenem historischen Beispiel sind Zweifel anzumelden, ob es überhaupt möglich ist, verschiedene theoretische Zugangswege zur Kriminalität ohne die Entwicklung eines diese Theorien überspannenden gemeinsamen theoretischen Dachs („Metatheorie“) zu bündeln. Dieses Problem wird uns bei der heutigen Version des Vereinigungsgedankens, dem multifaktoriellen Ansatz (→ § 10 Rn 12 ff.), noch beschäftigen.
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Vorerst sei Skepsis angedeutet: Die Vorstellung eines kriminologischen Gemischtwarenladens, der seine Regale gemäß der Nachfrage der Verbraucher in Kriminaljustiz und -politik kundenfreundlich einrichtet und darauf „Erkenntnisse“ beliebiger theoretischer Herkunft stapelt, entspricht dem Verwertungszusammenhang der Bedarfsforschung (→ § 1 Rn 9), entbehrt jedoch des von uns als unabdingbar angesehenen theoretischen Zugangs. Infolgedessen kann jeder Verbraucher in Kriminaljustiz und -politik sich nach seinen unüberprüften und zumeist unbewussten alltagstheoretischen Vorstellungen bedienen. Der Gemischtwarenladen ist unwillentlich und unkontrolliert mit der Summe der alltagstheoretischen Vorstellungen derer befrachtet, die „Erkenntnisse“ aus ihm beziehen.
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Die Annahme, es gebe viele verschiedenartige Kriminalitätsursachen, lässt offen, worin diese konkret bestehen und in welchem Ausmaß sie jeweils für die Entstehung von Kriminalität verantwortlich sind. Um den Vereinigungsgedanken in einem theoretisch anspruchsvollen Sinne formulieren zu können, müsste man die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Entstehung von Kriminalität kennen und wissen, welchen Anteil sie jeweils besitzen. Sogar der als solcher theoretisch anspruchslose Vereinigungsgedanke ist auf theoriegeleitete Annahmen angewiesen, weil eine zureichende Kriminalitätserklärung nicht ohne die zumindest implizite und heuristische Festlegung auf bestimmte theoretische Prämissen auskommt. Auch das induktive Sammeln von vermeintlich mit Kriminalität zusammenhängenden Fakten beruht auf theoretischen Vorentscheidungen, durch welche die Faktenauswahl eingegrenzt und strukturiert wird. Der Verzicht auf eine bewusste theoretische Orientierung bewirkt keine Theorieabstinenz, sondern bloß die ungeprüfte Übernahme spekulativer Alltagstheorien.
[57]11 Diese Einsicht hat im 20. Jahrhundert zur Ausbildung verschiedener Kriminalitätstheorien geführt, die – jede in sich schlüssig – aus einer jeweiligen bezugswissenschaftlichen Perspektive (→ § 1 Rn 4) eine bestimmte Wahrnehmung von Kriminalität vermitteln – und damit jeweils in ihrer Aussagekraft begrenzt bleiben. Die meisten aktuellen Theorien studieren Kriminalität als eine besondere Form menschlichen Verhaltens und nehmen an, dieses Verhalten sei mit einer empirisch belegbaren Wahrscheinlichkeit von vorgegebenen Umständen der Biologie oder der Psyche des Individuums oder von dessen sozialer Umgebung abhängig. Die Annahme einer solchen Abhängigkeit im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsbeziehung charakterisiert die Theorien als deterministisch (→ § 3 Rn 18, § 4 Rn 13 f.). Durch die Prüfung und Bestätigung dieser Wahrscheinlichkeitsdetermination in Erfahrungstests wird das kriminelle Verhalten aus seiner Abhängigkeit von den es beeinflussenden Faktoren erklärt. Diese Erklärung ist ätiologisch (Ätiologie = Ursachenforschung), insofern sie Ursachen der Kriminalitätsentstehung und -verbreitung benennt.
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Erklären (→ § 2 Rn 8 f.) meint, beobachtete Regelmäßigkeiten von Ereignissen und die kausalen Beziehungen zwischen ihnen einer Theorie zuzuordnen. So könnte die Beobachtung, dass heute in X-land trotz gleicher Einwohnerzahl mehr Straftaten registriert werden als vor 10 Jahren, mit der inzwischen gestiegenen Arbeitslosigkeit zusammenhängen. Bei der Erklärung wird zunächst eine Aussage („Registrierte Kriminalität hängt mit gemeldeter Arbeitslosigkeit zusammen“) aufgestellt, die einen solchen Zusammenhang behauptet und empirisch überprüfbar ist (durch Vergleich der Registrierungen von Kriminalität und der Arbeitslosigkeit heute mit den Daten von vor zehn Jahren). Diese Aussage wird als Hypothese bezeichnet. Die Hypothese formuliert eine Beziehung (Grund-Folge-Relation) zwischen dem Effekt Kriminalität und den diesen Effekt mutmaßlich bedingenden davon unabhängig existierenden Faktoren. Die bedingenden Faktoren werden unabhängige Variablen, der dadurch bewirkte Effekt abhängige Variable genannt. Dann wird mit empirischen Forschungsmethoden überprüft, ob die Hypothese mit der sozialen Wirklichkeit übereinstimmt.117