Kitabı oku: «Waldröschen III. Matavese, der Fürst des Felsens. Teil 1», sayfa 6
8. Kapitel
Es war noch im Winter, aber trotzdem sehr mildes Wetter. Zur Mittagszeit konnte man glauben, sich mitten im Mai zu befinden, und die Abende glichen jenen elegischen Oktoberabenden, die fast noch schöner sind, als die Abende des Frühlings.
Daher war es kein Wunder, daß auf allen Höhen und Gebirgen der Schnee verschwand; er verwandelte sich in Wasser, das alle Ströme, Flüsse, Seen und Bäche füllte. Der warme Sonnenstrahl lockte die Feuchtigkeit wieder empor, und so entstanden feuchte Niederschläge, die in Form von anhaltendem Regen wieder zur Erde fielen.
Dadurch wuchsen die Fluten, und alle Zeitungen berichteten von Überschwemmungen, die in ungeahnter Rapidität zu einer Höhe wuchsen, die man seit Menschengedenken nicht beobachtet hatte. Ganze Täler wurden überschwemmt, ganze Ortschaften fortgerissen. Der Verkehr stockte, denn die Flut bedeckte die Straßen und riß die Bahndämme ein.
Auch die sonst so ruhige Nahe, die bei Bingen in die linke Seite des Rheins mündet, brachte eine Wassermasse, für die ihr Bett lange, lange nicht tief und breit genug war. Die Fluten glichen den Wogen eines großen Stromes. Sie hatten die Straße überstiegen und leckten gierig am Damm der Bahn, die Bingerbrück über Neunkirchen, Saarbrücken, Forbach, Metz und Nancy mit Paris verbindet.
Die Bahnbeamten hatten Befehl erhalten, ganz außerordentlich aufmerksam zu sein, und ein jeder Bahnwärter mußte seine Strecke zwischen den einzelnen Zügen ganz genau untersuchen.
Zwischen Bingerbrück und Langenlonsheim stand ein Bahnhäuschen, dessen Inhaber heute Besuch hatte. Der Forstgehilfe Ludwig aus Rheinswalden war ein Vetter des Bahnwärters, hatte gestern einen kleinen Sprößling desselben aus der Taufe gehoben und befand sich auch heute noch hier, um seinen Urlaub tüchtig auszunützen.
Er saß mit der Familie am Tisch. Man hatte das Abendbrot gegessen; es hatte neun geschlagen, und in nicht ganz einer halben Stunde mußte der Eilzug vorüberkommen, der um fünf Uhr von Metz abgeht.
»Sieht es bei euch in Rheinswalden auch so traurig aus?« fragte der Wärter. – »Nein, Gevatter«, antwortete Ludwig. »Wir liegen dahier nicht so nahe am Rhein, daß uns das Wasser packen könnte.«
Man sieht, daß der gute Ludwig sein liebes »Dahier« auch in der Fremde nicht vergaß.
»Und es geht bei euch alles gut?« fragte der Wärter weiter. – »Es geht uns allen wohl. Der Oberförster flucht immer noch wie vorher, und die gute Frau Sternau ist mit Fräulein Helene lieb und gut wie immer; auch ist der Steuermann Helmers noch da, und sein Junge – der Tausendsapperment, aus dem wird einmal was Tüchtiges werden, er ist aber auch in tüchtigen Händen.« – »Du bist noch immer sein Lehrmeister?« – »Versteht sich!« meinte der Forstgehilfe mit Selbstgefühl. – »Und die Gäste?« – »Du, da wird‘s dahier wohl bald eine Hochzeit geben. Ich gönne das unserem guten Herrn Sternau recht von Herzen.« – »Donnerwetter, macht der da eine Partie!« – »Ja, sie ist eine Gräfin dahier.« – »Und noch dazu eine spanische! Sagtest du nicht früher einmal, daß es ihr im Kopf gerappelt hätte?« – »Gerappelt? Dummes Zeug! Unter Rappeln verstehe ich verrückt sein. Das ist sie aber gar nicht gewesen.« – »Aber es hieß doch überall, daß sie geisteskrank wäre?« – »Gevatter, du bist ein Schafskopf dahier. Ja, ein Schafskopf. Unsere gute, liebe Gräfin verrückt zu heißen! Da hört doch alles und Verschiedenes auf dahier. Spanisch ist sie gewesen, reineweg spanisch, aber doch nicht verrückt. Sie haben ihr etwas eingegeben, daß sie wahnsinnig ward. Und was ist das gewesen, he Gevatter?« – »Ja, das weiß doch ich nicht!« antwortete der Bahnwärter ganz verblüfft. – »Na, was denn weiter als eine spanische Fliege dahier!« »Eine spa – a… Oh!« sagte der Wärter, indem er vor Verwunderung den Mund sperrangelweit öffnete. – »Ja, eine spanische Fliege.« – »Wird man denn da wahnsinnig?« – »Versteht sich. Hast du schon einmal eine solche spanische Fliege gesehen?« – »Das ist ein Pflaster.« – »Dummheit, Gevatter. Eine spanische Fliege ist eine Fliege, aus der erst das Pflaster gemacht wird dahier. Eine spanische Fliege ist nicht etwa wie eine deutsche Fliege. Sie hat Flügel gerade so groß wie die Hügel einer Gans.« – »Sapperment, muß die aber summsen!« – »Ja. Sechs Beine hat sie, so groß wie Storchbeine.« – »Himmelelement!« – »Ja; ich als Jäger muß das wissen.« – »Hast du schon mal eine geschossen?« – »Nein, aber beinahe. Ihr Kopf ist halb wie ein Pferde- und halb wie ein Krötenkopf, und einen Leib hat sie dahier, gerade wie eine große Stachelsau.« – »Himmelelement!« – »Ja. Der Schwanz klappert wie bei einer Klapperschlange, und ernähren tut sie sich nur von Leichen und Weintrauben.« – »Darum ist sie so giftig!« – »Ja, Leichen und Weintrauben zusammen, das gibt das schrecklichste Gift dahier. Ein einziger Tropfen Blut von so einer Fliege in eine Netzkanne voll Wasser getan, Leinwand hinein und wieder ausgequetscht, das gibt unser spanisches Fliegenpflaster.« – »Darum zieht das Zeug so.« – »Ja. Ist‘s da ein Wunder, wenn man konfus wird, wenn man so eine ganze spanische Fliege einnehmen muß?« – »Eine ganze – mit den Flügeln und den Beinen, sowie mit dem Kopf und dem Schwanz?« – »Ja.« – »Donnerwetter, da dauert mich eure Gräfin!« – »Natürlich! Sie hätte auch sterben müssen dahier, wenn unser Doktor Sternau nicht gewesen wäre. Der hat sich das mit der spanischen Fliege natürlich gleich gedacht.« – »Wie hat er sie denn rausgebracht?« – »Das weiß ich nicht dahier.« – »Ich denke, du warst mit dabei?« – »In der Krankenstube nicht« – »Und die Fliege, hast du sie denn nachher gesehen?« – »Nein. Ich glaube, sie haben sie in Spiritus gesetzt dahier, aber sie zeigen sie keinem Menschen. Es soll kein schöner Anblick sein.« – »Hm«, sagte der Bahnwärter kopfschüttelnd, »was doch in der Welt alles vorkommt! Unsereiner ist doch noch recht dumm.« – »Richtig.« – »Ich hatte mir eine spanische Fliege ganz anders vorgestellt« – »So geht es, wenn man kein Jäger ist« – »Ja, ihr seht mehr als andere Leute und habt viele Bücher. Bei uns gibt es bloß das Gesangbuch und die Instruktion.« – »Eure Instruktion mag der Teufel holen!« – »Hm, sag das nicht so laut. Recht hast du. Sieh, in zwei Minuten kommt der Eilzug. Ich muß hinaus. Gehst du mit?« – »Ja.«
Es war bereits das Zeichen gegeben, daß der Zug in Langenlonsheim abgegangen sei. Der Bahnwärter nahm daher seine Laterne und ging mit dem Gast hinaus, wo die Frau des Wärters stand, die das Signal besorgt hatte.
In kurzer Zeit hörte man das donnernde Rollen des Zuges, darauf sah man die beiden Lichter der Lokomotive, und nun brauste der Zug vorüber, wobei der Wärter das Zeichen gab, daß alles in Ordnung sei.
»Der wahre Teufel, so eine Lokomotive!« sagte Ludwig. – »Schon mehr feuerspeiender Drache«, fügte der Wärter hinzu. »Ich möchte wissen, was vor hundert Jahren die Leute gedacht hätten, wenn so ein Ding vorübergesaust wäre.« – »Sie wären vor Schreck rein übergeschnappt.« – »Gerade wie von der spanischen Fliege. Aber jetzt muß ich meine Strecke revidieren. Weiter unten steht das Wasser am Damm.« – »Ich gehe mit.«
Sie schritten miteinander in die Dunkelheit hinein. Die Bahnstrecke, auf der sie sich befanden, wurde nur von dem Licht der kleinen Laterne erleuchtet, die der Wärter bei sich trug. Von der Seite her hörte man das Rauschen der Flut, und aus der Nähe erklang das bedenklich Gurgeln und Glucksen des Wassers, das den Damm bedrohte. Der Wärter ging sehr vorsichtig und sorgfältig zu Werke. Nach einer halben Viertelstunde hatte er diesen Teil seiner Strecke absolviert, und da nahte auch das Licht seines Nachbarkollegen, der ihm entgegenkam.
»Guten Abend!« grüßte derselbe, als er herangekommen war. – »Guten Abend!« dankten die beiden. – »Ah, der Herr Pate ist noch mit da?«
Da er auf dem gestrigen Tauffest mitgewesen war, so kannte er den Forstgehilfen.
»Ja«, antwortete dieser. »Hören Sie die Flut? Hier scheint es gefährlicher zu werden, als droben bei meinem Gevatter.« – »Allerdings; aber ich habe noch keine Angst. Das Wasser steht zwar am Damm, aber die Strecke ist gut gebaut, und solange drüben am Fluß der Damm noch hält, solange sind wir hier auch sicher.«
Die Männer trennten sich und schritten nun rasch wieder zurück, denn es ertönte soeben das Signal, daß der dem Eilzug in einer Viertelstunde folgende Personenzug in Langenlonsheim abgehe. Sie kamen gerade zur rechten Zeit an das Häuschen, um den Zug kommen zu sehen. Er kam ganz mit derselben Geschwindigkeit wie der Eilzug.
Sie standen an der Bahn, und der Wärter gab ganz wie vorher das Zeichen, daß alles in Ordnung sei. Doch noch war der Zug im Vorübersausen, als sich von fernher ein Geräusch vernehmen ließ, das selbst das Rollen des Zuges übertönte. Es war ein eigentümliches Geräusch, fast ein Brüllen zu nennen, unter dem die Erde bebte, und dieses Beben unterschied sich ganz genau von dem Zittern, das durch den Zug veranlaßt wurde.
»Herrgott, was ist das?« fragte der Wärter. – »Ein Erdbeben«, antwortete Ludwig. – »Nein, nein, das ist kein Erdbeben; der Damm, der Damm ist geborsten, ganz gewiß!« – »So ist der Zug verloren!« – »Vielleicht noch nicht, wenn er glücklich vor der Flut vorüberkommt. Frau, Laternen her! Fort, fort! Wir müssen sehen, wie es steht!«
So rief der brave Mann. Die Frau kam mit einer Laterne herbei, und eben setzten sie sich in Bewegung, als von weit unten herauf ein Krach erscholl, als sei die Erde geborsten und habe alles in ihren dunklen Schlund hinabgerissen.
»Das ist‘s! Das war‘s!« rief der Wärter, indem er mit doppelter Schnelligkeit vorwärts strebte. – »Der Zug verunglückt?« fragte der Forstgehilfe. – »Ja, ganz gewiß.« – »So macht um Gottes willen rasch!« – »Frau, renne zurück und hole Leinwand und was sonst zum Verbinden nötig ist.«
Sie gehorchte in fliegender Eile der Aufforderung, während die beiden Männer mit den Laternen weiterrannten.
Sie waren eine Wegstrecke von wohl einer Viertelstunde vorwärts gekommen und befanden sich längst auf dem Gebiet des Nachbars des Bahnwärters, als sie entsetzt halten blieben. Vor sich hörten sie ein wirres Schreien und Rufen, während ein dumpfes Tosen und Donnern zu ihnen drang, das nur von dem Wasser herrühren konnte, welches das Ufer und dann den Bahndamm durchbrochen hatte.
»Weiter, weiter!« rief der Wärter.
Da, da endlich standen sie an der Stelle.
Der Bahndamm war wirklich durchbrochen. Die Lokomotive war in den Riß hinabgestürzt und hatte sich jenseits desselben in die Erde hineingewühlt. Die vordersten Wagen waren ihr gefolgt die hinteren aber hatten nicht mit hinab gekonnt. Im Zusammenprall waren sie teils zertrümmert, teils umgeworfen worden, und nur die allerletzten standen noch aufrecht auf den Schienen.
Der Zug war ein gemischter, und es war ein Glück, daß sich die Güterwagen vorn, die Personenwagen aber hinten befunden hatten.
Die Passagiere, die in den unversehrten Waggons gesessen hatten, waren ausgestiegen, um den Stand der Dinge zu untersuchen. Sie hatten die Wagenlampen genommen und leuchteten über die Unglücksstätte hin. Jetzt kam der Wärter mit dem Jägerburschen dazu, auch der andere war bereits da.
»Ist es schlimm?« fragte der erstere. – »Sehr. Drei Personenwagen zertrümmert zwei umgeworfen und zwei nebst dem Postwagen unversehrt«, antwortete der letztere. »Das andere liegt alles im Wasser.«
Man suchte an Menschenleben zu retten, was zu retten war; aber das war nicht viel. Diejenigen, die in den zertrümmerten Wagen gesessen hatten, waren zermalmt worden, der Maschinist, der Heizer, die Bremser, sie waren tot. Alle, die sich in den umgestürzten Waggons befunden hatten, waren mehr oder weniger, meist aber schauderhaft verletzt. Man suchte ihre Körper in das Freie zu bringen. Zu dem, was im Wasser lag, konnte man nicht kommen, da die Flut zu reißend war, als daß Menschenkräfte hier etwas vermocht hätten.
Da kam die Frau des Wärters und brachte Verbandszeug.
»Spring zurück und gib das Zeichen, damit Hilfe kommt!« gebot ihr Mann.
Auch der jenseitige Bahnwärter kam jetzt. Das Unglück war hart an seiner Grenze geschehen; er hatte sofort gewußt, woran er war, und seinerseits bereits das Signal nach Bingerbrück gegeben.
Es wurde jetzt nicht gefragt, wer Schuld sei; an diese Frage zu denken, hatte kein Mensch die Zeit; man bemühte sich nur, zu retten und zu bergen, was möglich war.
Ein junger Mann in der Livree eines Bedienten machte sich an einem der umgestürzten Waggons zu schaffen.
»Hier ist es, mein Herr«, sagte er zu einem der unverletzten Passagiere, der mit ihm ein und dasselbe Kupee innegehabt hatte und ihm nun behilflich war. – »Ist es das richtige Kupee?« fragte dieser. – »Ja.« – »Das Fenster ist zertrümmert. Öffnen wir die Tür.«
Sie taten es, und es ertönte ihnen ein erschütterndes Ächzen und Stöhnen entgegen. Der Bahnwärter trat mit seiner Laterne heran und leuchtete hinein.
»Drei Passagiere!« sagte er. – »Alle tot?« rief der Diener. – »Nein. Sie hören ja das Ächzen.« – »Ich denke, es kommt aus dem Nachbarkupee. Da liegt mein Herr; heraus mit ihm.«
Der Diener faßte eine der drei Personen behutsam an und hob sie heraus. Als er sie langgestreckt auf die Erde legte, sah man, daß der Verletzte sehr fein gekleidet war; aus diesem Umstand und dem weiteren, daß er einen Diener hatte und in einem Kupee erster Klasse fuhr, konnte man schließen, daß er ein Herr von Distinktion sei.
»Und hier ist auch sein Koffer«, sagte der Diener, indem er ein kleines, feines Handköfferchen zum Vorschein brachte. – »Nun auch noch die beiden anderen«, mahnte der Wärter.
Ludwig war hinzugetreten und half. Es stellte sich heraus, daß der eine von ihnen tot und der andere innerlich schwer verletzt war. Der Herr des Dieners befand sich in einer tiefen Ohnmacht, aus der er erst erwachte, als der Diener ihm die Glieder bewegte, um zu sehen, ob er verletzt sei. Er schlug die Augen auf und stieß einen Ruf des Schmerzes aus.
»Oh!« sagte er. »Hier nicht!« – »Der Arm ist gebrochen«, meinte der Diener.
Er probierte weiter, und es fand sich, daß sonst nichts verletzt sei.
Mittlerweile war von den Nachbarstationen Hilfe angelangt Auch einige Ärzte waren gekommen. Als einer derselben den fremden Herrn untersuchte, erklärte er, daß der Arm zweimal gebrochen sei.
»Wer ist der Herr?« fragte er.
Der Fremde war während der Untersuchung in eine neue Ohnmacht gefallen. Der Diener antwortete:
»Marchese d‘Acrozza, ein Italiener.« – »Wünschen Sie, daß ich für ihn sorge?« – »Ich bitte darum.« – »Sie sind sein Diener?« – »Ja.« – »Sehen Sie jene Lichter da drüben?«
Der Arzt deutete in das Dunkel des Abends hinein; man erblickte aus weiter Ferne den Schein einiger Lichter.
»Ja«, antwortete der Diener. – »Das ist das Dorf Genheim. Ich kenne den Lehrer dort Er wird den Herrn Marchese recht gern aufnehmen.« – »Wer soll ihn benachrichtigen?« – »Sie.« – »Ich weiß keinen Weg und bin dem Herrn vielleicht sehr nötig.« – »Ihr Herr braucht Sie jetzt nicht und wir anderen sind hier nötiger als Sie. Getrauen Sie sich, durch das Wasser zu kommen?« – »Weiter unten, ja.« – »So gehen Sie. Sie brauchen nur die Lichter fest im Auge zu behalten.«
Gerard Mason, denn dieser war der Diener, glitt von der Böschung des Bahndamms hinab und schritt dann vorsichtig an dem sich hier weit ausbreitenden Wasser hin. Er kam nur langsam vorwärts, und daher war er hocherfreut als er Stimmen hörte, die sich ihm näherten. Er rief.
»Holla!« antwortete es ihm. »Wer ruft?« – »Ein Fremder. Kommen Sie näher.«
In kurzer Zeit standen mehrere Männer vor Gerard, die Decken und Tragbahren trugen.
»Wir hörten ein Krachen und Prasseln«, sagte ihr Anführer. Der Zug ist verunglückt, wie wir vermuteten. Wir sind sofort aufgebrochen, und hinter uns kommen noch andere, sie sind aus Genheim.« – »Ah, das ist gut; dahin wollte ich.« – »Zu wem?« – »Zum Lehrer.« – »Das paßt; der bin ich.« – »Ah, das trifft sich glücklich. Einer der Ärzte, die sich an der Unglücksstätte befinden, sendet mich zu Ihnen. Mein Herr, der Marchese d‘Acrozza, gehört zu den Verunglückten, er hat einen Doppelbruch am Arm, und der Arzt meinte, daß Sie vielleicht die Güte haben würden, ihn bei sich aufzunehmen.« – »Das versteht sich ganz von selbst. Aber ein Marchese …?« – »Das ist er.« – »Wird er mit einem armen Dorflehrer vorliebnehmen?« – »Oh, gewiß.« – »Und Sie werden auch bei ihm sein?« – »Ich wünsche es.« – »Nun, so wollen wir sehen, ob sich Platz schaffen läßt. Kehren Sie also wieder um.«
Der Lehrer schien ein sehr resoluter Mann zu sein. Er schritt voran und trat, als sie an der Unglücksstätte ankamen, zu dem Arzt, den er sogleich bemerkt hatte.
»Da bin ich, Herr Doktor«, sagte er. – »Ah, so rasch!« – »Ich traf den Diener unterwegs.« – »Gut, kommen Sie, mir zu helfen!« – »Die Brüche einrichten?« – »Nein, nur einen Notverband anlegen. Sobald ich hier entbehrt werden kann, komme ich zu Ihnen nach Genheim, wo das andere dann besser geschehen kann.« – »Er ist nicht weiter verwundet?« – »Vielleicht noch eine Kontusion, die ich in der Eile nicht bemerkte.« – »So ist ja keine Gefahr.«
Als sie zu Alfonzo traten, lag dieser wieder in einer Ohnmacht. Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte:
»Hm, ich scheine mich doch geirrt zu haben.« – »Wieso?« fragte der Lehrer. – »Er fällt aus einer Ohnmacht in die andere, es scheint also doch eine innerliche Verletzung vorzuliegen. Kommen Sie!«
Die beiden Männer legten den Arm in Verband, wobei Alfonzo erwachte und Zeichen des Schmerzes gab.
»Was fühlen Sie?« fragte der Arzt. – »Im Arm sowie auch im Kopf Schmerz, ein schreckliches Drücken und Zusammenpressen.« – »Hm! Es müssen während der Nacht fleißig Umschläge gemacht werden, kalt natürlich.« – »Wollen Sie sich mir anvertrauen, Herr Marchese?« fragte der Lehrer. – »Wer sind Sie?« – »Ich bin der Lehrer aus Genheim.« – »Werde ich dort einen Arzt haben?« – »Ja, diesen Herrn hier.« – »So nehmen Sie mich mit, ich werde es Ihnen lohnen.«
Natürlich war diese Unterhaltung von Seiten Alfonzos nicht in deutscher Sprache geführt worden, sondern Gerard Mason machte den Dolmetscher.
Der Verletzte wurde mittels Decken auf eine der Tragen gebettet. Gerard legte auch das Köfferchen darauf, griff dann mit einem der Bauern zu, und so setzten sie sich, von dem Lehrer geführt, in Bewegung.
Unterwegs begegneten ihnen noch einige Trupps von Hilfsbereiten, die zur Unglücksstätte eilten. An ihnen vorüber erreichten sie das Dorf und bald auch das Schulhaus.
Dieses war ein nicht sehr geräumiges, aber, wie es schien, freundliches Gebäude. Eine Frau trat ihnen, mit der Lampe in der Hand, unter der Tür entgegen.
»Mein Gott, was bringt ihr da?« fragte sie besorgt – »Einen Verunglückten, Mutter«, antwortete der Lehrer. – »So ist also wirklich der Zug verunglückt?« – »Ja. Mach rasch das Besuchsstübchen bereit« – »Oh, das ist ja stets in Ordnung. Kommt schnell herein.
Als die Trage niedergesetzt wurde, leuchtete sie Alfonzo in das Gesicht.
»Er liegt in Ohnmacht«, sagte sie. »Das arme, junge Blut. Weißt du, was er ist?« – »Ein Herr von Adel.« – »O weh! Ach ja!« rief sie, denn jetzt erst achtete sie auf die Livree Gerards. – »Er ist ein Marchese d‘Acrozza, ein Italiener.« – »Aber, Mann, wird er mit uns vorliebnehmen?« – »Wir müssen es versuchen.« – »So kommt. Könnt ihr die Treppe empor?« – »Ich denke.«
Es ging langsam und schwierig, aber dennoch gelang es, mit der breiten Trage die verhältnismäßig schmale Treppe zu passieren. Die brave Lehrerin öffnete eine Tür, und nun traten sie in das kleine, aber sehr freundlich eingerichtete Besuchsstübchen, in dem der Kranke, nachdem ihn die Männer vorsichtig seiner Kleider entledigt hatten, auf das Bett gelegt wurde. Den Ärmel des Rocks hatte ihm bereits der Arzt aufgeschnitten.
Nachdem für alles gesorgt war, entfernten sie sich.
9. Kapitel
Nur Gerard blieb bei Alfonzo zurück. Dieser betrachtete sich, während sein Herr noch in Ohnmacht lag, das Stübchen. Es enthielt außer dem Bett einen Tisch, eine Kommode, einige Stühle, einen Waschtisch, einen Spiegel und zwei Bilder.
Nach einiger Zeit machte der Graf eine Bewegung, und infolgedessen stellte Gerard die Lampe so, daß ihr Schein den Patienten nicht in das Gesicht treffen konnte. Dadurch fiel dieser Schein nun direkt auf die Bilder, so daß Gerard sie deutlich erkennen konnte.
»Alle Teufel!« sagte er leise, sich erhebend und hinzutretend. »Wer ist denn das?«
Das eine Bild stellte einen jungen Mann und das andere ein junges Mädchen dar. Der erstere war in spanische Tracht gekleidet, und das letztere trug die Fetzen einer Zigeunerin. Obgleich es nur Kreidezeichnungen waren, erkannte man sehr deutlich, daß die Zigeunerin eine große Schönheit war.
»Wer ist denn das?« wiederholte Gerard verwundert. »Das ist doch mein Herr!«
In diesem Augenblick bewegte Alfonzo sich, und Gerard eilte zu ihm hin. Der Kranke hatte die Augen geöffnet und blickte im Raum umher.
»Wo bin ich?« fragte er, sich besinnend. – »Beim Lehrer«, antwortete Gerard. – »Bei welchem Lehrer?« – »Sie wissen das nicht?« – »Nein.« – »Oh, dann sind Sie auch im Kopf verletzt. Sie haben ja mit dem Lehrer gesprochen.« – »Ich? Wo?« fragte Alfonzo verwundert. – »An der Bahn.« – »An der Bahn? Ach so. Es kam ein Mann und wollte mich zu sich nehmen. Ich besinne mich. In welchem Ort sind wird?« – »In einem Dorf, das Genheim heißt. Der Lehrer hat Ihnen sein bestes Zimmer angewiesen.« – »Wo bin ich verletzt? Ah, am Arm.«
Alfonzo hatte den Arm bewegen wollen und fühlte dabei Schmerz.
»Ja, Monsieur. Sie haben ihn zweimal gebrochen.« – »Donnerwetter! Was wird da aus unserer Reise?« – »Sie wird auf einige Zeit unterbrochen werden.« – »Das ist verdammt unangenehm! Aber ein Armbruch geniert ja nicht beim Gehen. Wenn er eingerichtet ist, werden wir die Reise fortsetzen.« – »Dazu müßten wir die Erlaubnis des Arztes haben.« – »Ich frage nicht nach seiner Erlaubnis. Wann wird er zu mir kommen?« – »Sobald er von der Unglücksstätte fort kann.« – »So werde ich gleich nach dem Verband abreisen.«
Gerard lächelte.
»Sie sind ja nicht nur am Arm verletzt«, sagte er. »Am Kopf ebenfalls.« – »Dummheit! Ich fühle nur ein wüstes Pressen.« – »Aber Sie geraten doch aus einer Ohnmacht in die andere.« – »Wirklich?« – »Ja. Ich denke, wir werden einige Zeit hier verweilen müssen.« – »Sind mein Köfferchen und die übrigen Effekten gerettet?« – »Das muß sich erst finden. Sie waren im Gepäckwagen.« – »Wie heißt der Lehrer, bei dem ich mich befinde?« – »Ich weiß es nicht. Soll ich fragen?« – »Nein.«
Alfonzo drehte sich ab, und dabei fiel auch sein Blick auf die beiden Bilder. Seine Augen vergrößerten sich, und seine Lippen bebten.
»Mein Gott, was ist das?« fragte er. – »Kennen Sie die Bilder, gnädiger Herr?« – »Kennen? Oh, gewiß, ich kenne sie!« – »Wer ist es?«
Unter anderen Verhältnissen wäre es sicher nicht geschehen, jetzt aber gab der Graf doch eine Antwort. Er war jedenfalls am Kopf verletzt
»Das ist mein Vater.« – »Ihr Vater? Ah, darum sieht das Bild Ihnen so ähnlich.« – »Und Zarba.« – »Zarba? Wer ist das?« – »Eine Zigeunerin. Spring rasch hinunter und frag, wie der Lehrer heißt« – »Das wird auffallen, Monsieur. Es ist besser, wir warten. Die Lehrerin hat versprochen, bald wiederzukommen.«
Der Kranke nickte und schloß die Augen. Nach einiger Zeit öffnete er sie wieder, fuhr sich mit Hand an den schmerzenden Kopf und fragte:
»Gerard, hast du diese Bilder bereits gesehen?«
Der Gefragte stutzte. War sein Herr denn irre?
»Ja«, antwortete er. – »Hast du mich vielleicht gefragt, wen sie vorstellen?« – »Nein«, sagte Gerard, um ihn auf die Probe zu stellen. – »Wirklich nicht?« – »Nein.« – »Mir war es gerade so, als wenn ich mit dir darüber gesprochen hätte.« – »Ich weiß nichts davon.« – »So bekümmere dich nicht darum. Du brauchst nicht zu wissen, wer sie sind.«
Alfonzo schloß die Augen wieder, aber über sein Gesicht zuckte und zitterte es, als ob er mit wirren Gedanken ringe. Da trat die Lehrerin vorsichtig herein und fragte leise:
»Ist er noch nicht wieder erwacht?« – »O doch«, antwortete Gerard ebenso leise.
Aber der Kranke hatte das Flüstern doch vernommen.
»Wer ist da?« fragte er, ohne die Augen zu öffnen. – »Ich bin es, die Wirtin«, antwortete die Lehrerin französisch.
Da öffnete der Kranke die Augen, blickte sie forschend an und sagte:
»Sie sprechen französisch?« – »Ja, mein Herr.« – »Wo haben Sie es gelernt?« – »Im Institut. Ich war Erzieherin.« – »Ah, das ist gut. So können wir miteinander sprechen.«
Dann schloß Alfonzo die Augen wieder, und es verging fast eine Viertelstunde, ehe er sie wieder öffnete, aber er schien die Gegenwart des Dieners ganz vergessen zu haben, er richtete den Blick auf die Bilder und fragte:
»Wer ist dieses Mädchen, Madame?« – »Eine Zigeunerin«, antwortete sie. – »Wohl ein Phantasiebild?« – »Nein, ein Porträt.« – »Ah, sie ist eine Schönheit. Wo lebt sie?« – »Sie lebt in Spanien, in Saragossa, sie hieß Zarba.« – »Zarba! Lebt sie noch?« – »Vielleicht.« – »Und wer ist der Herr neben ihr?« – »Ein Spanier.« – »Ja, er trägt spanische Tracht. Auch ein Porträt?« – »Ja. Es war ein gewisser Gasparino Cortejo.« – »Ah! Was war er?« – »Er war Haushofmeister bei dem Herzog von Olsunna.« – »Sie sind eine Deutsche?« – »Ja.« – »Wie kommen Sie zu diesen Porträts?« – »Wir haben sie von einer entfernten Verwandten meines Mannes.« – »Wie heißen Sie?« – »Mein Mann heißt Wilhelmi.« – »Ah! Und wie heißt jene Verwandte?« – »Sie ist eine geborene Wilhelmi, jetzt aber eine verwitwete Sternau.«
Alfonzo schwieg eine Weile, er hatte viel zu denken, aber sein Kopf war zu schwach dazu. Endlich aber sagte er, langsam und jedes einzelne Wort sich überlegend:
»Wo ist Sternau zu den Bildern gekommen?« – »In Spanien. Die Verwandte meines Mannes war Gouvernante dort.« – »Bei wem?« – »Erst bei einem Bankier Salmonno, dann bei dem Herzog von Olsunna.« – »Und sie lebt noch?« – »Ja.« – »Hat sie Kinder?« – »Zwei. Einen Sohn und eine Tochter.« – »Was ist der Sohn? – »Er ist Arzt, er war in der letzten Zeit in Spanien bei einem Grafen de Rodriganda.«
Bei diesem Namen horchte der Diener Gerard auf.
»Ah! Wie ist sein Name?« – »Karl Sternau.« – »Wo befindet er sich?« – »Auf Schloß Rheinswalden bei dem Hauptmann von Rodenstein, wo er zur Heilung seiner Braut, eine Gräfin de Rodriganda, lebt.« – »Ah! Kommt er zuweilen zu Ihnen?« – »Niemals.« – »Woher wissen Sie denn so genau, daß er hier ist?« – »Ein Jäger des Schlosses war in der Nähe Gevatter, er suchte mich auf, da er unsere Verwandtschaft kennt, und erzählte mir alles.« – »Aber warum hat jene Frau Sternau die beiden Bilder aus der Hand gegeben?« – »Um nicht an eine Zeit erinnert zu werden, in der sie sehr unglücklich gewesen ist. Aus diesem Grund hat sie dieselben dem Vater meines Mannes zur Aufbewahrung gegeben.« – »Haben Sie von den Erlebnissen dieses Doktor Sternau etwas gehört?«
Jetzt wurde Frau Wilhelmi aufmerksam. Warum fragte der Kranke so angelegentlich nach diesem allen?
»Kennen Sie ihn etwa, Monsieur?« fragte sie. – »Nein«, antwortete er. – »Oder haben Sie von ihm gehört?« – »Nein. Ich interessiere mich nur für ihn, weil jemand, der als deutscher Arzt eine spanische Gräfin als Braut besitzt, sicherlich doch Interessantes erlebt haben muß.«
Die Frau fühlte sich durch die Antwort beruhigt und erwiderte:
»Da haben Sie recht. Es ist wahrhaft Romanhaftes, was dieser Karl Sternau erlebt hat.« – »Darf man es erfahren?« – »Gern, aber Sie sind zu schwach dazu.«
Die Röte des Fiebers färbte allerdings Alfonzos Wangen. Er fühlte sich auch zu Tode matt, und der Arm schmerzte ihn fürchterlich, ebenso wie sein Kopf, aber er wollte, er mußte hören, was diese Frau von der Sache wußte.
»Ich bin nicht schwach«, sagte er. »Bitte, erzählen Sie immerhin!«
Während der Diener mit großer Spannung horchte, begann nun die Lehrerin:
»Der alte Graf de Rodriganda war blind, und Karl Sternau sollte ihn operieren. Die Operation gelang, aber dafür wurde der Graf wahnsinnig.« – »Es wird ihm bei der Operation ein Gehirnnerv verletzt worden sein.« – »Nein, man hat ihm ein Gift eingegeben, das wahnsinnig macht« – »Ah!«
Alfonzo war ganz erstarrt, in diesem versteckten Winkel Deutschlands einen Bericht über jene Vorkommnisse anhören zu müssen. Es begann ihm unheimlich zu werden, er fühlte, daß eine neue Ohnmacht die Arme nach ihm ausstreckte, aber er strengte alle seine Kräfte an, sie von sich fernzuhalten. Er mußte alles hören, was diese Frau wußte.
»Doktor Sternau hat das Gift entdeckt und auch das Gegenmittel gewußt«, fuhr die Lehrerin fort, »aber da hat man den alten Grafen geraubt« – »Geraubt? Unmöglich!« – »Ja, doch!« – »So etwas kommt nur in Romanen vor.« – »Oh, auch in Wirklichkeit« – »Weshalb sollte man ihn geraubt haben?« – »Man hat ihn entführt, damit er nicht wiederhergestellt werden könne. Sogar seiner Tochter hat man dieses fürchterliche Gift gegeben.« – »Und ist auch sie wahnsinnig geworden?« – »Ja.« – »Und jetzt ist sie Braut! Wie läßt sich dies vereinigen?« – »Man hat dann Doktor Sternau falsch beschuldigt und ihn eingesteckt, damit er sie nicht heilen könne. Aber es ist ihm gelungen, zu entkommen, er hat die Gräfin befreit und ist mit ihr nach Deutschland gekommen. Hier hat er sie wie durch ein Wunder geheilt. Sie ist seit zwei Tagen gesund, und nun wird es wohl bald eine Hochzeit geben.« – »Das wird nicht so schnell gehen!« – »Warum nicht?« – »Weil Verschiedenes dazu erforderlich ist, ehe eine spanische Gräfin mit einem deutschen Arzt getraut werden kann.« – »Oh, ich kenne diesen Karl Sternau, für ihn gibt es niemals Hindernisse.« – »Aber, wozu hat man denn dem Grafen und der Gräfin Gift gegeben? Man muß doch einen Grund dazu gehabt haben.« – »Der Erbfolge wegen.« – »Ah! Sehr romanhaft!« – »Ja, es soll ein Sohn dasein, der gar nicht der Sohn des Grafen ist.« – »Donnerwetter.«
Dieser Fluch sollte wohl ironisch klingen, aber er klang mehr nach Überraschung. Sogar die Röte des Fiebers wich dabei aus dem Gesicht des Kranken.
»Ja«, fuhr die Frau des Lehrers fort. »Der Hauptspitzbube ist ein gewisser Gasparino Cortejo, eben der, dessen Jugendbild Sie hier erblicken.«
Gerard Mason horchte auf. Hatte sein Herr nicht gesagt, daß es das Bild seines Vaters sei? War dieser falsche Marchese d‘Acrozza der Sohn dieses Gasparino Cortejo? Aber wie kam er da zu dem Notizbuch, in dem »Alfonzo, Graf de Rodriganda y Sevilla« zu lesen war?