Kitabı oku: «Adelsspross», sayfa 3

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Noch tagelang nach der Zeremonie befand sich so gut wie das ganze Reich in einem Taumel der Euphorie. Die Feiern zur Einsetzung des Obersten Priesters waren rauschend gewesen, und überall lobte man Asnuor in den höchsten Tönen, als hätte sich nicht noch kurz zuvor jeder über seinen Hochmut echauffiert. Viele führten das Schlagwort einer spirituellen Wende im Mund, die die Nchrynnai auf den Weg des Heils zurückführen würde, obwohl bis vor nicht allzu langer Zeit hauptsächlich von den Monowyisten zu hören gewesen war, dass wir diesen überhaupt verlassen hätten.

Meine kleine Familie hatte die fast allgegenwärtige Begeisterungswelle allerdings nicht ergriffen. Mutter wurde von Tag zu Tag blasser, ob vor Sorge oder Wut, wusste sie wohl selbst nicht genau. Vater kam von einer der berüchtigten Familienkonferenzen des alten Neoly in äußerst griesgrämiger Stimmung zurück, und die behielt er bei. Vai lief für ein paar Tage herum wie in Trance. Ich selbst wiederum wusste nicht, was ich denken sollte.

Ich konnte nichts wirklich Gefährliches finden an unserem neuen Obersten Priester. Andererseits wollte es mir nicht sonderlich gefallen, dass ich zwar den Klang seiner Stimme verflixt schwer wieder aus meinem Kopf bekam, mich aber an kein einziges seiner Worte erinnern konnte, wo doch so gut wie jeder die Weisheit seiner Rede rühmte. Ich saß oft und lange in unserem Garten in diesen Tagen und starrte hinunter in das aufgewühlte Meer, obwohl es allmählich empfindlich kalt wurde und der Sturmzeitwind mir das Haar ins Gesicht peitschte. Asnuors samtige Stimme hatte etwas aufgeweckt in mir, doch darüber redete ich noch nicht einmal mit Vairrynn.

Aber die Zeit schreitet fort, und während sich der Oberste Priester auf Initiationstour in den Kreisen der Reichen und Wichtigen begab, schickte sich der Alltag an, wieder Einzug zu halten – oder hätte es zumindest getan, hätte nicht meine Großmutter nach ihrer Schwiegertochter samt Kindern geschickt. Wie immer, wenn es darum ging, sich in die Höhle des Patriarchen zu wagen, wurden meine Brüder und ich fein herausgeputzt – was wir alle drei bis in die Zehenspitzen verabscheuten. Aber einem Ruf aus der Trutzburg – wie Vairrynn den Stammsitz der Neolys recht respektlos getauft hatte – widersetzte man sich nicht. Vater war schon vorausgeeilt, und wir stiefelten angemessen ausstaffiert hinterher.

Die Trutzburg war eines der ältesten und beeindruckendsten Gebäude in Naharmbra. Doch trotz aller Pracht sah sie ein wenig zusammengeflickt aus, ein Stück Archititekturgeschichte vom ersten Kapitel bis zum letzten, ein riesiger Gebäudekomplex, immer wieder erweitert und ausgebaut für Generationen über Generationen von Neolys. Die Treppen, die hinauf zum Eingang führten, waren gesäumt von den Statuen der Ruhmvollen aus der Familie: Tarmtabb der Hüne, Jayk und Humnem, beides Oberste Priester, daneben Gortonn der Gerechte, der einst Oligarch gewesen war, und all die anderen. So war der Besucher schon angemessen niedergedrückt vom Gewicht der Familiengeschichte, ehe er das Haus überhaupt betreten hatte. Manchmal fragte ich mich, ob sie wohl meinem Vater, dem im ganzen Reich bekannten Künstler, eines Tages auch so eine Statue aufstellen würden.

Die zukünftigen Neoly-Helden empfingen meine Mutter, meine Brüder und mich in Form einer Schar kreischender Kinder, die um meine genervte Tante Teggri herumsprangen und anscheinend eine Art Kriegstanz einstudierten. Ihr Geplärre hallte in der Empfangshalle der Trutzburg wieder, ein steinbewehrter Innengarten, über den sich eine Kuppel aus milchigem Glas spannte. Ein ganzer Schwung Neoly-Frauen hatte sich um den Brunnen im Zentrum des Hallengartens versammelt, der nur ganz leicht mit Grünspan überzogen war. Mittendrin thronte meine Großmutter, so breit wie hoch, mit backenkneifenden Fingern und Süßigkeiten in den Rocktaschen.

»Lys!«, rief sie aus, als sie unser gewahr wurde, und hüpfte uns entgegen (es gibt kein anderes Wort, um die Art zu beschreiben, wie meine Großmutter sich fortbewegte). »Der Einheit sei Dank, dass ihr es noch rechtzeitig geschafft habt!«

»Rechtzeitig wofür?«, fragte Mutter und wich geschickt einer von Großmutters berüchtigten Umarmungen aus, der stattdessen Mud und ich zum Opfer fielen.

»Na, für den Segen!«, rief Großmutter dabei. Ihre Stimme hüpfte auch. Das runde, rote Familiensiegel an ihrem Kropfband wackelte bei jedem Wort hin und her.

»Ein Geldsegen?«, fragte Mud hoffnungsvoll und erntete einen Klaps von Großmutters beringten Fingern.

»Sein Segen!«, rief sie aufgeregt. »Er ist gerade bei eurem Großvater, und er hat sich bereiterklärt, alle Kinder des Hauses zu segnen

Mutters Gesicht wurde hart wie Stein. »Er wer?«

»Der Oberste Priester natürlich! Ktorram Asnuor!«

»Nein!«, entfuhr es Mutter scharf. Schlagartig verstummten sämtliche Frauen um den Brunnen herum. Das Geschrei der Kinder versiegte etwas verzögert, von der sinkenden Stille verschluckt.

»Was meinst du mit ›nein‹?«, fragte Großmutter perplex.

»Mit ›nein‹ meine ich ›nein‹.«

Alle hörten den beiden jetzt zu. »Oh Mutter, bitte«, dachte ich flehentlich. Es ging nie gut aus, wenn sie eine Konfrontation mit den Bewohnern der Trutzburg suchte.

»Lys, was hast du …«

»Ich werde meine Kinder nicht von diesem Mann segnen lassen!«

»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Er wird alle Kinder segnen, da können die des Erstgeborenen doch nicht außen vor stehen! Lys, ich warne dich! Solltest du schon wieder …«

»Eher setze ich nie wieder einen Fuß in dieses Haus, als dass ich Ktorram Asnuor auch nur einen Finger an eines meiner Kinder legen lasse!« Die Worte fielen in den Hallengarten wie Steine in stilles Wasser. Niemand sagte etwas. Es dauerte einen Moment, bevor mir aufging, dass keiner mehr meine Mutter anstarrte. Mir strich es eiskalt die Ohren entlang und nur ganz vorsichtig wagte ich es, über meine Schulter zu schauen. An der Tür zur Empfangshalle stand der Oberste Priester des Wy, hinter ihm mein Großvater mit hochrotem Kopf und seine drei Söhne. Mein Vater sah aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen.

»Lys …«, begann Großvater mit seiner Donnerstimme, doch die Hand des Obersten Priesters bedeutete ihm Verstummen. Der alte Neoly gehorchte. Klack, klack, klack, klack, schritt der Oberste Priester die vier Stufen hinunter, die in den Innengarten führten, und kam auf meine Mutter zu. Meine Finger krallten sich in ihren Rock. Vage war ich mir bewusst, wie sie versuchte, mich hinter sich zu schieben, aber ich rührte mich nicht. Direkt vor uns blieb der Oberste Priester stehen. Er war realiter nicht eindrucksvoller als auf der Holographischen Wand. Aber da war ja noch der Andere, der hinter seinen Augen wohnte, und der musterte meine Mutter von Kopf bis Fuß, als wäre sie Ungeziefer. Sein Mund zuckte.

»Nun, Frau, willst du uns nicht sagen, warum der Oberste Priester des Wy nicht würdig ist, deine Kinder zu segnen?« Die Samtstimme klang durchaus einnehmend und versprach Nachsichtigkeit. Ich blickte hoffnungsvoll zu meiner Mutter auf. Um ihren Mund arbeitete es. Es war, als wollte sie etwas herausschreien, was nicht heraus durfte, doch dann brach es sich Bahn, ein Wort, ein Wort nur: »Nchorr.«

Da hing es und zerplatzte, ein Wort, wie man es einem singisischen Mann kaum schlimmer an den Kopf werfen kann. Die ganze Halle hielt den Atem an und erschauerte. Und in Asnuors farblosen Augen sprang etwas auf und verdunkelte sie, Hass wie Feuer und Dolch und Schwert, und auch in mir war es dunkel, es war die Angst, und dann war da mein Vater, der sich zwischen den Obersten Priester und seine Familie schob und der sagte: »Verzeihen Sie meiner törichten Frau, Hoher Herr. Doch ihre Mutter liegt schwerkrank, und das arme Ding ist deswegen völlig außer sich. Sie weiß gar nicht, was sie sagt.« Es war eine glatte Lüge, und vermutlich wusste Asnuor das. Aber wenn ein zukünftiger Patriarch um einen Gefallen bittet, wie auch immer verdeckt, ist selbst ein Oberster Priester gut beraten, dieser Bitte nachzukommen. So pflegte es zumindest zu sein.

Es dauerte noch einen Moment, ehe Asnuor nickte. Sein Blick zuckte erst zu mir, dann zu Mudmal und schließlich zu Vairynnn. Dann lächelte er.

»Passen Sie gut auf Ihre kleine Familie auf, Eftnek Neoly«, sagte die Samtstimme. Es klang nicht wie eine Drohung. Ich hielt es trotzdem für eine. Dann wandte sich der Oberste Priester des Wy ab und verließ den Stammsitz der Neolys, ohne ein einziges Kind gesegnet zu haben.

ABWEICHLER

»Verdammte Viecher!«, knurrte der vierschrötige Junge und trat nach den Katzen, die sich provozierend in der Sonne geräkelt hatten – das zumindest dachte sicher der Junge namens Gynl, der, wie Vairrynn wusste, alles und jeden provozierend fand. Natürlich traf Gynls Tritt die Katzen nicht, die flink davonsprangen und den Jungen abschätzig-interesselos sondierten, als wäre höchstens der Tritt und nicht Gynl selbst ihrer Aufmerksamkeit wert. Der Blick, den Vairrynn Gynl über den Rand seines Buches zuwarf, unterschied sich nicht wesentlich von dem der Katzen.

»Verdammte Viecher«, wiederholte Gynl. »Diese verkrätzten Menschenbiester vermehren sich ja wie die Pest!«

In gewisser Weise hatte Gynl recht. Vor einigen Jahren noch waren Katzen exotische Haustierchen für die besonders Schicken gewesen; aber die Felidae hatten etwas an sich, dem sich nur wenige Nchrynnai entziehen konnten, und so waren sie gerade äußerst erfolgreich dabei, das Singisische Reich zu erobern. Doch das war es gar nicht, was Gynl meinte. Was er eigentlich sagen wollte, war: Verdammt seien diese Terraner und die Nostoren gleich dazu, die mit ihrer Widernatürlichkeit und Wyfremdheit schleichend das singisische Wesen vergiften und die Nchrynnai auf den Weg zum Nichtsein führen! – Selbstverständlich hätte Gynl nie so komplizierte Worte benutzt, aber er meinte es trotzdem. Vairrynn wusste das, denn er musste sich solche Reden immer öfter anhören, und das nicht nur von Leuten wie Gynl. Das war das Schlimme. Leute wie Gynl, die unfähig waren, zu sagen, was sie meinten, waren für sich genommen nicht weiter gefährlich. Leute dagegen, die sagen konnten, was sie meinten, waren schon bedenklicher, ganz zu schweigen von denjenigen, die sagen konnten, was sie meinten, ohne es zu sagen. Da waren die monowyistischen Prediger, die mit Worten wie Widernatürlichkeit und Wyfremdheit um sich warfen, und diejenigen, die diese Worte bereitwillig aufnahmen und weiterverbreiteten, denn sie schienen willkommene Erklärungen zu liefern für die Risse, die das Gebäude des Singisischen Reiches bekommen hatte. Und dann war da Ktorram Asnuor. Er sprach nur selten von Widernatürlichkeit und Wyfremdheit. Aber seine Reden waren es, die genau diese Worte mit Bedeutung füllten und Geschichten aus ihnen formten, und sie erzählten von einer Welt, die als letzter Hort der Rechtschaffenheit in einer Wüstenei der Wirrnis aufragte. Wirrnis, die es zu bekämpfen galt. Und Gynl bekämpfte sie, indem er nach Katzen trat.

Einen Augenblick lang trafen sich die Blicke des grobschlächtigen Jungen und meines Himmelsreiters. Gynl machte eine ruckartige Bewegung, als hätte sein Körper sich entschlossen, das mit dem Treten jetzt bei Vairrynn auszuprobieren, aber den Bruchteil einer Sekunde später hatte dann doch der Verstand die Motorik eingeholt und gab Kommando zurück. Statt sich also mit Vairrynn anzulegen, wandte sich Gynl ab, um loszugehen und ein paar Außenseiter zu verdreschen. Außenseiter gaben hervorragende Prügelknaben ab.

Vairrynns Blick folgte Gynl über den spärlich bevölkerten Schulhof, während sich die Katzen zu seinen Füßen zusammenrollten. Er saß auf einer Bank unter dem einzigen Baum im Schulgarten und las ein Buch mit dem Titel ›Die Fremden an unseren Grenzen‹, was erklären mochte, warum Gynl fast seine schulweit bekannte Feigheit vergessen und sich mit Vairrynn angelegt hätte. Neben ihm tat sein Freund Ftonim gerade so, als würde er an einem Aufsatz über das Ende der Oligarchie arbeiten, den er nur zu bereitwillig beiseite legte, um sich von der kleineren der beiden Katzen in den Finger beißen zu lassen.

»Wenn Dummheit wehtun würde, würde Gynl sich schreiend auf dem Boden wälzen«, sagte Ftonim, während er der Katze den Bauch kraulte.

»Oh, das tut er auch«, antwortete Vairrynn gedankenverloren. Es war eine jener Bemerkungen, die Ftomin gelernt hatte, geflissentlich zu ignorieren. »Ich sag’ dir, wenn er sich wieder einen von den Kleinen vorknöpft, schau’ ich nicht mehr ruhig zu.«

Ftonims Nase kräuselte sich. Das ungeschriebene Schulgesetz besagte, dass auserkorene Prügelknaben eine bestimmte Altersgrenze nicht unterschreiten durften. Gynl hielt sich jedoch nicht daran, was ein Grund für seine unterdurchschnittliche Beliebtheit sein mochte. Allerdings wurde der Bruch der Altersgrenzenregelung normalerweise nur mit schweigender Missbilligung geahndet, und die Leidtragenden hatten sich wohl oder übel alleine durchzubeißen.

»Vielleicht solltest du das lieber mir überlassen«, meinte Ftonim nach einem Moment. Es brachte ihm einen halb fragenden, halb anerkennenden Blick ein.

»Warum das?«

Ftonim zog die Schultern hoch. »Gynl ist so ein Feigling, dass er garantiert klein beigibt, sobald ihn jemand mit kurzen Haaren auch nur schief ansieht.«

Ftonim, fast zwei Jahre älter als Vairrynn und Gynl, hatte seine Mannbarkeitszeremonie längst hinter sich und war dementsprechend erwachsen, respekteinflößend und kurzhaarig. Stoppelkurz, um genau zu sein, jedenfalls im Moment. Vor wenigen Tagen waren ihm die dunkelblonden Strähnen noch lässig in die Stirn gefallen, davor hatten sie ein Vogelnest imitiert und dabei immer gleich gut ausgesehen. Typisch, dachte Vairrynn und schmunzelte.

»Ach nein, lass das lieber«, sagte er laut.

»Wieso das jetzt?«

»Prinzipientreu, wie ich bin, müsste ich mich dann mit dir anlegen, weil du den armen, kleinen Gynl schikanierst.«

Ftonim lachte. »Mit dir würde ich’s grad noch aufnehmen, Kleiner.«

Sie hatten es nie ausgetestet. Die mehr oder weniger spielerischen Prügeleien, die zu einer Freundschaft zwischen jungen Singisen per definitionem dazugehörten, hatten in der Beziehung von Vairrynn und Ftomin von Anfang an gefehlt. Ftonim war sich deshalb nicht sicher, ob seine flapsige Bemerkung den Tatsachen entsprach; Vairrynn war großgewachsen für sein Alter und hatte die muskulöse Statur eines routinierten Reiters. Das mochte den Altersunterschied wettmachen oder auch nicht; es interessierte Ftonim nicht sonderlich. Ihm war klar, dass viele nicht verstanden, warum er sich ausgerechnet Vairrynn Neoly als besten Freund ausgesucht hatte. Nicht nur, dass der zwei Jahre jünger war und also immer noch ein Kind, nein, viel schlimmer, er war ganz einfach … eigenartig. Ftonim war das egal. Was seine Mitschüler – fast alle Sprösslinge Großer Alter Familien – für eigenartig hielten, ließ ihn noch nicht einmal mit der Wimper zucken. Sein ganz und gar unaristokratischer Vater war ein ausgesprochen erfolgreicher Seidenhändler, der nicht nur alle Ecken des Memnáh, sondern auch die Vereinten Planeten bereist und als einer der ersten Singisen einen Fuß auf die Erde gesetzt hatte. Ftonim hatte ›eigenartig‹ mit dem Babybrei serviert bekommen. Und Vairrynn Neoly? Vairrynn Neoly war wie Kaffee und Katzen und Rilke und nostorische Nin-Kalligrafie in einem. Also hatte sich Ftonim Sar nicht einen Moment lang von der Zurückhaltung abschrecken lassen, mit der Vairrynn zu Anfang auf seine Freundschaftsversuche reagiert hatte. Er wusste bis heute nicht, ob es adliger Dünkel gewesen war oder hart erlernte Skepsis, aber er wusste, dass Vairrynn damit gerechnet hatte, dass er ihn eher früher als später wieder sich selbst überlassen würde. Ftonim jedoch blieb.

Und doch waren da die Orte, an die Ftonim Vairrynn nicht folgen konnte – weil er unfähig war, sie zu erreichen, weil sein Freund ihm die Türen nicht aufmachte oder aus irgendeinem anderen Grund, er wusste es nicht, er wusste kaum, dass er es nicht wusste, aber er fühlte, dass es diese Orte gab. Manchmal legten sie sich zwischen die beiden wie ein Ozean, manchmal füllten sie nur die Ecken gerade außerhalb des Blickfelds aus. Stets jedoch weckten sie in Ftonim die untergründige Furcht, jeden Moment könnte etwas geschehen, das ihre Freundschaft unwiderruflich zerbrach. Dieses ominöse Ereignis trat nie ein, aber die Furcht davor ging nicht weg. Gerade wieder machte sie sein Herz rasen, ohne dass er so genau sagen konnte, warum. Um es auf eine einigermaßen normale Frequenz zu bringen, griff er nach seinem Aufsatz und fragte: »Was meinst du, kann ich nicht einfach schreiben, die Oligarchie wäre gescheitert, weil die Großen Alten nicht entschieden genug gegen die Nembdrai in ihren eigenen Reihen vorgegangen seien?«

Vairrynn zog die Augenbrauen hoch, ohne von seinem Buch aufzublicken. »Es würde dir wahrscheinlich eine volle Acht einbringen.«

Nembdr war ein Wort, das die Jungs, als sie alle noch kleine Kinder gewesen waren, voneinander übernommen hatten als ein sehr böses Wort für Frauen. Es war auch ein Begriff, den die Söhne Eftnek Neolys schnell gelernt hatten, nicht zu gebrauchen, weil er ihre Mutter rasend machte. Als sie älter wurden, erfuhren sie nach und nach, dass sich mehr dahinter verbarg. Nembdr, das Wortparadoxon, das mit einer männlichen Endung eine Frau bezeichnete, meinte genau das, was es selbst war: ein Paradoxon – eine Frau, die eine Nicht-Frau war, die nicht tat, was Frauen tun, und zwangsläufig tat, was Frauen nicht tun. Eine Nembdr eben, ein widernatürliches Geschöpf, eine Ausgeburt des Nichtseins, eine Dienerin des Göttlichen Gegners. Es hatte nicht nur eine Zeit in der Geschichte des Memnáh gegeben, in der das Wort Nembdr einer Frau das Genick brechen konnte und würde. Und manchmal, besonders wenn er auf dem Schulhof saß und seine Mitschüler große Reden schwingen hörte oder durch die Straßen Naharmbras und, recht häufig inzwischen, Murraptaams ging, wo die monowyistischen Prediger die Verderbtheit der Göttin und ihrer Töchter beschrien, dann befürchtete Vairrynn, dass das Singisische Reich wieder am Rande einer solchen Zeit stand, die nicht als eine gute zu bezeichnen war. Auch in mir wohnte eine solche Ahnung. Ich habe viele schlimme Zeiten mitangesehen, von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende, und ich erkenne sie, wenn sie sich anbahnen.

»Das Traurige ist, dass du höchstwahrscheinlich sogar recht hast«, meinte Ftonim jetzt. »Die Fremden von draußen, die Nembdrai von innen – es ist ein Wunder, dass das Memnáh noch nicht endgültig untergegangen ist.«

»Wir haben doch unsere Streiter für die Gerechtigkeit und ihren strahlenden Heerführer, Ktorram Asnuor«, entgegnete Vairrynn.

»Wie konnte ich das vergessen! Sag’, hast du seine Rede vor der Runde der Berufenen gehört? Die, in der er für eine schärfere Kontrolle der Grenzen plädierte? Mein Vater hat getobt!«

Vairrynn wollte gerade auf Ftonims Frage antworten – ja, ich habe die Rede gehört, und ich glaube nicht, dass du dir eine Vorstellung davon machst, wie gefährlich sie tatsächlich ist –, wurde aber aufgeschreckt durch die beiden Katzen zu seinen Füßen, die aufsprangen und auf den Baum stoben.

»Was …?«, fragte er und wurde fast überrannt von einem kleinen Jungen, der ernsthafte Anstalten machte, es den Katzen gleichzutun.

»Sachte, Kleiner«, rief Ftonim. »Du siehst ja aus, als wären alle Dämonen des Nichtseins hinter dir her!«

»Keine Dämonen, nur Idioten«, kommentierte Vairrynn, als er Gynl mit zweien seiner üblichen Kumpane über den Schulhof heranmarschieren sah. Vairrynn fragte sich kurz, ob drei eine magische Zahl gegen Feigheit sein mochte, stellte die Überlegung dann jedoch als irrelevant zurück. Gynl taxierte die Gruppe unter dem Baum, schien dann zu entscheiden, dass drei gegen zweieinhalb ein ganz gutes Zahlenverhältnis war, und steuerte breitbeinigen Schrittes auf Vairrynn zu, der sich prophylaktisch vor dem kleinen Jungen aufgebaut hatte. Hälse begannen sich zu drehen und Ohren aufzustellen. Auf einem singisischen Schulhof entwickelte man beizeiten einen sechsten Sinn für eine sich anbahnende Schlägerei. Gynl aber schien weder zu bemerken, dass sich eine schnell anwachsende Truppe an Schaulustigen in seinem Kielwasser formte, noch dass seine Kumpane sich sehr dezent im Hintergrund hielten. Stattdessen warf er sich vor Vairrynn in die Brust.

»Geh aus dem Weg, Neoly!«

Ein Raunen pflanzte sich unter den Schaulustigen fort, wie ein kollektives Aufseufzen. Ftonim entdeckte Mudmal Neoly in der allerersten Reihe und versuchte, ihm mit den den Augen zu bedeuten, sich zu verziehen. Mudmal achtete nicht auf Ftonim, aber das tat er fast nie. Ftonim war versucht, leise zu knurren, ließ es aber bleiben, legte stattdessen dem Jungen, den sich Gynl als Prügelknaben ausgesucht hatte, eine Hand auf die Schulter. Er konnte keinen Siegelring an dem Finger des Winzlings entdecken und hätte am liebsten mit den Augen gerollt. Gynl und seine kleinadlige Posse waren so berechenbar, dass es zum Weinen gewesen wäre, wäre es nicht so lachhaft gewesen.

Vairrynn ließ sich Zeit mit seiner Antwort auf Gynls Herausforderung, gerade genug, um in dem anderen erstes Unbehagen aufsteigen zu lassen.

»Warum sollte ich?«, fragte er dann. Jemand lachte kurz auf, aber ansonsten war es still. Gynl hatte inzwischen zu seinem Entsetzen festgestellt, dass seine Freunde ihn aus irgendeinem Grund im Stich gelassen hatten. Sein linker Fuß zuckte, als wollte er selbständig den Rückzug antreten. Aber Gynl war klar, dass nichts wichtiger war, als das Gesicht zu wahren, selbst wenn selbiges zerschlagen war.

»Weil ich dem kleinen Nembdr-Sohn, der sich da hinter dir verkriecht, die Abreibung verpassen will, die er verdient!«, stieß er hervor, das Erstbeste, was ihm einfiel. Vairrynns Brauen wanderten nach oben, und der Blick der hellen Augen maß Gynl von oben bis unten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, und auf einmal wusste Gynl wieder, warum seine Freunde ihm gerade kurzerhand den Rückhalt versagten, warum es in der Schule hieß, man würde besser einen Bogen um Vairrynn Neoly machen, warum sich keiner mit ihm anlegte, obwohl er alle Eigenschaften eines Sonderlings besaß: Es war dieser Blick, dieser kühl-analytische graue Blick, der dich nackt und bloß zurückließ, ohne einen Winkel, in den du dich hättest verkriechen können, aber mit der Gewissheit, dass dir nicht gefiel, was er gesehen hatte, dass er nun Dinge über dich wusste, die du dir selbst nie eingestanden hättest, und dass du ihm schutzlos ausgeliefert warst, hier und jetzt, und dass du nun wartetest auf einen Urteilsspruch, den zu ertragen jenseits deiner Kräfte lag. Gynl wich einen Schritt zurück und dann noch einen, und dann hielt ihn nichts mehr, verlorenes Gesicht hin oder her. Unter dem Gejohle seiner Mitschüler suchte er das Weite, und die ganze Zeit spürte er, wie dieser helle graue Blick ihm folgte und selbst jetzt noch seiner Seele Geheimnisse entriss, die er tief und sicher verscharrt geglaubt hatte.

Vairrynn rührte sich nicht. Der kleine Junge kam aus seiner Deckung hervor und verschwand mit einem argwöhnischen Blick auf seine Beschützer. Die eine Hälfte der Zuschauer amüsierte sich köstlich über Gynls unrühmlichen Abgang, während die übrigen Vairrynn unbehaglich beäugten. Mudmal stürzte lachend und ein wenig atemlos auf seinen großen Bruder zu.

»Allmächtiger Wy, Vairrynn, ich glaub’s einfach nicht! Irgendwann musst du mir zeigen, wie du das machst, dass sie davonkriechen, wenn du auch nur mit der Wimper zuckst, ja?«

Ftonim legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. Es war schon wieder passiert, und nie wusste er, wie er Vairrynn diesen seltsamen Kampf ersparen sollte.

»Vergiss es einfach«, war alles, was ihm einfiel. Vairrynn schüttelte nur den Kopf. Mudmal wiederum freute sich noch immer diebisch über das, was er als einen enormen sozialen Erfolg einstufte.

»Hey, großer Bruder, was glaubst du, wie viel Respekt sie morgen erst vor dir haben, wenn du deine Mannbarkeitszeremonie hinter dir hast!«

Vairrynn zuckte zusammen.

»Mud, sei einfach mal kurz still, in Ordnung?«, sagte Ftonim, nicht unfreundlich, aber bestimmt. Mudmal klappte verdutzt den Mund zu.

Vairrynn schüttelte wieder den Kopf. »Ich will das alles nicht, Ftom.«

Ftonim missverstand ihn bewusst. »Hey, so schlimm wird das schon nicht, glaub mir. Sie schneiden dir die Haare ab, singen ein paar düstere Lieder über Männlichkeit und hängen dir einen schicken Dolch an die Hüfte. Keine Angst, mein Kleiner; kurze Haare verwandeln dich nicht auf einmal in einen von denen.«

Ftonim merkte sofort, dass er etwas Falsches gesagt hatte, spürte, wie meinen Himmelsreiter ein Zittern überlief. Denn anders als seine Mitschüler selbst, wusste Vairrynn ganz gut, warum diese ihn mieden. Und unter der etwas snobistischen Blasiertheit des Überlegenen nagte der Zweifel, dass irgendetwas nicht stimmte. Mit ihm.


»Gottesgeschenk, hörst du mir eigentlich zu?«, fragte mich die Erste Dienerin der Lchnadra.

»Aber natürlich«, log ich. Seit sie so unvermittelt vor unserer Tür aufgetaucht war, hatte Jorngiss meiner Familie in unregelmäßigen Abständen Besuche abgestattet, die, wie es den Anschein hatte, keinem anderen Zweck dienten, als festzustellen, ob wir Kinder schon wieder gewachsen waren.

Eineinhalb singisische Jahre – oder zwei terranische, wenn man so will – war es her, dass meine Mutter dem Obersten Priester dieses unheilsschwangere »Nchorr« an den Kopf geworfen hatte. Bis jetzt hatte es keine offiziellen Konsequenzen nach sich gezogen. Aber Asnuors dunkler, hasserfüllter Blick hatte mich noch Tage über Tage verfolgt, und das Wort hallte wider in meinem Kopf, tausendfach gebrochen. Das Wort und das, was danach geschehen war, nachdem das Tor der Trutzburg hinter dem Obersten Priester ins Schloss gefallen war: Vaters bodenlose Augen, die randvoll waren von jenem berüchtigten Neoly-Jähzorn, den ich bis dahin nur von meinem Großvater gekannt hatte; wie er Mutter am Handgelenk packte und den ganzen Weg nach Hause hinter sich her zog, brodelnd schweigend; und das zornbebende »Hast du denn nur noch Sand im Kopf?!«, gefolgt von dem gleichermaßen welterschütternden »Wenigstens habe ich etwas, das dir völlig abgeht: Rückgrat nämlich!« Danach nur noch laute Stimmen aus den Zimmerfluchten meiner Eltern, Mudmals verstörtes Gesicht und tagelanges drückendes Schweigen, das sich nur langsam in etwas wie Normalität verwandelte. Und all das nur wegen dieses einen Wortes, das meine Mutter Ktorram Asnuor ins Gesicht geschlagen hatte.


»Bedeutet ›Nchorr‹ nicht ›Mörder‹?«

Myn blickt befremdet auf, als hätte sie vergessen, wo sie sich befindet und dass sie schon lange kein neunjähriges Mädchen mehr ist, das die Rebellion der Mutter und der Blick eines hasserfüllten Priesters in eine existenzielle Krise stürzen können. Sie sieht den Mann an, der ihr gegenübersitzt, den Menschen, und für einen Moment überfällt sie blanke Panik. Sie ist doch niemand, der sich schnell öffnet, einfach so. Wie also können diese fremdartigen blauen Augen ihr nur ihre Geschichte herausreißen?

Er wiederum sitzt gelassen da und wartet auf eine Antwort. Das kann er gut, warten. Er hat es gelernt. Meistens erreicht er sein Ziel, ohne dass er ihm entgegengeht.

»Eigentlich sind Nchorrai … kleine Würmer, die im Schlamm leben«, sagt sie schließlich. »Ziemlich eklig. Wenn man jemanden so nennt, stellt man ihn auf die niedrigste Stufe des Lebens – von gewissen obszönen Untertönen natürlich ganz zu schweigen.« Sie sieht ihn an, will wissen, ob er grinst oder wenigstens mit den Mundwinkeln zuckt. Er erwidert ihren Blick offen, und da ist nichts außer Wissensdrang. Sie ist sich nicht sicher, ob ihr das gefällt, weiß nicht, was sie mit dieser Offenheit anfangen soll, weiß noch nicht einmal, wie echt sie ist. Wie kann jemand so blank und bloß vor ihr sitzen und doch so wenig von sich preisgeben? Er ist wie ein Fels, denkt sie, und fragt sich, ob es Klüfte in ihm gibt.

»Es ist auch eine Bezeichnung für einen Mörder«, fährt sie schließlich fort, »aber im Grunde ist es schlicht und einfach das schlimmste Schimpfwort für einen Mann, das die singisische Sprache hergibt – das heißt, bis auf eines.«

»Und das wäre?«, fragt er nach mit der Neugier des Sprachenlernenden, ehe er den Gedanken zu Ende gedacht hat. Sie senkt den Blick, einen Kloß irgendwo tief im Hals, und murmelt: »Ich benutze dieses Wort nicht.«

Aber er versteht und verflucht sich mit den schlimmsten Wörtern, die ihm einfallen. Soll er ihr sagen, dass er es weiß? Es kommt ihm nicht richtig vor, ein wenig wie ein Verrat. Deshalb schweigt er. Das fühlt sich aber nur um ein Weniges besser an, und so fragt er: »Möchten Sie eigentlich etwas trinken?«

Ihre Augen bekommen einen merkwürdigen Glanz. »Wenn es vielleicht Kaffee gäbe …«

Er lacht auf. »Wir sind hier auf der Erde, Mynrichwy Neoly. Sie können so viel Kaffee bekommen, wie Sie nur wollen.«

Die untergehende Sonne zeichnet die Silhouetten des Großen Glockenturms und der Parlamentshäuser wie einen Scherenschnitt in den Himmel. Möwen ziehen tiefe Kreise über den Fluss, und Myn trinkt Kaffee, und sie erzählt.


Also, die Erste Dienerin saß an dem Tag vor Vairrynns fünfzehntem Geburtstag zusammen mit meiner Mutter und mir einmal wieder in unserem Garten und versuchte, mir den dogmatischen Unsinn auszutreiben, den man mir in der Mädchenschule eingebläut hatte, und mir stattdessen ihre häretischen Lehren einzutrichtern. – Ach nein, richtig, zu diesem Zeitpunkt waren sie ja noch keine Häresie, sondern lediglich etwas, das jeder irgendwie noch wusste und fast keiner mehr verstand.

»Na schön, Mynrichwy Neoly«, sagte Jorngiss jetzt. »Wenn du mir so gut zugehört hast, dann kannst du mir ja sicher erklären, was das Naach ist.«

»Das Naach?«, wiederholte ich langsam.

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