Kitabı oku: «Halbe-Halbe, einmal und immer», sayfa 6

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15 – Sophies Telefon tüdelte,

als sie gerade die Stufen zum Eingang des Amtsgerichts nahm. Die Nummer des Anrufers sagte ihr nichts.

»Ja?«

»Sofia-Freundin-von-Will?«

»Marek, sind Sie das?«

»Ja. Marek Kapuczinsky. Sofia, Ihr Auto läuft wieder. Können Sie jederzeit abholen.«

»Was denn, jetzt schon?«

»Wir sind schnell«, sagte Marek.

»Wie viel Geld muss ich mitbringen, Marek?«

»Ist nicht teuer. Sie können zahlen, wie sie wollen. Visa, Master, Bankkarte, Euro, Dollar, Zloty, D-Mark, wenn Sie haben. Ist immer noch gutes Geld.«

Es war erst kurz nach zehn am Vormittag. »In spätestens einer Stunde bin ich bei Ihnen«, sagte Sophie.

Ihr Besuch beim Grundbuchamt war kurz. In einem Taxi fuhr sie über den Fluss und die Grenze nach Kystrowcze. Ihr Golf stand frisch gewaschen im Hof der Werkstatt.

»Was war denn dran?«, sagte Sophie zu Marek.

»Nichts kaputt«, antwortete er. »Wir haben Stecker trocken geblasen, Kontakte eingesprüht, ein paar Sicherungen ersetzt, neue Zündkerzen, einmal kärchern, halbe Stunde Arbeit. Das war alles. 40 Euro.«

»Nur 40 Euro!?« Sophies Taxifahrten waren teurer gewesen.

»Wollen Sie mehr ausgeben? Kein Problem«, sagte Marek.

»Nein, nein! Vielen Dank, Marek, dass Sie meinen alten Wagen noch mal gerettet haben.«

»Golf«, brummte er. »Gutes Auto. Nur zwölf Jahre alt. Läuft noch mal zehn.«

Sophie bezahlte im Büro der Werkstatt bei einer hübschen Brünetten mit Rehaugen. Eine Minute später saß sie in ihrem Wagen und war auf dem Weg nach Küstrow, erleichtert und beschwingt davon, dass der alte Golf und ihre Brieftasche den Ausflug in das Schlammloch an der Grobitzer Landstraße so glimpflich überstanden hatten. Während sie fuhr, machte sie wieder einmal Bilanz.

Was hatte sie geschafft von dem, was sie als Erbin zu erledigen hatte?

Sie hatte die Habseligkeiten ihrer Großtante aus dem Heim abgeholt (check) und ihre Urne vom Bestatter (check). Sie hatte das geerbte Haus besichtigt (check), die Eintragung als neue Besitzerin ins Grundbuch beantragt (check) und organisiert, dass es verkauft wurde (check).

Was gab es sonst noch, das sie tun musste?

Nichts. Für den Moment jedenfalls war das alles.

Und später? Sie würde sich mit dem Heim auf Ratenzahlung für die geerbten Schulden verständigen, darauf hoffen, dass das Finanzamt keine Erbschaftssteuer von ihr wollte und darauf warten, dass der Raucher in der Immobilienabteilung der Bank einen Käufer für das Haus fand.

Das war’s dann mit ihrem Erbe.

Und jetzt … würde sie wieder nach Hause fahren, sich schleunigst einen neuen Job suchen, auch, um die geerbten Schulden abzahlen zu können, und weiterleben wie bisher. Oder, mit einem neuen Job, besser. Ja, besser.

Sophie sah auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. Wenn sie vor zwölf Uhr aus ihrem Hotel auscheckte und dann gleich losfuhr, sparte sie eine Übernachtung und war in fünf, sechs Stunden wieder zu Hause. Sie würde in der kommenden Nacht in ihrem eigenen Bett schlafen. Darauf freute sie sich. Sie überlegte, Jens anzurufen, aber weil er es nicht mochte, wenn sie ihn am Arbeitsplatz anrief, ließ sie es bleiben. Es gab ja auch nichts zu sagen, außer dass sie in ein paar Stunden zurück sein würde.

Dann los, sagte sie sich. Leb wohl, Küstrow. Sie trat aufs Gas. Noch bevor sie die Oderniederung ganz durchquert hatte, wurde der Innenraum ihres Wagens warm. Warm! Nach Jahren! Einer von Mareks Mechanikern hatte ungefragt und wie nebenbei die Heizung des Golfs wieder in Gang gebracht. Sophie konnte es kaum fassen. Sie musste nicht mehr frierend fahren. Konnte, ohne ihren dicken Mantel tragen zu müssen, hinter dem Steuer sitzen. Was für ein Luxus! Welche Erleichterung! Sie kurbelte ihr Seitenfenster herunter und rief in den Fahrtwind: »Danke unbekannter Mechaniker! Danke Marek! Danke Will Trenck, dass Sie mich ausgerechnet zu dieser Werkstatt gebracht haben!«

16 – Sophie war an einem Sonntag

nach Küstrow gefahren, auf nur mäßig belebten Autobahnen, und fuhr dienstags zurück, in dichtem Verkehr und entlang einer ununterbrochenen Kolonne von Lkws auf der rechten Spur. Während es in Brandenburg noch trocken war, schneite es in der Gegend von Magdeburg, und weiter westlich verwandelte sich der Schnee in fetten Schneeregen. Es wurde früh dunkel. Zweimal kam der Verkehr für jeweils eine Dreiviertelstunde zum Stehen, die Fahrzeuge rückten zusammen und machten den Weg frei für Polizei, Rettungsdienste und Abschleppwagen. Bis sie in Dortmund und vor dem Hochhaus ankam, in dem sie wohnte, war es Nacht und Sophie mehr als acht Stunden unterwegs gewesen.

Weil sie, einmal in der Wohnung, nicht wieder raus wollte, räumte sie ihr Auto sofort aus und stapelte alles, was sie mitgebracht hatte, in den Fahrstuhl des Hauses. Dann fuhr sie in den siebten Stock. Dort schob sie ihre Fracht mit den Füßen in den Korridor, ließ sie liegen und schloss die Wohnungstür auf, um erst einmal Mantel und Tasche loszuwerden.

Im Flur ihrer Wohnung brannte Licht, also war Jens zuhause. Bevor Sophie einen Gruß rufen konnte, hörte sie die Toilettenspülung. Sie klopfte an die Badezimmertür und sagte: »Ich bin wieder da-ha.«

Die Tür ging auf, und in den Flur trat eine nackte Frau.

Sophie war wie vom Blitz getroffen, sprachlos und verwirrt: Hatte sie sich in der Tür geirrt? War sie in der falschen Wohnung? Natürlich nicht. Ihr Schlüssel hatte ja gepasst.

Die Nackte erschrak nicht und war auch nicht befangen wegen ihrer Nacktheit. Sie sagte nur: »Wer bist du denn?« Dann wandte sie sich ab und lief ohne Eile mit patschenden Füßen und wippenden Hinterbacken in Richtung des Schlafzimmers. Bevor die Tür hinter ihr zufiel, hörte Sophie noch, wie sie sagte: »Na, was ist? Kannst du jetzt wieder?«

Jens’ Antwort war nicht zu verstehen. Sophie stand im Flur und wusste nicht weiter. Was geht hier vor?, dachte sie, wo bin ich hier? Für einen Augenblick fühlte sie sich wie in ein Paralleluniversum verschlagen. Wenn sie kurz die Wohnung verließe und dann zurückkehrte, wäre sie dann wieder in ihrer richtigen Welt?

Dann wich ihre Benommenheit, und ihr Verstand kam wieder in Gang. Dies war die richtige Welt. Sie hängte ihren Mantel an die Flurgarderobe neben eine kleine, strahlend blaue Daunenjacke, die sie nie zuvor gesehen hatte, ließ ihre Tasche fallen und war mit wenigen Schritten an der Schlafzimmertür. Die stieß sie hart auf. Das Zimmer war gedämpft beleuchtet. Jens lag auf dem Bett, zurückgelehnt und auf seine Ellenbogen gestützt und starrte sie mit hervorquellenden Augen an. Die nackte Frau kniete vornüber gebeugt zwischen seinen Beinen und präsentierte Sophie ihre Rückseite, ein Tattoo auf ihrem Steißbein und ein Intimpiercing.

Sophie sagte: »Raus aus meiner Wohnung!«

Die Nackte ließ von Jens ab und wandte sich um. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte: »Ist das deine Frau, oder was?«

»Ich bin n-nicht verheiratet«, stammelte Jens.

»Raus aus meinem Bett!« Sophie ballte die Fäuste und trat einen Schritt ins Zimmer.

»Ist ja gut«, sagte die Nackte. Sie stand vom Bett auf und suchte ihre Kleidung zusammen. Ihr Körper war perfekt proportioniert und modelliert, vollständig haar- und fleckenlos, zart gebräunt, ohne Dellen, Dehnungsstreifen und sichtbare Adern. Sie hätte eine dieser japanischen Sexpuppen aus Silikon sein können. Ihr dummes kleines Gesicht verstärkte diesen Eindruck noch. Sie zog knöchellange Leggins an, Sneakers und einen weiten langen Pullover. Unterwäsche trug sie nicht. Die Farbe ihrer Daunenjacke passte zu den Strähnen in ihrem lackschwarzen Haar. An der Wohnungstür kramte sie in ihren Taschen nach Schlüsseln und Telefon. Sophie öffnete und stieß sie nach draußen.

»Raus!«

»Krieg dich ein, du Kuh«, sagte die Frau. »Ich nehme dir deinen kleinen Schnellspritzer schon nicht weg.«

Sophie warf die Tür zu.

Dann war sie wieder ratlos. Sie stand im Flur und wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Nichts, was sie tat würde aus der Welt schaffen, was geschehen war. Wie verhielt man sich überhaupt in so einer Situation? Gab es Ratgeberbücher, die so etwas behandelten? Was sollte sie sagen? Sollte sie Jens beschimpfen? Ihn anklagen? Weinen?

Oder … machte sie Gewese um eine Lappalie? Treue war gestern, und Jens war mal eben fremdgegangen – na und? So etwas passierte jeden Tag und jedem irgendwann einmal. So etwas musste man wegstecken können. Aber, wie machte man das? So wie im Kino? Man betrank sich, heulte einen Abend lang besoffen und anklagend herum und versöhnte sich am Ende, indem man zusammen in die Kiste stieg …?

Sophie gab sich einen Ruck und ging in die Küche um sich Kaffee zu machen. Damit war der Gang ins Schlafzimmer erst einmal aufgeschoben. Während sie auf den Wasserkocher wartete, hörte sie Jens zur Toilette gehen. Mit angehaltenem Atem bereitete sie sich innerlich darauf vor, dass er danach in die Küche kommen würde. Das tat er aber nicht. Warum nicht?

Sophie rätselte. Fürchtete er sich vor einer Auseinandersetzung? Oder war sie, Sophie, ihm bereits so gleichgültig, dass er sich nicht mehr die Mühe machte, sich mit ihr auseinanderzusetzen? Oder tat er, als wäre nichts geschehen, und verlangte damit von ihr dasselbe? War es das, was von ihr erwartet wurde? Und wenn – wie sollte sie von nun an mit Jens umgehen? Wie ging das, ganz praktisch, einen Seitensprung … Seitensprung – was für eine idiotische Bezeichnung für die schlimmste Kränkung, die man jemandem antun kann, der liebt und vertraut … wie ging das, einen ›Seitensprung‹ hinzunehmen und auszuhalten? Um eine Beziehung zu retten und sechs Jahre Leben nicht als verschwendet abschreiben zu müssen … Sophie hatte keine Ahnung. Sie hatte keine Erfahrung mit untreuen Partnern und mit dem Zusammenleben im Schatten der Untreue.

Der Kaffee war fertig.

Dann los, sagte sie sich. Egal, was jetzt kommt, ich werde nicht weinen. Mit einer Tasse Kaffee, an der sie sich krampfhaft festhielt, machte sie sich auf den Weg zum Schlafzimmer. Es war nicht Streitlust oder Rachedurst, was sie antrieb, auch nicht die Suche nach Gründen (Warum? Waru-um?) oder gar der Impuls, sich zu unterwerfen (Bitte, bitte verlass mich nicht …). Sie wollte nur einfach nicht kneifen, nicht vor sich selbst schlecht dastehen.

Jens lag seltsamerweise noch immer nackt im Bett, aber die untere Hälfte seines Körpers war jetzt mit einem Laken bedeckt. Sophie zitterte vor Aufregung am ganzen Körper und fürchtete, dass ihr jeden Augenblick die Kaffeetasse aus der Hand rutschen würde. Trotzdem gelang ihr eine lässige Eröffnung. Sie lehnte sich an den Türrahmen, denn ihre Knie waren weich, und sagte: »Wartest du auf jemanden?«

Statt einer Antwort sagte Jens: »Du warst nicht hier.«

»Ja, und?«

»Ich hatte ein Bedürfnis.«

Was? Der verdruckste kleine Satz machte Sophie gegen ihren Willen ärgerlich.

»Das musstest du dann sofort ausleben, oder wie? Konntest du nicht warten, bis ich wieder zurück war?«

»Du bist so ungeil«, sagte Jens.

Sie begriff nicht sofort, aber dann war ihr, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Sie wandte sich ab und schloss die Schlafzimmertür. Im Flur stellte sie mit zitternder Hand die Kaffeetasse ab. Danach wusste sie erst einmal nicht weiter. In ihrem Kopf ging alles Drunter und Drüber. Eine halbe Minute lang kämpfte sie um Ordnung in ihrem Denken, und der erste klare Gedanke, den sie fassen konnte, war, dass sie gerade aus ihrem bisherigen Leben vertrieben wurde. Mit drei kurzen Sätzen, bösartig wie Hiebe. Ich kann nicht hierbleiben, dachte sie, hier ist kein Platz für mich. Ich kann mich heute Abend nicht zu diesem Mann ins selbe Bett legen, ich kann die Wohnung nicht mit ihm teilen. Ich muss weg von hier, dachte sie, und zugleich fürchtete sie, dass sie, wenn sie ginge, nicht mehr zurückfinden würde. Lange Sekunden brauchte sie ihre ganze Kraft dafür, Tränen zurückzuhalten. Dann zog sie ungeschickt ihren Mantel wieder an und schlang sich ihre Tasche um. Sie verließ die Wohnung, schob das, was sie aus Brandenburg mitgebracht hatte, zurück in den Lift und fuhr wieder nach unten. Bis ihr kalt wurde, saß sie untätig in ihrem Auto und wagte nicht loszufahren, aus Angst, in ihrem aufgewühlten Zustand einen Unfall zu bauen.

17 – Sophie kannte einige Leute,

bei denen sie unterkommen konnte. Sie war eine beliebte Kollegin gewesen und hatte auch noch ein paar Freunde jenseits der Arbeit. Aber die liebste und älteste Freundin von allen, fast schon eine Schwester, war ihr eine Schulkameradin, mit der sie neun Jahre in eine Klasse gegangen war. Zwar sahen sie sich nicht mehr so oft wie früher und jedes Jahr ein wenig seltener, aber ihre Verbundenheit hatte nicht darunter gelitten.

Sabine Koch war die Art von Frau, die gewöhnlich nach vorn geschoben wird, wenn es gilt, bei Publikum und Kunden gut rüberzukommen – an einer Rezeption, am Tresen einer Sprechstunde, im Mittelgang eines Fliegers, an Messeständen. Nicht zu groß und nicht zu klein, schlank, stewardessenblond und eher gutaussehend als hübsch schien sie wie dafür geboren, schwarze Hosenanzüge und dunkelblaue Kostüme zu tragen. Sie brach ein ›Bullshit-Studium‹, wie sie es nannte, nach dem zweiten Semester ab, wurde Physiotherapeutin und lernte in einer Rehapraxis ihren Mann kennen. Holger, ein Ingenieur, ein freundlicher Riese, der Handball spielte, kurierte mit Sabines Hilfe einen Schlüsselbeinbruch aus. Sie wurden rasch ein Paar, heirateten, und kaum, dass der Pfarrer Sie-dürfen-die-Braut-jetzt-küssen gesagt hatte, war Sabine schwanger. Drei Jahre später kündigte sich das zweite Kind an. Mit seinen Ersparnissen, finanzieller Hilfe aller Eltern und einem Bankkredit kaufte das Paar ein Haus mit Garten in einer der älteren Speckgürtelgemeinden im westfälischen Umland der Stadt. Das Haus war nicht wirklich alt, aber aus der Zeit, als Waschbeton noch in Mode und Öl noch billig war. Eine neue Heizung, moderne Fenster und Rundumdämmung verschlangen das letzte Geld der beiden. Den großen Rest der Renovierung im Inneren des Hauses unternahmen sie in ihrer Freizeit selbst, was praktisch bedeutete, dass sie in einer Baustelle lebten.

Das sagte Sabine auch Sophie am Telefon. »Komm und bleib, solange es nötig ist, aber du wirst mit uns auf einer Baustelle wohnen.«

Eine halbe Stunde später umarmten sie sich an der Haustür. Das war nicht einfach, denn Sabine war im neunten Monat. Hinter ihr im Flur hüpfte eine blonde Dreijährige im Schlafanzug wie aufgezogen herum und rief immer wieder Sophies Namen. Die ging in die Knie und drückte auch die Kleine an sich. Die Umarmungen, besonders die des Kindes, brachten sie fast um ihre Fassung. Noch einmal musste sie sich mit aller Macht zusammennehmen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte das kleine Mädchen nicht traurig machen.

Die Versammlung verlagerte sich ins Innere des Hauses. Alle sprachen durcheinander.

»Sophie! Sophie!« (Hüpf, hüpf).

»Mariechen! Schätzchen, was bist du groß geworden!«

»Marie! Ab ins Bett!«

»Mama, Mama, ich will noch aufbleiben, weil die Sophie da ist!«

»Die Sophie ist morgen auch noch hier. Ins Bett. Los, sofort!«

»Lass sie doch noch ein paar Minuten.«

»Nein«, sagte Sabine. »Sonst kriege ich sie morgen früh erst nicht aus den Federn, dann schläft sie im Kindergarten noch vor Mittag wieder ein, und ich habe die verdammten Erzieherinnen am Telefon, die wissen wollen, was mit dem Kind nicht in Ordnung ist.«

»Sophie soll mich ins Bett bringen!«

»Ich bringe dich ins Bett, Mariechen«, sagte Sophie. »Lass mich nur meinen Mantel ausziehen.«

»Und vorlesen!«

»Da hast du’s«, sagte Sabine zu Sophie. »Eher wird sie jetzt ohnmächtig, als dass sie einschläft.«

Tatsächlich aber fielen dem Kind die Augen zu, kaum dass Sophie zu lesen begonnen hatte. Sie fuhr noch ein paar Minuten mit gedämpfter Stimme fort, bis die Atemzüge der Kleinen regelmäßig und tief waren. Dann stand sie auf und schlich aus dem Zimmer. Sie ließ ein kleines Nachtlicht brennen und die Tür einen Spalt weit geöffnet.

Maries Zimmer und ein Bad waren die einzigen Räume im Obergeschoss des Hauses, die schon vollständig renoviert und endgültig eingerichtet waren. Sophie suchte sich leise einen Weg über ausgelegte Plastikplanen an Leitern, Werkzeug und Farbeimern vorbei zurück ins Erdgeschoss. Sabine wartete im Wohnzimmer und hatte Tee gemacht. Holger war von irgendwoher aufgetaucht.

»Tee?«, fragte Sabine.

»Hallo Sophie«, sagte Holger. »Wein?«

Sophie entschied sich für Wein.

»Nun erzähl mal«, sagte Sabine.

Sie hatten zuletzt an Weihnachten telefoniert, und Sabine und Holger wussten deshalb schon, dass Sophie ihren Job gekündigt und eine Erbschaft gemacht hatte. Der Rest war rasch erzählt, auch mit einem Kloß im Hals. Als sie mit ihrem Bericht bei Jens und der nackten Frau anlangte, bemerkte sie, dass Sabine und ihr Mann einen Blick wechselten.

Sophie sagte: »Was guckt Ihr so? Was bedeutet das?«

Sie bekam keine Antwort.

»Habt ihr etwas gewusst? Habt Ihr gewusst, dass er eine andere hat?«

»Nein«, sagte Sabine, »aber wir haben uns gedacht, dass es mal dazu kommen würde.«

»Aber … warum habt ihr denn nichts gesagt?«

»Du weißt, dass das nicht möglich war«, sagte Holger. »So was tut man nicht. Ein Paar ist ein Paar. Da mischt man sich nicht ein. Solange du meinst, dass Ihr, Jens und du, zusammengehört, werde ich dir nicht das Gegenteil erzählen.«

»Aber wir sind doch Freunde …«

»Eben deshalb. Willst du denn von mir hören, dass ich den Mann, den du liebst, für den du einstehst, für einen Mistkerl halte? Im Umkehrschluss würde das ja heißen, dass ich meine, dass du eine dumme Nuss bist, weil du mit so einem zusammen bist. Was für ein Freund wäre ich dann?«

»Wir hätten ja auch falsch liegen können«, sagte Sabine. »Ihr hättet ja auch das perfekte Paar sein können. Von außen erkennt man doch nicht, ob zwei Menschen zusammengehören oder nicht.«

Sophie trank auf nüchternen Magen. Schon das erste halbe Glas Wein stieg ihr zu Kopf. Sie nahm noch einen tiefen Schluck.

»Es war offensichtlich, nicht wahr?«, sagte sie mit brechender Stimme. »Jeder konnte es sehen, nur ich nicht.«

»Nein«, sagte Sabine, »so war das nicht.«

»Weißt du auch, warum?«, fuhr Sophie fort. »Weil ich es nicht sehen wollte. Oh Gott … ich bin eine dumme Nuss.« Ihre Augen wurden nass. Sie hob die Hände vor ihr Gesicht und beugte sich vornüber. Endlich konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen.

»Nein. Bist du nicht. Du hast nur Pech gehabt«, sagte Sabine. Mit einem Blick und einer Kopfbewegung bedeutete sie ihrem Mann zu gehen. Den kommenden Jammer, mit Tränen und Rotz und Klagen, würden die Frauen unter sich ausmachen.

»Pech gehabt?« Sophie schluchzte in ihre Hände. »Nein, ich habe mir Illusionen gemacht, mit aller Kraft. Jens brauchte sich gar nicht anzustrengen, um mich zu täuschen. Ich habe mich selbst belogen.« Ihre Schultern zuckten. Sie weinte laut.

Holger stellte im Vorübergehen eine Rolle Küchenkrepp in Reichweite auf den Couchtisch. Sabine schwieg und wartete. Nach einigen Minuten hob Sophie ihr tränennasses Gesicht.

»Weißt du, was mir gerade klar wird, Bine? Es war harte Arbeit. Ich habe mich angestrengt, jedes Jahr ein bisschen mehr, um Jens auszuhalten. Es war harte Arbeit auszublenden, vor mir selbst zu verharmlosen, dass er kleinlich ist, selbstsüchtig, eitel. Ein Streber.«

Sophie zog die Nase hoch. Tränen rannen über ihr Gesicht und tropften von ihrem Kinn auf den Teppich zwischen ihren Füßen. Sie rollte Papier ab, um sich zu trocknen und die Nase zu putzen. Dann füllte sie ihr Glas nach und nahm einen tiefen Schluck. »Wenn mich etwas an ihm störte, wenn er mich verletzte, habe ich es hingenommen, weil, es ist doch niemand perfekt, oder? Man kann sich seinen Partner doch nicht nach Wunsch backen. Ich bin doch auch nicht perfekt, da dachte ich, wie kann ich das von jemand anderem erwarten?«

»So darfst du das nicht sehen«, sagte Sabine. »Wenn du auch nicht perfekt bist, dann jedenfalls nicht so mies nichtperfekt wie Jens. Und vor allem bist du nicht selbst schuld daran, wenn du gekränkt wirst.«

»Es gibt keinen Täter, wo nicht ein Opfer auf ihn wartet.«

»Was für ein Quatsch! Wo hast du das denn her?«

»Ich habe zugelassen, dass er mich verletzt.«

»Jeder, der liebt, macht sich verletzbar«, sagte Sabine. »Dass man liebt, macht einen zum Liebenden, nicht zum Opfer.«

Sophies Tränen versiegten für einen Moment. Sie blickte Sabine aus nassen Augen an, die Stirn gerunzelt. »Boah«, murmelte sie und schnuffelte. »Das war jetzt aber tiefsinnig. Was hast du noch mal studiert?«

Eine Minute oder zwei saßen sie sich schweigend gegenüber. Sophie, mit verschwollenem, nassem Gesicht und verstopfter Nase, atmete geräuschvoll durch den Mund. Sabine wartete geduldig. Dann sagte Sophie: »Ich bin jetzt gar nicht mehr sicher, dass ich Jens überhaupt jemals geliebt habe.«

»Das kommt dir nur so vor. Du wirst schon etwas für ihn empfunden haben, wenn du fünf Jahre mit ihm zusammen warst.«

»Ich dachte immer, wenn wir lange genug zusammen wären, würden wir irgendwann auch heiraten. Ich würde zur verheirateten Frau, Kinder bekommen, eine Familie haben … Ist das ein unmöglicher Wunsch? Ist das dumm, altmodisch, überholt, aus der Zeit?«

»Mich darfst du das nicht fragen«, sagte Sabine.

Sophie nahm wieder einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. »Jens auszuhalten war halt der Preis, den ich meinte, zahlen zu müssen, für Familie und Kinder und alles … Ich bin eine Idiotin.« Sie begann wieder zu weinen.

»Sophie!«, sagte Sabine.

»Jetzt kann ich wieder von vorn anfangen«, sagte Sophie unter Tränen. »Im Sommer werde ich dreißig. Wer weiß, wie lange es dauert, bis ich wieder einen Mann kennenlerne, oder überhaupt … Wer weiß, wie lange es dauert, bis ich sicher sein kann, wenn überhaupt, dass er der Richtige ist, und wie lange es dann noch dauert, bis wir uns über das Kinderkriegen einig sind. Wenn überhaupt … und irgendwann ist es auf einmal zu spät …«

Sabine sah sich rasch um, beugte sich dann zu Sophie vor und sagte mit gesenkter Stimme: »Wenn es ums Kinderkriegen geht, darfst du nicht die Männer fragen. Das entscheiden wir ganz allein. Das war schon immer so.«

»Erst muss ich mal wieder einen kennenlernen. Mein Gott, ich weiß gar nicht mehr, wie das geht …«

»Ach, das verlernt man doch nicht. Außerdem bist du nett und ansehnlich, da musst du gar nicht viel tun, um jemanden kennenzulernen.«

»Meinst du?«

»Aber ja. Männer sind nicht kompliziert. Meistens reicht es schon, sie nicht zurückzuweisen, um einen abzukriegen.«

»Nein, was ich wissen will … meinst du, dass ich ansehnlich bin?«

»Ja, natürlich. Schau doch mal in den Spiegel.«

Sophie leerte ihr Glas. »Ich bin fett und langweilig.«

»Sophie! Nun ist aber gut!«, sagte Sabine streng. »Und du hast jetzt auch genug getrunken.«

»Jens meint, ich sei ungeil.«

Sabine rollte die Augen. »Ach, der! Hör nicht auf den, der hat doch keine Ahnung von geil.«

»Die Frau, mit dem ich ihn erwischt habe, hat gesagt, er wäre ein Schnellspritzer.«

Einen Moment lang starrte Sabine Sophie verständnislos an. Dann prustete sie los. Sie lehnte sich weit zurück, hielt mit beiden Händen ihren Babybauch und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Am Ende lachte Sophie mit ihr. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatten. Schließlich stemmte sich Sabine schwer atmend aus ihrem Sessel hoch und sagte: »Ich glaube, ich habe mir gerade ein bisschen in die Hose gemacht.«