Kitabı oku: «Spiegelfluch & Eulenzauber», sayfa 6

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In jenem Moment fühlte ich mich vollkommen glücklich. Ich spürte, dass wir zusammengehörten – dass ich dazugehörte. Wir waren zu Hause und ich glaube, wir fühlten es alle. Unser Teppich war das süße Sommergras, unser Dach der dämmernde Himmel, an dem Dutzende Schwalben kreisten.

Ich hatte schon lange nicht mehr an diesen Tag gedacht. Mittlerweile hatte sich so viel verändert, dass ich fast daran zweifelte, ob ich ihn wirklich erlebt hatte. Der Moment – und das Zugehörigkeitsgefühl, das ich dabei empfunden hatte – war mir aus den Händen geglitten. War davongetrieben wie ein Spielzeugboot, das ein Fluss mit sich riss. In dunklen Stunden fragte ich mich, ob ich diese ganze lange Suche nach Myrsina nur auf mich nahm, weil ich mich wieder so fühlen wollte wie damals. Ich hoffte inständig, dass ich nicht so egoistisch war.

Ich strich mit den Fingern über die Federn der Maske, dann verstaute ich sie sorgfältig in meinem Rucksack.


Barbagianna verabschiedete sich von mir vor ihrer Hütte. Auf ihren Stab gestützt sah sie zu, wie ich mein Reisebündel festschnürte. Lelia hatte ich seit dem Morgen nicht mehr gesehen und auch von Matej fehlte jede Spur. Wenn ich nach ihm hinausspürte, empfing ich nur ein vages Bild von einem Bachlauf.

Ich kniete auf dem Boden und befestigte das Bündel aus meinem zusammengefalteten Mantel und einer Wolldecke an meinem Rucksack. Die Riemen, die ich dafür benutzte, verschnürte ich mit den Knoten, die Marietta mir einst beigebracht hatte. Die Art, wie ich die Schlaufen doppelt legte und von links nach rechts durchzog, sollte nicht nur lange halten, sondern auch den Träger des Bündels auf der Straße vor Schaden bewahren.

»Dein Wolf lässt sich Zeit«, bemerkte Barbagianna.

»Er wird sicher bald hier sein«, sagte ich, obwohl ich mir da selbst keineswegs sicher war. Ich stand auf und lud mir den Rucksack auf den Rücken.

Barbagianna sah zu mir hoch. »Zeig mir noch mal dein Auge.«

Im Stehen reichte sie mir gerade bis ans Kinn und von diesem Winkel aus konnte ich die Federn noch besser sehen, die sie sich in das weißgraue Haar geflochten hatte. Ich beugte mich zu ihr hinunter und sie betastete die Haut um mein rechtes Auge herum. Ich hatte immer noch keine Schmerzen und auch meine Sicht blieb ungetrübt. Es schien, als hätte der Splitter keinen Schaden angerichtet. Tatsächlich fühlte ich mich kein Stück anders als sonst. Kein neuer Instinkt, keine magische Sehkraft. Ich versuchte, mir deshalb keine Sorgen zu machen. Es brauchte Zeit, das hatte Lelia gesagt. Und Barbagianna hatte es bestätigt.

»Tief«, murmelte die alte Frau, dann fügte sie deutlicher hinzu: »Der Splitter ist sehr tief eingedrungen. Schwer zu sagen, ob er schon aufgewacht ist.«

Nicht zum ersten Mal sprach sie von dem Glassplitter, als wäre er lebendig. Darüber wollte ich lieber nicht so genau nachdenken, aber natürlich wäre es vernünftiger, Fragen zu stellen, solange ich die Gelegenheit dazu hatte. Ich nahm meinen Mut zusammen und brachte es dann doch nicht über mich, nachzuhaken. Der Splitter war in mir. Daran konnte ich nun ohnehin nichts mehr ändern.

Barbagianna war immer noch dabei, mein Auge zu untersuchen, als Matej um die Ecke des Hauses trabte. Instinktiv drehte ich mich in seine Richtung. Ich sandte ihm eine Begrüßung, aber weder antwortete er mir noch suchte er Augenkontakt. Seine Stille zog sich wie eine Hand um meinen Magen zusammen.

Barbagianna trat indessen einen Schritt zurück und legte eine Hand auf der Wölbung ihres Bauches ab. »Wo werdet ihr mit der Suche anfangen?«, wollte sie wissen.

Die Antwort kam von Matej. Wir gehen zu dem Ort, an dem wir den Spiegel das letzte Mal gesehen haben.

Mir wurde kalt. Die Lichtung am Fuß des Bergpasses. Sofort hatte ich wieder den Geruch der Holunderblüten in der Nase.

Matej, sandte ich aus, aber er reagierte nicht.

»Vernünftig«, sagte Barbagianna. »Hier.« Sie gab mir eine Ledertasche mit einem breiten Riemen. »Kräuter für einen tiefen Schlaf. Schmerzmittel. Und noch ein paar andere Helferchen.«

Verdutzt nahm ich die Tasche entgegen. »Woher weiß ich, wie ich die Kräuter verwenden soll?«

Die Barbagianna stieß ein brummiges Lachen aus. »Wirst du schon herausfinden.«

Ich runzelte die Stirn und wog die Tasche in meiner Hand. Sie war schwer. Lelia hatte gesagt, dass sie ein paar Heilkräuter für uns zusammenstellen würde, aber das hier war weit mehr, als ich erwartet hatte. Weit mehr, als wir ausgehandelt hatten. Ich warf einen verstohlenen Blick auf den Eingang der Hütte, aber von Lelia fehlte jede Spur.

Als mich von der Hütte abwandte, bemerkte ich, dass Barbagianna mich nachdenklich musterte. Als würde sie in meinem Gesicht nach etwas suchen oder darauf warten, dass ich ihr irgendetwas Wichtiges sagte. Bereute sie, uns mit der Zerstörung des Spiegels beauftragt zu haben? Dachte sie vielleicht, dass sie den Splitter an mich verschwendet hatte? Immerhin hatte ich ihn ohne ihre direkte Zustimmung genommen. Sie hatte mich dafür zwar nicht getadelt, aber sie hatte mir auch nicht gesagt, dass es eine gute Entscheidung gewesen war. Nervös schob ich mir eine Haarlocke hinters Ohr. Mein Zopf fing schon wieder an, sich aufzulösen.

»Nun gut«, sagte die Barbagianna schließlich. »Wir haben die Karten verteilt, jetzt spielen wir mit dem Blatt, das wir haben.« Ihr Mund verzog sich zu einem schrägen Lächeln. »Kopf hoch, Mädchen«, sagte sie. »Glaubst du an das Sprichwort: ›Das Glück ist mit den Tapferen‹?«

Ich schlang mir den Beutel, den sie mir gegeben hatte, über den Kopf und quer über die Brust. »Sollte ich?«

Sie lachte und tätschelte mir den Arm. »Es kann nicht schaden!« Dann, zu Matej gewandt: »Dein Weg, deine Entscheidung.«

Matej senkte zu ihrer kryptischen Bemerkung kurz den Kopf, dann machte er auf dem Absatz kehrt. Gehen wir, sagte er, und damit ließen wir die alte Zauberin und ihre Hütte im Wald hinter uns.

9

Lisbeth


Seit drei Tagen regnete es ununterbrochen. Lisbeth saß am offenen Fenster ihres Schlafzimmers und schaute hinaus auf das Flusstal. Die Landschaft hinter der Burg verschwamm hinter einem grauen Schleier und Rinnsale plätscherten aus den Mäulern der eisernen Wasserspeier.

Lisbeth hielt ihren Stickrahmen auf dem Schoß, hatte aber seit geraumer Zeit keinen neuen Stich gesetzt. Sie hörte, wie Klara in der Stube nebenan auf und ab ging, aber sie reagierte nicht darauf. Im Grünen Zimmer auf der anderen Seite des Lichthofes wartete Barbara mit dem Mittagessen. Lisbeth verspätete sich. Mit Absicht. Sie stellte sich vor, wie ihre Schwägerin auf einem der gepolsterten Stühle saß und mit den Fingern auf dem Tisch trommelte. Vor ihr standen Schüsseln mit dampfendem Braten und Semmelknödeln, aber die Höflichkeit gebot es ihr, dass sie nichts davon anfassen durfte, bevor Lisbeth sich ihr anschloss. Hoffentlich rumorte es schon in ihrem Magen. Es war eine magere Genugtuung, aber Lisbeth fühlte sich heute trotzig genug, um sie auszukosten.

Auch wenn ihr kleiner Akt des Widerstands Barbara vermutlich nicht im Mindesten beeindruckte. Im Gegenteil. Wahrscheinlich sah sie darin nur einen weiteren Beweis dafür, dass Lisbeth der Rolle als Burgherrin nicht gewachsen war. Sie war zu jung, zu verwöhnt. Zu sprunghaft. Seit der missglückten Jagd schien das der neueste Kritikpunkt gegen Lisbeth zu sein.

Dank der eifrigen Berichterstattung der Jäger hatte Barbara sofort von Lisbeths Ausreißer und ihrem ›Sturz‹ erfahren. Natürlich war sie voller Sorge gewesen. Sie hatte darauf bestanden, dass Konrads Leibarzt sie untersuchte. Hatte ein heißes Bad für sie vorbereiten lassen und ihr am nächsten Morgen das Frühstück ans Bett bringen lassen. Ihre Reaktion sprach Bände. Barbara hielt Lisbeth nicht nur für unverantwortlich, sie hielt das Kinderkriegen für ihre wichtigste Aufgabe. Der Arzt, den sie Lisbeth geschickt hatte, stellte nicht nur sicher, dass bei ihrem Sturz kein Schaden an ihrem Leib entstanden war, sondern hielt ihr auch einen Vortrag darüber, wie sie ihren Körper für Empfängnis und Geburt schonen sollte. Lisbeth Kiefer schmerzte immer noch, so fest hatte sie während seiner Untersuchung die Zähne zusammengebissen.

Graf Konrad brauchte einen Erben. Deshalb war sie hier.

Zu dumm, dass Barbara auf die erhofften Neuigkeiten noch warten musste. Lisbeths monatliche Blutung hatte sich in dieser Nacht eingestellt, pünktlich wie der Glockenschlag zum Morgen­gebet. Ihre Hochzeitsnacht hatte also keine Früchte getragen. Und mit Sicherheit wusste Barbara das bereits von der Magd, die die Bettlaken ausgetauscht hatte.

Lisbeth würde sie am liebsten alle aus der Burg werfen. Die Mägde, die Jäger, die Küchenjungen, die ihre Informationsbrocken zu Barbara trugen wie brave kleine Vögelchen. Sie könnte sie auch direkt von der Burgmauer stoßen lassen. Das wäre noch befriedigender.

Lisbeth seufzte und legte sich eine Hand auf ihren schmerzenden Unterleib. War sie enttäuscht, dass sie kein Kind empfangen hatte? Sie sollte es sein. Ein Kind würde ihre Stellung hier absichern. Es würde ihr den Vorteil gegenüber Barbara verschaffen, den sie dringend brauchte. Ihre Mutter hatte ihr wieder und wieder eingeschärft, dass die Macht einer Frau in ihrer Gebärfähigkeit lag.

In Wahrheit war Lisbeth jedoch froh. Sie wusste, dass es die falsche Reaktion war. Aber ihr erstes Gefühl bei der Erkenntnis, dass Konrad ihr kein Kind eingepflanzt hatte, war Erleichterung gewesen.

Du bist dumm, sagte sie sich. Und das war sie. Sie kannte ihre Schwächen. Ihren Trotz. Ihren Leichtsinn, der sie überrollte und davonriss wie der Wind ein loses Blatt. Gewannen ihre Impulse die Oberhand, war ihr alles egal, war sie getrieben von einem unbändigen Hunger nach Leben. Dann wünschte sie sich nichts sehnlicher, als alle Brücken hinter sich niederzureißen und ihrem Pferd die Sporen zu geben.

Sie wusste auch, was auf sie wartete, wenn sie dieser Sehnsucht nachgab. Der Nachklang ihrer jüngsten Jagd war nur ein Beweis dafür. Auf den Rausch des Freiseins folgten Erniedrigung und Buße. Sie hatte sich mit ihrem Ausreißer eine Blöße gegeben, und das, obwohl Barbara bereits die Oberhand hatte. Es würde dauern, bis sie diesen Schnitzer wieder ausmerzen konnte.

Das bedeutete vorerst keine Jagdausflüge. Keine Ausritte. Lisbeth hatte sich dieses Moratorium selbst auferlegt. Sie würde ihrer Schwägerin keine weitere Angriffsfläche bieten. Aber der Gedanke, auf unbestimmte Zeit in der Burg gefangen zu sein, ihre schweren Kleider die Gänge entlangzuschleifen, während die Tore zur grünen Welt vor den Mauern für sie verschlossen blieben … dieser Gedanke scheuerte an ihr wie ein Hemd aus kratzender Wolle.

Lisbeth rieb sich mit der Hand über den Leib und blickte gedanken­abwesend auf die Hügel jenseits der Burg. Ja. Sie war erleichtert, dass sie nicht schwanger war. Sie konnte es weder leugnen noch konnte sie den bitteren Nachgeschmack dieses Gefühls ignorieren. Denn im Widerstreit zu ihrer Erleichterung knisterte tief in ihrer Brust eine beißend kalte Angst. Was, wenn ihre Blutung immer weiter kam, von Monat zu Monat zu Monat? Wenn ihr Bauch sich niemals unter ihrem Kleid wölben würde? Wenn etwas in ihr unwiederbringlich zerstört worden war?

Ihre Finger gruben sich in den Stoff ihres Kleides. Blut. Unser Blut ist unsere Strafe. Das hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Die Blutungen waren Evas Fluch, der Preis für ihre Sünde. Auch eine Frau, die ihre Impulse nicht kontrollieren konnte, dachte Lisbeth bitter. Waren sie fair, all jene Vorschriften und Strafen, die Evas Töchter aufgebürdet bekamen? Jede Faser in ihr sträubte sich dagegen, das zu glauben. Und doch erinnerte sie sich nur zu gut daran, wie schuldig sie sich gefühlt hatte. Nicht an dem Tag, an dem sich ihre Blutung das erste Mal eingestellt hatte, sondern in dem Monat, in dem sie ausgeblieben war.


Die Erinnerungen an Lisbeths Kindheit waren erfüllt von Geräuschen und Farben. Eine Schale roter Äpfel auf einem schartigen Küchentisch. Das wechselnde Kleid der Bäume jenseits der Burgfenster und die bunten Jagdszenen auf den Gobelins im Studierzimmer. Ihr eigenes lautes Lachen und das ihrer Brüder. Johann und Matthias waren nur wenige Jahre älter als sie und für den Großteil ihrer Kindheit war das Dreiergespann unzertrennlich gewesen. Gemeinsam gingen sie angeln am Fluss, lieferten sich Wasserschlachten und lagen auf dem Gras über der Böschung, bis ihre Kleider wieder trocken waren. Sie jagten Kaninchen und stahlen junge Erbsen aus dem Garten der Müllersfrau. Nicht weil sie es mussten, sondern weil sie den Nervenkitzel liebten.

Lisbeth steckte nie zurück und war oft wagemutiger als ihre Brüder. Wenn sich andere Kinder aus der Burg ihren Abenteuern anschlossen, dann war sie es, die sich die wildesten Spiele ausdachte. Ihr Bruder Matthias gab ihr den Spitznamen Itzeblitz und den trug sie stolz wie ein Abzeichen. Sie wusste noch sehr genau, wie es sich angefühlt hatte, als sie barfuß über eine Wiese voller Klee gerannt war. Der Atem hatte ihr in der Lunge gebrannt, doch sie hatte sich angetrieben, bis sie die umgestürzte Weide erreichte, die sie als Ziel auserkoren hatten. Vor ihren Brüdern, vor Janis, dem Sohn des Hufschmieds, und seiner Schwester Phina. Vor Jakob, dem Sohn des Stallmeisters. Wenn sie die Augen schloss, sah sie immer noch sein rotes, breit grinsendes Gesicht vor sich und hörte, wie er ihre Brüder aufzog.

Ihr zwei seid lahme Ochsen und eure Schwester ist der Wind.

Von da an war er immer auf ihrer Seite gewesen, hatte sie ermutigt und sie wie eine kleine Schwester geneckt. Bis zu dem Herbstfest, an dem Lisbeth eine Krone aufgesetzt bekommen hatte.

Sie hatte in jenem Sommer ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert und nach der Weinlese im September wurde sie zum ersten Mal zur Herbstkönigin gekürt. Beim Weinfest, das wie jedes Jahr auf Heunegg stattfand, bekam Lisbeth eine Krone aus Weinlaub, Blaubeeren und Chrysanthemen aufgesetzt. Sie durfte als Erste mit nackten Füßen in das große Fass im unteren Hof steigen und die frisch gepflückten Reben zertreten. Sie hielt ihre Röcke in die Höhe und spürte, wie die weichen, sonnengewärmten Trauben unter ihren Füßen zerplatzen. Traubensaft spritzte gegen ihre Waden und sie lachte laut auf. Der Rest des Burgvolks um sie herum johlte und jubelte. Zwei Männer hoben sie aus dem Fass, die Musik begann, und sie schlüpfte mit blau befleckten Füßen in ihre Tanzschuhe. Sie war über den Hof gewirbelt, inmitten von lachenden Menschen, hatte sich Traubensaft von den Lippen geleckt, den Duft von Hefekuchen durch die Nase eingesogen und später den saftigen Geruch von Braten am Spieß.

Lisbeth erinnerte sich nicht an alle Einzelheiten, aber sie musste mit Jakob getanzt haben. Zu diesem Zeitpunkt verbrachten sie und ihre Brüder bereits weniger Zeit miteinander. Die Kinderspiele mussten den Platz für ihre Ausbildung räumen, und die führte sie auf unterschiedliche Wege. Matthias begleitete ihren Vater an den Kaiserhof, während Johannes die Universität besuchte. Nur Jakob blieb eine Konstante für Lisbeth. Sein Vater bildete ihn zu seinem Nachfolger aus und sie ging immer noch in den Stall, wenn ihr die eigenen Lektionen zu viel wurden. Nähen, Tanzen, Haushaltsführung. Geografie und Politik, gepaart mit Unterricht in der Kunst, ihr eigenes Wissen herunterzuspielen. Eine Dame mit Aussicht auf einen höheren Stand musste über das Weltgeschehen Bescheid wissen, um die Untiefen höfischer Gesellschaft zu navigieren und die Entwicklung ihrer eigenen Domäne gewinnbringend zu beeinflussen. Aber beim Einfluss sollte es bleiben. Die Herrin im Haus agierte im Hintergrund, war zuverlässig, gewitzt und im richtigen Moment unsichtbar. Sie konnte ihren Ehemann mit kluger Konversation unterhalten, prahlte aber nie mit ihrem Können und sollte in der Regel mehr zuhören, als selbst zu sprechen.

Die scheinbar endlose Zahl an Benimmregeln schnitt Lisbeth oft die Luft ab. Das Weinfest war daher eine willkommene Auszeit gewesen. Für einen Tag und eine Nacht zog Karnevalsstimmung in Heunegg ein, wurden Regeln und Einschränkungen über den Haufen geworfen. Alle waren betrunken, laut, fröhlich und Lisbeth genoss das Chaos der Feier in vollen Zügen. Für sie war es keine Überraschung gewesen, dass Jakob und sie schließlich dort landeten, wo sie sich ohnehin gern aufhielten – im Stall. Verborgen vor neugierigen Blicken küsste Lisbeth Jakob und schmeckte die klebrige Süße von neuem Wein auf seinen Lippen. Sie fuhr mit den Fingern durch sein Haar und erschauderte, als er seine Hand unter ihren Rock und zwischen ihre Beine schob. Instinkt übernahm die Führung. Nichts war einfacher gewesen, nichts natürlicher als dieses erste Zueinanderfinden. Den Rhythmus ihrer Körper musste sie nicht lernen, denn er entsprach ihrem innersten Wesen, genauso wie das Wettrennen über die Wiesen, das Balancieren auf Gartenmauern oder der Rausch der Jagd. Warme Haut an warmer Haut, ein Beben, ein Aufbäumen, und Jakob, der ihre vom Schweiß feuchte Halsbeuge küsste und flüsterte: Diana. Göttin der Jagd.

Jene Nacht war einfach gewesen. Der heikle Teil, der Spießrutenlauf kam danach.

Lisbeth wusste bereits, was nötig war, um Kinder auf die Welt zu bringen. Sie hatte zu viel Zeit in den Ställen der Burg verbracht, um über diese Vorgänge ganz im Ungewissen zu bleiben. Aber in jenem Moment, als sie mit Jakob im Stall lag, hatte sie nicht daran gedacht, und auch später nicht. Bis ihre Amme sie an einem Morgen zwei Monate nach dem Herbstfest zur Seite nahm.

Heraus damit.

Das waren ihre Worte gewesen. Lisbeth verstand zunächst nicht, woher Gudrun wusste, was sie und Jakob getan hatten. Sie wusste nicht, was es bedeutete, wenn das Monatsblut ausblieb.

Ihr war bewusst gewesen, dass ihre gemeinsame Nacht ein Geheimnis bleiben musste, eine Erinnerung, die sie nur miteinander teilten. Aber sie sah nichts Verwerfliches darin. Es war harmlos, nur ein kurzer Moment der Freiheit. Wie ihre Ausritte oder die Spätsommernächte, in denen sie heimlich auf das Dach der Kapelle kletterte, um von dort den Sternenhimmel zu betrachten. Das änderte sich, nachdem Gudrun ihr sagte, dass sie einen Bastard unter dem Herzen trug und dass sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch den Ruf ihrer Familie zerstört hatte. Man würde sie verstoßen, sie in ein Kloster schicken und aus dem Familienstammbaum streichen. Ihre Brüder würden die Schmach mittragen müssen und ihretwegen würden sie schlechtere Chancen auf eine gute Partie haben. Und sie selbst würde Gott danken müssen, dass sie weiterleben durfte, um für ihre Sünde Buße zu tun, denn niemand würde ihren Vater verurteilen, wenn er ihr für ihr Vergehen den Schädel einschlagen würde.

Gudrun sprach schnell und leise. Irgendwie war es dieses halb geflüsterte Zischen, das Lisbeth am meisten Angst machte. Es grub sich unter ihre Haut wie die brennenden Härchen einer Nessel. Gudruns Flüstern verwandelte ihre Erinnerung an die Nacht mit Jakob in etwas Schmutziges.

Gebeutelt von den Bildern von Strafe und Verdammnis, die auf sie einprasselten, war Lisbeth in Tränen ausgebrochen. Sie hatte geweint wie schon lange nicht mehr. Es war, als hätte jemand eine Kerze ausgepustet und sie verstand zum ersten Mal, wie dunkel, wie bedrohlich die Welt war, in der sie lebte. Wochenlang träumte sie davon, wie sie auf dem leeren Burghof stand, umringt von gesichtslosen Richtern, die Steine in den Fäusten hielten. Es war ein unangenehmes Erwachen. Ein Schock, der sich tief in ihre Knochen bohrte und dort für immer verhakte.

Im Nachhinein dachte Lisbeth, dass Gudrun mit ihren Warnungen absichtlich übertrieben hatte. Sie wollte ihr eine Todesangst ein­jagen, damit sie sich künftig keine Fehltritte mehr leistete. Und nachdem ihr das gelungen war, regelte sie den Rest.

Gudrun brachte Lisbeth Tasse um Tasse von einem bitteren Kräuter­tee, bis sie eines Morgens auf einem blutgetränkten Laken aufwachte. Auch darum kümmerte sich Gudrun und ließ damit die letzte Spur jenes schicksalhaften Weinfestes verschwinden. Lisbeth erinnerte sich daran, wie sie am späteren Morgen erschöpft in ihrem Bett gelegen und aus dem Fenster gestarrt hatte. Die Laken waren bereits ausgetauscht worden. Gudrun hatte ihr einen Kübel mit warmem Wasser gebracht und ihr ein frisches Nachthemd herausgelegt. Alles war blank geschrubbt. Das Bett, der Boden. Lisbeth. Trotzdem roch sie immer noch den süßlich-metallischen Geruch von Blut in der Luft. Sie fühlte sich winzig klein in ihrem Bett und die Distanz bis zum offenen Fenster schien meilenweit und unüberwindbar.

Sie hatte sich von diesem Erlebnis erholt. Mit der Zeit. Aber bis heute flüsterte jene ängstliche, verachtenswerte Stimme in ihr, dass sie ihre Lektion hätte besser lernen müssen.


Bis heute fragte sich Lisbeth, ob ihre Mutter wusste, was damals passiert war. Gudrun hatte das Geheimnis für sich behalten, da war sie sich sicher, aber es war gut möglich, dass ihre Mutter eins und eins zusammengezählt hatte. Nach jenem roten Morgen war Lisbeth eine Woche lang mit ›Magenschmerzen‹ im Bett gelegen. In der ganzen Zeit hatte ihre Mutter sie nicht besucht, sondern die Pflege Gudrun überlassen. Aber kaum war Lisbeth auf den Beinen, rief ihre Mutter sie zu sich und präsentierte ihr einen Plan für ihre Ausbildung. Von da an hielt sie strenge Übersicht, vermittelte ihr Lektionen über das Leben als Edelfrau und Ehefrau und stellte ihr Klara als Zofe an die Seite.

Lisbeth hatte sich an diesen neuen Tagesablauf gewöhnt und mit der Zeit hatte auch das Nachspiel ihrer Nacht mit Jakob seinen Schrecken verloren. Und langsam hatte sich ihr alter Trotz wieder an die Oberfläche gekämpft, zerbeult und rissig zwar, aber da war immer noch diese kleine, lebenshungrige Flamme in ihrer Brust. Jene kleine Flamme, die sie antrieb, Grenzen auszutesten und die Regeln nur ein klein wenig zu brechen. Jene Flamme, die in ihr aufglühte, wenn sie bei Jakob war.

Eines Tages würde diese Flamme sie in ernsthafte Schwierigkeiten bringen, das wusste sie. Und manchmal war sie fast versucht, eine solche Eskalation herauszufordern.

Ein besonders unangenehmer Schmerz stach in Lisbeths Unterleib und sie verzog das Gesicht. Unten im Burggarten breiteten sich die Pfützen über Rasen und Schotterwege aus. Der Pfad zu dem kleinen Eckturm stand mittlerweile ganz unter Wasser. Heckenrosen wucherten an der Turmwand hinauf, klammerten sich an einen Fenstersims und quollen vermutlich auch ins Innere. Niemand lebte oder arbeitete dort. Der Turm war ein Stück Dekoration, eine Verspieltheit, die Graf Konrad seiner ersten Frau gestattet hatte.

Dank Barbara wusste Lisbeth, dass jene erste Frau den Garten mit angelegt hatte. Konrads zweite Frau war weniger aktiv gewesen. Sie hatte es bevorzugt, auf der steinernen Bank vor dem Turm zu sitzen und sich am Duft der Heckenrosen zu erfreuen. Nachdem sie im Kindbett gestorben war, hatte man ihr ein Gebinde aus den weiß-rosa Blüten zwischen die Hände gelegt. Diese Einzelheit hatte Barbara gern weitergegeben. Über den Verbleib des tot geborenen Kindes schwieg sie sich aus.

Waren das die Wege, die Lisbeth offenstanden? Entweder sie bekam kein Kind von Konrad und riskierte damit, ihre Position in der Burg und in der weiteren Gesellschaft zu verlieren. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mann die Ehe mit einer unfruchtbaren Frau annullieren ließ. Oder sie wurde schwanger und setzte sich der Gefahr aus, bei der Geburt zu sterben. Keine dieser Optionen war erstrebenswert. Ganz zu schweigen davon, dass sie Konrad in jedem Fall gestatten musste, sich an der Erbenzeugung zu versuchen. Wieder und wieder.

Ein Schauder lief über Lisbeths Rücken und eine Welle der Übelkeit krampfte ihren Magen zusammen. Sie schloss die Augen. Reiß dich zusammen, sagte sie sich. Was brachte es ihr, wenn sie sich in Selbstmitleid ertränkte? Denn ja, es stimmte, ihre Wahlmöglichkeiten waren begrenzt. Keine Frau war glücklich über diesen Zustand. Selbst ihre Mutter hatte das eingeräumt. Gleichzeitig hatte sie Lisbeth eingebläut, dass sie ihr Schicksal mit Würde und Anstand ertragen musste. Nicht nur, um sich selbst in einer Welt abzusichern, die Töchtern den Weg zur Selbstbestimmung versperrte. Sondern auch, um das Ansehen ihrer Familie weiter zu stärken.

Ergreife jeden Vorteil. Lisbeth wiederholte den Lieblingsleitsatz ihrer Mutter. Gleichzitig schweifte ihr Blick über die regenverhangenen Hügeln , bevor er an der Kante einer Felswand hängen blieb. Plötzlich, als hätte jemand eine Hand in ihr Bewusstsein getaucht und damit den Strom ihrer Gedanken umgeleitet, kam Lisbeth eine neue Idee. War das dort draußen dieselbe Felswand, an deren Fuß sie die Blätterspirale gefunden hatte?

Ertrage, was du nicht ändern kannst. Der zweite Teil der mütterlichen Weisheit verklang in ihrem Kopf, als sie in ihrer Erinnerung zu der Spirale zurückkehrte. Dieser eigenartige Ort in den Wäldern … Lisbeth wusste immer noch nicht, was sie dazu getrieben hatte, die Lichtung zu betreten. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, nicht darüber nachzudenken, denn die Vorstellung, dass nur einen kurzen Ausritt entfernt etwas Dunkles und Mächtiges wartete – etwas, was sie auf eigenartige Weise berührt hatte –, ließ ihr Blut gefrieren. So ein Erlebnis hatte keinen Platz in der geordneten, pragmatischen Welt einer Burgherrin. Und doch …

Lisbeth bemerkte, dass sie ihre Hand auf den Fenstersims gelegt hatte. Der Regen rauschte kurz vor ihren Fingerspitzen in die Tiefe und als sie die Hand ausstreckte, prasselte kaltes Wasser auf ihre Finger. Wieder schloss sie die Augen.

Elisabeth.

Sie erinnerte sich an den geflüsterten Klang ihres Namens. Fast war es so, als hörte sie ihn erneut. Die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf und für einen Moment dachte sie, dass jemand hinter sie getreten war. Sie schluckte, zog die Hand zurück und drehte sich um.

Das Zimmer war leer. Da standen nur das monströse Bett und daneben der Spiegel. Lisbeth ballte die vom Regen nasse Faust. Sie öffnete den Mund, um laut zu fragen, ob jemand mit ihr im Raum war, aber just in dem Moment öffnete sich in der Stube nebenan eine Tür. Klara sagte etwas und dann fragte eine Mädchenstimme, ob mit der Herrin alles in Ordnung sei.

Es war, als wäre ein Bann gebrochen. Lisbeths verkrampfter Körper entspannte sich und sie rieb sich die Hand an ihrem Rock trocken.

»Sie wird bald da sein«, hörte sie Klara in der Stube sagen. Hatte Barbara also doch aufgegeben und eine Dienerin nach ihr geschickt. Während das Mädchen die Speisen herunterbetete, die nur darauf warteten, von der Herrin gekostet zu werden, drehte Lisbeth dem Zimmer wieder den Rücken zu.

Sie war dankbar für die Unterbrechung. Das rief ihr ins Gedächtnis, worauf sie sich konzentrieren sollte: auf ihre Auseinandersetzung mit einer überbordenden Schwägerin. Keine eigenartigen Blättermuster im Wald und mit Sicherheit keine Selbstmitleidsarien über ihr Los als frischgebackene Ehefrau.

Du hast einen schlechten Tag, sagte sie sich, das ist alles. Sie nahm Nadel und Faden wieder auf und setzte mit großer Sorgfalt den nächsten Stich. Ihr Tag würde nicht unbedingt besser werden, bloß weil sie Barbara den Genuss eines warmen Stücks Schweinebraten verwehrte.

Aber es konnte auch nicht schaden.

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