Kitabı oku: «Dünenvagabunden», sayfa 3

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3. Kai. Anfang März.

Es ist Anfang März. Ich sitze tatsächlich in der Nord-Ostsee-Bahn Richtung Husum, mit Ziel St. Peter-Ording. Einfache Fahrt. Einfache Fahrt in die Pampa. Ich.

Ich? Der, der doch immer nur auf Abenteuer aus war all die letzten Jahre? Was mache ich hier?

Die Alternative zum Abenteuer suchen. Es gibt sie doch, oder? Irgendwie leben doch all diese anderen Menschen auch, die nicht so leben wie ich es getan habe die letzten Jahre?

Es war egal, wo ich war, überall ging es mir um das Abenteuer, um den Kick, um das Besondere im Leben. Ein Besonderes musste sich an das andere reihen, sonst wurde mir langweilig. Das Geld dafür habe ich mir mit unterschiedlichsten Jobs in Berlin verdient. Zuletzt stand ich Tag für Tag in einer Videothek.

„Nur abgeben? Das macht dann bitte zwei Euro.“

Es hat so genervt. Ich könnte viel mehr, das wurde mir in den letzten Monaten klar. Ich habe bislang nicht darüber nachgedacht, was ich mehr könnte. Ich wollte nur surfen, und irgendwie und schnellstmöglich an das Geld kommen, das ich dafür brauche. Für so etwas wie eine Ausbildung, oder ein Studium, für so etwas was geregelter Lebenslauf genannt wird, hatte ich weder Zeit noch Gedanken.

Dieser geregelte Lebenslauf hat mich nie gereizt. Im Gegenteil, er hat mich abgestoßen. Denn was ich an denen sah, die ihn lebten, das wollte ich selbst nicht leben. Vielleicht lag das daran, dass ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin. Dort ist alles viel enger als in der Großstadt, es fehlt die Anonymität, das nicht-beobachtet-werden, das tun-können-was-ich-will.

In dieser Kleinstadt war man wer, wenn man bestimmte Dinge hatte. Und diese Dinge hatten wiederum mit Geld zu tun, viel Geld, das man verdient, wenn man diesem geregelten Lebenslauf nachgeht. Dann hatte man ein eigenes Haus und ein eigenes Auto und fuhr mehrmals im Jahr in den Urlaub.

Aber lebte man so auch sein eigenes Leben?

So jedenfalls war meine Sicht auf meine kleine Welt damals. Und diese Sicht hat mich veranlasst, mein ganz anderes Leben auszuprobieren. Ich wollte eine Alternative dazu leben, eine selbstbestimmte Biografie entwickeln. Und ich weiß, dass ich den Mut dazu habe. Aber so, wie es jetzt ist, kann es dennoch nicht weitergehen.

Mein Leben der letzten Jahre hat viel Kraft gekostet. Kaum hatte ich ein paar Monate in Berlin Geld verdient, bin ich losgezogen zum Surfen, und habe alles, restlos alles, aufgebraucht. Nie Rücklagen, nie ein festes Zuhause. Größtmögliche Freiheit eben. So langsam geht mir die Kraft dafür aus. So langsam beginnt es mich zu langweilen. Jetzt, Mitte dreißig, beginnt offensichtlich die Suche nach dem Sinn in meinem Leben.

Es muss sich etwas verändern. Ich will sesshafter werden, und trotzdem meine lebensbejahende Achtsamkeit am Leben erhalten. Ich will mehr Stetigkeit, und habe Angst vor der Langeweile, die sich darin ausbreiten könnte. Ich bin es gewohnt, Wellen unter mir zu haben, unter meinem Brett. Ich blühe auf, wenn es unruhig ist um mich herum und stürmisch und ich mich auf meinem Brett von meinem Kite durch Wellen und Sturm treiben lassen kann.

Ich habe Angst vor der Sesshaftigkeit, weil ich Angst habe auf einem Boden zu stehen, der nicht wankt.

Immer wieder musste ich raus, in fremde Länder, an neue Küsten, auf all die Meere dieses Planeten. Ich weiß nicht wie das gehen soll, einen Boden für mich zu bereiten, auf den ich mich gerne stellen mag, für lange, womöglich für immer?

Kann das ein anderer Mensch für einen tun?

Kornelia hat es versucht, meine letzte Freundin. Sie zog mir hinterher nach Berlin, hat uns eine Wohnung gesucht, wollte uns ein Nest bereiten, und eine gemeinsame Zukunft. Bevor ich in die Wohnung einzog, habe ich mich von Kornelia getrennt, und bin nach Costa Rica geflohen, zu fantastischen Wellen, und einem Leben in den Tag hinein.

Und auch die Zeiten in Berlin habe ich oft surfend verbracht. Nicht auf Wasserwellen, sondern surfend durch die Nacht. Von einem Club in den anderen, lauter Parallelwelten, ich habe mich in sie gestürzt wie in die Fluten, Nachtfluten, regellos, unberechenbar wie viele Wellen, und ich habe diese Nächte abgeritten wie ich Wellen mit dem Surfbrett abreite, gierend nach Abenteuer, sehnsüchtig nach Kick.

War das ein wahres Leben? Oder war es nicht auch nur oberflächlich, ohne Tiefgang?

Ein Surfbrett gelangt nicht in die Tiefe. Es ist dafür gemacht, auf der Oberfläche zu gleiten.

Bahnhof Tönning. Hier fährt der Zug nicht geradeaus weiter, sondern rückwärts wieder aus dem Bahnhof hinaus. Von Husum bis Tönning saß ich gegen die Fahrtrichtung, fuhr rückwärts. Jetzt fahre ich vorwärts, sitze mit Blick in Richtung dessen, was mich erwartet. Das ist für mich in dieser meiner zweifelbeladenen Zeit wahrscheinlich auch besser so. Ich würde gerne meine neue Fahrtrichtung sehen.

Die Fahrt führt durch Felder und Weiden, kaum eine Straße, geschweige denn ein Auto, ist zu sehen. Keine Häuserwände, keine Werbetafeln, keine Plakate - nur Natur. Nur.

Der Zug fährt an dem Ort namens „Welt“ vorbei. Ob sie das wird, hier, meine neue Welt?

Viktoria wird mir dabei helfen, diese Fragen zu beantworten, die ich an mich und mein Leben habe. Das immerhin, das weiß ich. Viktoria ist meine einzige wirkliche Vertraute. Sie ist ausgestiegen aus dem Lebensmodell, in das ich nie eingestiegen bin.

Und auch die See ist meine Vertraute. An ihrem Strand, der auf den ersten Blick so karg und leer erscheint, spiegelt sich für mich die ganze Vielfalt des Lebens in Muscheln und Treibgut, Wellen und Gischt, und die See fordert auf, diese Vielfalt zu leben, indem sie mit ihrer Endlosigkeit bis zum Horizont die Grenzen ignoriert, die sich der Mensch gerne selbst auferlegt.

Viktoria sagt nichts, fragt nichts. Sie lächelt leise vor sich hin, ich sehe ihr an, dass sie sich darüber freut, dass ich da bin.

Sie werkelt in ihrer Küchenecke, macht uns Abendessen aus Kartoffeln, Weißkohl und Speck. Ja, stimmt, dieser Weißkohl, es gibt ihn überall hier in rauen Mengen, hier im Weißkohlland. Sogar Kohltage feiern sie hier.

Die Einrichtung ist spartanisch in Viktorias Backhaus. Das Allernötigste befindet sich in diesem einzigen ebenerdigen Raum, aber auch wirklich nicht mehr. Ein altes klappriges Sofa. Ein einfacher Holztisch, drei Stühle daran. Eine kleine Küchen-zeile, darunter unlackierte Holzregale, in denen ein paar Lebensmittel lagern. Ein Waschbecken. Ein eintüriger Kleiderschrank, kaum breiter als ich selbst. Viel Kleidung kann darin nicht sein. Nur in einer Ecke ein Regal, mit ein paar Kisten darin, Krimskrams wahrscheinlich, den jeder so hat.

Die Wände sind leer. An den beiden Fenstern befinden sich breite Fensterbretter, auf denen liegen Muscheln, Steine, Möwenfedern und allerlei Sammelsurium vom Strand. Über diesem Raum gibt es noch den Giebel, da liegt die Matratze auf dem Boden, auf der Viktoria schläft. Viktoria scheint nicht wirklich viel eigenen Besitz zu haben.

Kaum zu glauben, dass so diese Frau lebt, die ich vor einigen Jahren im Hamburg kennengelernt habe, denke ich mir. Dass sie ihre Bedürfnisse einmal derartig herunterfahren würde, hätte ich ihr damals nicht zugetraut. Und sie auf diesen Weg zu bringen, war in dieser Intensität auch nicht mein Ansinnen damals. Aber sie hat es sich so ausgesucht.

Es zieht durch die einfachen Fensterrahmen aus Holz, das Glas darin scheint nicht sehr stark zu sein. Und überhaupt, diese unverputzten Wände!

„War es nicht sehr kalt hier im Winter, Viktoria?“ frage ich sie.

„Ja, das war es. Ich muss in diesem Jahr etwas ändern an meiner Wohnsituation, ich weiß noch nicht wie, aber es muss wärmer sein in meiner Behausung im nächsten Winter. Und du, was möchtest du verändern?“ fragt sie mich mit einem augenzwinkernden Blick über die Schulter zu mir am Holztisch sitzend.

„Vielleicht alles“, platzt es aus mir heraus.

Viktoria dreht sich um und sieht mich an: „Ich dachte mir schon, dass du deshalb hergekommen bist. Und ich staune über diese Wellenbewegungen unserer beider Leben, diese Aufs und Abs. Noch vor einigen Jahren brauchte ich deine Hilfe bei meiner Neuorientierung. Jetzt bist du hier und brauchst meine?“

„Ja, die brauche ich. Denn ich weiß nicht, wo ich anfangen soll mit dem Sortieren dessen, was war, was ich habe, und was werden soll, was ich haben will. Und wer ich überhaupt werden will, wahrscheinlich auch.“

„Lass uns erst einmal essen. Danach gehen wir mit dem Hund raus, dabei sprechen wir weiter.“

Viktorias Kohltopf ist nahrhaft und deftig, ich schlinge einige Teller davon in mich hinein. Es ist, als würde ich damit nicht nur Nahrung in mich aufnehmen, sondern auch das beruhigende Gefühl, dass eine gute Zeit vor mir liegt, die mich wieder auf die Beine und auf festen Grund stellen wird.

Es ist eine schon fast frühlingshafte Abendstimmung, als wir Richtung Dünenwald aufbrechen. Der Wind hat sich gelegt, die Vögel singen aufgeregt ihre Frühlingslieder in den Märzhimmel. Blohm, Viktorias riesiger zotteliger Hund, gibt den Weg vor, den wir gehen, und den er selbst sicherlich schon auswendig kennt. Er wirkt wie ein weiser, gebildeter älterer Herr. Schade, dass er nicht sprechen kann.

Viktoria greift mein Thema wieder auf:

„Du hast vorhin nur von der Vergangenheit und der Zukunft gesprochen. Wenn du wissen willst, wohin dein Weg gehen soll, dann beginne in der Gegenwart. Was hast du, was davon soll bleiben, was soll sich verändern, und was kann wegfallen? Mir scheint, du pendelst gerade gedanklich zwischen Vergangenheit und Zukunft, ohne zu wissen, wo du überhaupt stehst, und wohin es gehen könnte. Das ist zu haltlos. Was du als allererstes brauchst, ist ein Halt, auf dem du aufbauen kannst.“

„Meine Gegenwart ist hier, jetzt in diesem Moment. Es gibt kaum mehr etwas, was Kai ausmacht, außer ein paar weniger Umzugskisten, die ich bei Freunden in Berlin untergestellt habe.“

Viktoria sieht mich erstaunt von der Seite an.

„Heißt das, dass es keinen Kai mehr gibt, der den nächsten Surfspot ansteuert? Keinen Kai mehr, der auf das nächste Abenteuer lauert?“

„Ja, das heißt es“, antworte ich ihr in einer Inbrunst, die mich selbst erstaunt. „Es gibt diesen Kai nicht mehr, für den es das Größte ist, um die Welt zu tingeln. Aber ich weiß noch nicht, was der neue Kai machen wird, und vor allem wo - hast du eine Idee?“

„Ja, ich habe eine Idee“, deutet Viktoria an, „aber zunächst fordere ich dich auf, deine Gegenwart anzusehen. Was hast du, was bringst du mit ein dein neues Dasein?“

Viktoria kann manchmal auch nerven. Nein, sie nervt mich nicht, aber ich empfinde die Fragen, die sie mir stellt, als unangenehm. Und gleichzeitig spüre ich, dass die Fragen gut sind, und dass ich sie mir selbst viel zu selten, vielleicht sogar noch nie, gestellt habe.

Was soll ich schon mitbringen? Pfff. Einen Rucksack voll Klamotten, und einen Kitesurf-Grundschein.

Aber Viktoria meint das nicht, das weiß ich. Das Materielle ist nur die eine Seite. Die andere Seite kommt von innen. Und genau dieses Innen ist gerade mein Fragezeichen. Oder doch nicht?

„Einen müden Abenteurer, der bislang viel auf Hedonismus gegeben hat, habe ich mit hierher gebracht“, platzt es aus mir heraus. Ich bin selbst überrascht. Viktoria offensichtlich nicht.

„Was bedeutet dir Hedonismus?“ hakt sie nach.

Hm. Wo ich diesen Begriff erklären soll, wird mir bewusst, wie nahe er dem Egoismus, oder der Egozentrik, ist.

War ich das, bin ich das - egozentrisch?

Unsicher wage ich eine Antwort:

„Klingt es sehr egoistisch, wenn ich damit meine, Lebenslust zu verspüren, Spaß zu haben, glückliche Momente zu sammeln, dem Genuss zu frönen, und Abenteuer zu erleben? Das ist schon das, was ich gerne erlebt habe, und auch gerne weiterhin erleben würde.“

„Das sollst du ja auch gerne, wenn du magst. Jeder Mensch sollte das tun, ein glückliches und frohes Leben führen, das hat sogar etwas mit Eigenverantwortlichkeit zu tun. Denn der Hedonismus fragt nach dem, was das Leben schön macht, das Leben zu etwas Besonderem macht, und das eigene Leben einzigartig. Er fragt nach Müßiggang, also der Zeit für sich und die schönen Dinge des Lebens, und er fragt nach Genuss und Lust. Auf dem Weg in die Eigenverantwortlichkeit zeigt keiner so deutlich, wozu dieser Weg gut ist, wie der Hedonismus, beziehungsweise das, was aus einer hedonistischen Lebenshaltung resultiert. Schwierig wird es dann, wenn du mit dem Ausleben dessen anderen schadest, womöglich über andere, die dich mögen, hinweglebst. Oder wenn du dabei derart in Saus und Braus lebst, dass du die Umwelt schädigst und ihre Ressourcen verschwendest.

Wenn du nun eine Alternative zum reinen Abenteuer suchst, dann ist das ein großer Schritt in Richtung Eigenverantwortlichkeit, wie ich finde. Beglückwünsche dich doch einfach dazu! Aber was ist es denn eigentlich, was den Abenteurer in dir müde gemacht hat?“

„Die jahrelange Unstetigkeit, vermute ich. Darüber und dessen, nie zu wissen was in ein paar Monaten sein wird, bin ich müde geworden. Es ging jahrelang gut, und plötzlich fühle ich mich ausgelaugt bezüglich dieses Lebenswandels. Ganz ungeahnte Bedürfnisse tauchen in mir auf. Bedürfnisse nach einem konstanten Ort, an dem ich lebe, nach einer eigenen Wohnung, nach ein bisschen materieller und finanzieller Sicherheit. Und gleichzeitig machen mir diese Bedürfnisse Angst. Was ist, wenn ich mich nun um diese Stetigkeit bemühe, und wenn ich sie habe, sie nicht ertragen würde?“

„Das kannst du nur herausfinden, indem du es ausprobierst. Deine Ängste zeigen dir deine Schwachstellen auf, nichts weiter“, antwortet Viktoria trocken. „Für ein paar Wochen jedenfalls kannst du bei mir wohnen, dann wird es uns vermutlich zu eng miteinander.“

In diesem Moment sind wir oben auf dem Deich angelangt. Mir wird bewusst, dass ich so sehr in meine eigenen Gedanken und in dieses Gespräch mit Viktoria verstrickt war, dass ich jeglichen Gedanken an die See vergessen hatte!

Eigentlich ist sie doch mein erstes Ziel, wenn ich an die Küste fahre. Diesmal hatte ich sie vergessen. Nun liegt sie da in der Ferne vor mir, weit weg.

„Läuft das Wasser gerade auf, oder läuft es ab?“ frage ich Viktoria, noch nicht angekommen im Strom der Gezeiten, die hier mit jedem Tag mehr zu getreuen Begleitern werden.

„Es läuft ab, bald tritt die Ebbe ein, und mit ihr die Ruhe. Der Wind hat ja auch schon nachgelassen.“

Ja, es stimmt. Es ist schon viel friedlicher geworden, als es noch bei meiner Ankunft war. Ich bin schon viel friedlicher geworden, als ich es noch bei meiner Ankunft war.

In meiner Unruhe setzt die Ebbe ein.

In den kommenden Tagen mache ich mich daran, Viktorias Backhaus zu isolieren. Nach ein wenig Sträuben hat sie doch eingesehen, dass die schönen unverputzten Wände zu kältedurchlässig sind, und hat mir freie Hand gegeben, daran etwas zu ändern.

Auf der Suche nach den nötigen Materialien durchstreife ich den Baumarkt. In der Holzabteilung grüßt mich jemand. Es ist Piet, der Besitzer der Surfschule. Erstaunlich, dass er mich wiedererkennt. Wir hatten doch nur ein paar wenige Worte gewechselt im letzten Jahr, als ich mir in seiner Station eine Surfausrüstung geliehen hatte, um für ein paar Stunden aufs Wasser zu gehen.

„Na, bist du auch dabei, dein Haus zu isolieren, wie ich es für eine Freundin tue?“ frage ich ihn.

Er lacht. „Nicht ganz, aber so ähnlich. Wir werden in einer Woche damit beginnen, die Surfstation wieder aufzubauen, dafür brauche ich noch Material. Und übrigens auch helfende Hände. Hättest du Lust mitzumachen, gegen ein Taschengeld?“

Stimmt, hier in der nordfriesischen Wattenlandschaft ist ja vieles recht anders als im Rest der Welt. Sie bauen ihre Pfahlbauten am Strand ganz oder teilweise ab vor dem Winter, weil dann die See den Strand stark überspült - oft nicht nur mit Wasser, sondern auch mit Eisschollen. Da wäre es viel zu gefährlich, die aus Holzplatten zusammengezimmerte Surfschule einfach so darin stehen zu lassen. Vermutlich wäre am Ende des Winters nicht mehr viel von ihr übrig.

Und noch etwas, fällt mir auf, ist hier anders: Piet fragt gar nicht, was ich hier mache, ob ich hier lebe, wer genau ich bin. Als würde für ihn nur das Jetzt existieren, nur die Gegenwart. Und in dieser Gegenwart trifft er mich, benötigt helfende Hände, und spricht mich genau darauf an. Nicht mehr, und nicht weniger. Nordfriesisch trocken und klar. Besinnung auf die Gegenwart. Genau das, was Viktoria mir bei meiner Ankunft auch geraten hatte.

„Ja natürlich, ich helfe gerne mit!“ höre ich mich sagen und registriere dabei, dass ich gerade eben einen kleinen bezahlten Job angenommen habe. „Eine Wohnung könnte ich übrigens auch noch gebrauchen, falls du etwas weißt, gib mir doch bitte Bescheid?“

„Da lässt sich bestimmt etwas organisieren“, antwortet er. „Erst vor ein paar Tagen habe ich gehört, dass noch nicht alle Wohnungen für Saisonkräfte vermietet sind für dieses Jahr. Ich frage da mal nach.“

Ich gebe Piet meine Handynummer, damit er mir sagen kann, wann genau es losgehen wird mit dem Aufbau der Surfstation. Wie so vieles hier ist natürlich auch das: abhängig vom Wetter, und von den Gezeiten. Und wenn ich tatsächlich über ihn auch an eine möblierte Wohnung käme, wäre erst einmal einiges perfekt. Womit ich dann später mein Geld verdienen werde, wird sich zeigen.

Plötzlich geht alles so schnell, scheint es mir. Alles fällt mir entgegen, kommt auf mich zu, ich muss gar nichts tun, es geschieht einfach.

Es geschieht einfach so, dass ich eine Wohnung in Aussicht habe, und einen, wenn auch kurzzeitigen, Job.

Es fühlt sich so leicht an. Dann wird es wohl auch richtig sein?

4. Viktoria. Ende März.

Bin ich feige? Kai ist nun schon seit drei Wochen bei mir. Morgen wird er ausziehen, in seine eigene kleine Wohnung ganz am anderen Ende des Ortes, in Ording. Er hat sich mir so sehr anvertraut. Und was habe ich getan? Geschwiegen, über mich. Weise Ratschläge kann ich anderen geben. Aber mit dem Problem, das ich seit Jahren alleine mit mir herumschleppe, mit meinem eigenen Problem rücke ich nicht raus.

Es ist so schön zu sehen, wie Kai an sich arbeitet, sich entwickelt, sich hier ein ganz eigenes Leben aufzubauen scheint. Ich genieße die Freundschaft zu ihm, die Vertrautheit die zwischen uns gewachsen ist. Aber ich schaffe es nicht, meine eigenen Probleme ihm gegenüber kundzutun.

Ja, ich bin feige.

Ich warte mit meinem Thema, bis auch Marielou hier sein wird, rede ich mich vor mir selbst aus der Feigheit heraus. Ausreden. Wie sehr ich Ausreden doch schon immer gehasst habe. Wenn ich gemerkt habe, dass andere mir gegenüber Ausreden gebrauchen, statt mir die Wahrheit zu sagen, wurde ich immer sehr wütend. Und habe diese Wut natürlich nicht gezeigt, sondern sie schön in mich hineingeschluckt.

Aber es gibt noch viel schlimmere Ausreden - nämlich die, die man gegenüber sich selbst gebraucht. Sich selbst etwas vormacht. Sich selbst etwas harmlos redet. Sich vor den eigenen Herausforderungen wegredet. Diese Art Ausreden halten einen vor dem eigenen weiteren Lebensweg zurück. Pfui.

Kai packt sein Leben an, das gefällt mir. Er ist kaum da zurzeit, den ganzen Tag am Strand, um die Surfschule mit aufzubauen.

Das immerhin habe ich mich getraut: ihn dort zu besuchen. Ja, ich bin freiwillig an einen Ort gegangen, von dem ich wusste, dass dort einige Menschen sein werden. Und es war tatsächlich schön. Am Strand geht das recht gut, habe ich festgestellt, mich dem Kontakt mit anderen zu stellen. Und Margit war da, die Mutter von Piet, eine herzensgute Frau. Alleinlebend, aber gerne im Trubel der Surfschule den Sommer über. Sie scheint in ihrer Lebensweise das Gegenteil von mir, aber in unserer Art sind wir uns doch sehr ähnlich. Ein bisschen schroff, ein ganzes Stück lebenserfahren, und gerne mit uns allein.

Ich habe ihr geholfen, die Brote zu schmieren für die Jungs, während sie die Holzplanken geschleppt und gezimmert haben. Und ich habe mich sogar wohl gefühlt dabei. Nach zwei Stunden jedoch war es auch gut, da wollte ich weg, wieder allein sein. Aber zwei Stunden unter Menschen immerhin, das habe ich geschafft. Sogar der Lärm der Sägen und Hämmer hat mir nichts ausgemacht. Ich staune über mich selbst.

In wenigen Tagen wird alles fertig sein, und die Surfschule ihren Vorsaison-Betrieb aufnehmen.

Für den Abend habe ich Kai zu einer Art Abschiedsessen bei mir eingeladen. Aus dem Küchenfenster sehe ich ihn auf dem klapprigen alten Rad, das er von Margit geschenkt bekommen hat, auf mein Backhaus zusteuern. Im Gesicht ist er schon ganz braungebrannt von der vielen Arbeit draußen. Seine Haare sind zerzaust vom Wind.

„Hej, du gar nicht mehr so Menschenscheue“, begrüßt er mich und drückt mir dabei einen Kuss auf die Wange.

„Ja, ich gebe zu: es hat mir gut gefallen bei euch an der Surfstation heute, die Menschen um Piet herum sind alle sehr nett.“

Dies wäre eine gute Gelegenheit. Ich könnte sein „du Menschenscheue“ aufgreifen, und ihm von den Hintergründen dazu erzählen, die er noch nicht kennt. Ich könnte sagen „weißt du, was in Wahrheit dahintersteckt, dass ich Menschen meide? Ich bin übermäßig geräuschempfindlich, halte die Geräuschkulisse nicht aus, die da ist, wo viele Menschen sind. Diese Krankheit war ein wichtiger Grund, warum ich Hamburg verlassen habe, und hier in die Stille gezogen bin“.

Aber ich sage es nicht. Ich bin zu feige. Und ich rede mich wieder vor mir selbst heraus: Kai hat doch jetzt gerade, aufgekratzt wie er ist, bestimmt kein Interesse an meinem Wehklagen, oder? Welch gute Ausrede, auch jetzt wieder zu meinem Thema zu schweigen. Pfui Viktoria, pfui.

Aber in der Tat scheint Kai ein eigenes Erzählbedürfnis zu haben im Moment, er sieht ganz aufgeregt aus, freudig, als hätte er Neuigkeiten zu verkünden, und da sprudelt es auch schon aus ihm heraus:

„Gerade habe ich noch ein Bier getrunken mit Piet“, Kai schnappt nach Luft, noch etwas außer Atem vom Fahrradfahren, und sieht mich mit großen strahlenden Augen an. Abwartend starre ich ihn zurück an. Dass die Jungs ein Bier trinken zusammen, ist ja nun wirklich keine Sensation. Das scheint Kai jetzt auch zu bemerken, er lacht, und fährt endlich fort:

„Piet hat mir sein Leid geklagt, dass er für diese Saison noch dringend einen Surflehrer sucht. Eigentlich hatte er alles fertig organisiert und seine Truppe für diese Saison zusammen. Nun ist aber einer abgesprungen, der zunächst zugesagt hatte.“

Ich sehe Kai an, er sieht mich an, und grient. Ich ahne, was er mir damit sagen will.

„Du hast aber keinen Surflehrer-Schein, oder?“ frage ich ihn.

„Nein, aber ich werde ihn schnellstmöglich machen.“

So, wie Kai strahlt, als er mir das sagt, sieht er aus wie einer, dem gerade absolut klar ist, wohin seine Reise geht.

„Es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte, jetzt zu dir und nach St. Peter zu kommen. Ich spüre das. Alles kommt wie auf mich zugeflogen. Als hätten Aufgaben und Orte hier nur auf mich gewartet. Ich bin so froh darum.“

Ich umarme Kai, so sehr freue ich mich mit ihm. Das wäre auch meine Idee für ihn gewesen, in der Surfschule mitzuarbeiten, aber ich hatte nichts gesagt, weil ich ihn nicht lenken wollte. Nun ist es so gekommen, und es ist für Kai seine eigene Entscheidung, das ist gut.

Kai lässt sich auf einen Stuhl am Tisch plumpsen. Ich hole ihm eine Teetasse, und setze mich dazu.

„Vermisst du Berlin nicht?“

Das Lachen in Kais Gesicht verschwindet. Er starrt vor sich hin auf den Tisch, Bilder aus seiner Vergangenheit scheinen vor seinem geistigen Auge vorüberzuziehen. Er schweigt lange.

„Der Kai aus Berlin ist nicht der Kai, der hier bei dir am Tisch sitzt. Und diesen Kai aus Berlin möchte ich auch nicht mehr treffen.“

Ich bin mir unsicher, ob ich nachhaken sollte, nachfragen, was in Kai gerade rumort. Jedoch habe ich das Gefühl, dass etwas in ihm gärt, was raus sollte. Vorsichtig taste ich mich vor:

„Dieser Kai aus Berlin, der hat Seiten an sich, denen du nicht mehr begegnen möchtest?“

Ein kurzes Zucken gleitet über Kais Gesicht, das aussieht als hätte er Schmerzen, oder Ärger. Etwas Verächtliches könnte auch dabei sein.

„Dieser Kai aus Berlin verhält sich lieblos, sich selbst gegenüber, und Frauen gegenüber. Dieser Kai, den ich nicht mehr mag, ist tief drin in sich unzufrieden mit seinem Leben, und übertüncht dies, indem er sich die Nächte im Berliner Partyleben um die Ohren schlägt, sich dabei mit Drogen wachhält, keinem Flirt ausweicht, und eine für groß geglaubte Liebe dabei kaputtmacht.“

Ich hatte nicht gewusst, dass es etwas wie eine große Liebe in Kais Leben gegeben hat. Zusammengesunken sitzt er am Tisch. Während ich ihm eine Tasse Tee einschenke, streiche ich ihm über den Rücken. „Los, raus damit“, fordere ich ihn auf, das auf den Tisch zu legen, was ihn da gerade bedrückt.

„Kornelia war wahrscheinlich das, was eine Traumfrau genannt wird. Wunderschön, intelligent, selbstbewusst. Studierte Jura, surft auch, und zog für unsere Liebe mir hinterher von Oldenburg nach Berlin. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem wir den Sonnenuntergang von der Modersohn-Brücke aus beobachtet haben, ich hielt sie im Arm, diese wunderschöne Frau, sie war glücklich, eine Wohnung gefunden zu haben in diesem Kiez, in dem auch ich lebte, und sie freute sich darauf, dass ich bald bei ihr einziehen würde. ‚Alles ist perfekt‘ raunte sie mir ins Ohr, und genau in diesem Moment machte etwas in mir Peng. Es schnürte mir die Kehle zu, es legte mir Fesseln an die Beine, es schrie ‚Nein‘. Nein zu diesem Perfekten. Perfekt heißt fertig, angekommen, vollendet. Aber das, was ich da als Zukunft vor mir sah, als Zukunft von Kornelia und mir - das war ein Bild, in dem ich für mich plötzlich keine Zukunft mehr sah. Ich hatte mich, vielleicht eher auf ihr Drängen hin als auf meinen eigenen Wunsch, für ein Studium eingeschrieben. Meine Kisten waren gepackt, um zu ihr zu ziehen.

‚Wo ist Kai dabei geblieben?‘ schrie es in mir.

Ich ließ dieses ungute Gefühl eine Woche lang in mir rumoren. Hatte erst die Hoffnung, es würde verschwinden. Es verschwand nicht. Ich wollte nur noch eines: surfen. Solange ich nicht an einem Strand, sondern in Berlin war, tat ich es durch die Nacht. Ich vögelte in einer Woche mit zehn mir unbekannten Frauen, in irgendwelchen Clubs, Parks, in irgendwelchen Wohnungen. Ich streunte durch die Stadt, war möglichst selten zuhause, wie auf einer Flucht vor Kornelia. In den ersten Tagen hatte ich unzählige Anrufe und SMS von ihr auf meinem Handy. Am Ende der Woche nicht mehr.

Immerhin war ich so fair, sofern ich bei meinem Verhalten noch von fair sprechen kann, am Ende dieser Woche bei ihr zu klingeln. Selbst in diesem Moment noch war sie eine wunderbare, und sehr gefasste Frau. ‚Du bist der einzige Mann, den ich jemals kennengelernt habe, in dessen Augen ich das Meeresleuchten sehe, selbst hier, in der Stadt. Aber der Preis für dieses Meeresleuchten ist wohl deine Freiheit‘, sprach sie aus, als Feststellung, nicht als Frage.

Ich habe geheult. Packte die paar Klamotten zusammen, die ich bei ihr in der Wohnung hatte. Wollte sie in den Arm nehmen zum Abschied. Sie stieß mich weg: ‚Bitte geh jetzt schnell‘.

Sie wollte teilhaben an meiner Welt, an meiner Art, das Leben anzugehen. Ich habe es nicht geschafft, ihr Zutritt auf Dauer zu gewähren. Ich fühle mich dreckig und schäbig, wenn ich an mein Verhalten ihr gegenüber denke. Und zugleich weiß ich, dass es kein anderes Verhalten für mich hätte geben können, außer der Flucht. Es war mir zu eng. Ich wollte da raus.“

„Du hättest sie fragen können, ob auch sie da raus will.“

„Nein. Unsere Nähe war mir so fremd geworden.“

Auch jetzt könnte ich reden. Jetzt, nachdem wir minutenlang miteinander am Tisch gesessen haben, miteinander geschwiegen haben, um das eben Gesagte sich setzen zu lassen. Jetzt, nachdem Kai so offenherzig über sich gesprochen hat, einem Geständnis gleich.

Jetzt könnte ich sagen: „Auch in meinem Leben gibt es etwas, von dem ich dir noch nie erzählt habe, es aber gerne tun würde“. Dann würde Kai vermutlich, so wie ich vorhin zu ihm, zu mir sagen: „los, raus damit“.

Und dann käme es raus, endlich, endlich käme es raus aus mir und ich hätte einen Gesprächspartner zu meinem Leid, von dem ich weiß, dass er mich nicht auslachen wird, wie früher die anderen, sondern der mich respektvoll und liebevoll behandeln würde, mir zuhören würde, mir helfen wollen würde.

Aber ich schweige.

Als könnte ich nicht nur die anderen mit ihren Geräuschen nicht mehr hören, sondern auch mich selbst nicht mehr dazu reden hören.

Vielleicht sollte ich mir selbst einmal wirklich zuhören, um auch meine Umwelt wieder er-hören zu können. Ich erschrecke.

Bin ich nicht gerade deshalb in dieser Einsiedelei, um mir selbst zuzuhören?

Indem ich immer Ausreden finde, mit denen ich mich vor dem Aussprechen Kai gegenüber abhalten kann, verschweige ich es mir irgendwie selbst.

So komme ich nicht weiter.

„Wie fühlst du dich eigentlich in deinem frisch verputzten Zimmer?“

Ich schrecke hoch, so gedankenverloren war ich gerade im Nirgendwo. Ich weiß nicht, wie lange wir hier am Tisch gesessen und geschwiegen haben. Offensichtlich möchte Kai nun das Thema wechseln. Ich auch. Und es tut mir leid, ich hätte ihm schon längst sagen sollen, wie wohl ich mich in meinem Zuhause fühle, nachdem Kai es mir von innen verputzt und in warmem Beige gestrichen hat. Auch die Fensterrahmen hat er mit Kitt abgedichtet.

„Es ist herrlich! Es zieht nicht mehr, wenn es stürmt, und die Wärme bleibt wirklich drinnen. Es ist nicht nur viel behaglicher jetzt, ich finde, es sieht auch viel behaglicher aus! Ich bin dir sehr dankbar dafür.“

„Nicht dafür“, winkt er ab, aber ich sehe ihm die Freude über meine Freude an. Kai ist ein sehr mitfühlender Mensch, das schätze ich sehr an ihm. Umso mehr schäme ich mich, ihm etwas zu verschweigen über mich. Bald, bald muss ich das ändern.

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