Kitabı oku: «Wolken klingen rosa»
Katrin Meyer
Wolken klingen rosa
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Inhaltsverzeichnis
Titel
All you can feel
Für dich eine Brise, für mich ein Orkan
Merle
Nichts geht mehr
Sonne, Mond und Berge
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Von Märchenprinzen und Pferdeschwanzfrauen
Unglück mit Ausblick
Frühlingssinfonie
Von der Schlossallee in die Badstraße
Nicht aus jeder Wolke fällt Regen
Schachmatt
Alte Schmerzen, neue Wege
Impressum neobooks
All you can feel
Wolken klingen rosa
Katrin Meyer
Sie hat mich angelächelt. Die Kassiererin an der Tankstelle hat mir heute den Tag gerettet. Viel Freundlichkeit bin ich bisher noch nicht begegnet. Üblicherweise wird an der grünen Ampel aggressiv gehupt, wenn man sich nicht innerhalb der nächsten zehntel Sekunde auflöst um den schnellen Porschefahrer vorbei zu lassen. Wahrscheinlich bekommt man dann noch den Stinkefinger gezeigt. Wenn nicht, hatte man entweder Glück – oder der Porschefahrer einen guten Tag.
Der Klügere gibt nach, heißt es. Ich mache grundsätzlich jedem heranrasenden Fahrzeug Platz, wenn der vorhanden ist, manchmal fahre ich auch gerne ein paar Meter rückwärts um es meinen gehetzten Mitmenschen so bequem wie möglich zu machen und deute freundlich mit der Hand. Oft bräuchte es nur ein paar Zentimeter um in die nächste Parklücke einzuscheren… egal! Ein kurzes dankbares Erwidern meiner Handbewegung wäre natürlich zu viel verlangt. Ein Lächeln erst recht. Stur wird geradeaus gefahren – ein Toastbrot hat meines Erachtens mehr Charme.
“Mann, sieh´ zu!”, echauffiert sich ein Mann mittleren Alters, weil eine Radfahrerin, vollbepackt mit Einkaufskörben, ein wenig vom Fahrradweg abweicht und sichtlich geschockt dreinblickt, weil sie gerade noch einen Sturz abwenden konnte. Ich überlege kurz, ob es Menschen auch in “nett” gibt, dann muss ich mich selber in Sicherheit bringen. Eine wild gewordene Halbwüchsige mit Stöpseln in den Ohren und Handy vor der Nase scheint derart erbost über ihren Gesprächspartner zu sein, dass sie gar nicht mitbekommt, dass hier auch noch andere Leute unterwegs sind. Energisch steuert sie auf mich zu.
In was für Zeiten leben wir eigentlich? Muss man sich heutzutage mit dem Lächeln der Kassiererin an der Tankstelle zufriedengeben? Oder mache ich mir nur wieder zu viele Gedanken? In der Regel mache ich mir über alles und jeden Gedanken. Aber bevor ich mich wieder vollständig in dem Wirrwarr meines Kopfes verliere, holt mich ein Polizeiwagen wieder ins Hier und Jetzt zurück. Selbstverständlich brüllt das Martinshorn genau in dem Moment los, als das Fahrzeug nur wenige Meter von mir entfernt in die nächste Seitenstraße abbiegt. Mein Herz schlägt einen Salto, meine Beine werden weich wie gut durchgegarte Spaghetti und der Aggregatzustand meines Blutes wird kaum mehr messbar sein.
Ich muss nach Hause. Sofort! Das alles überfordert mich derart und was ich nun brauche, sind erst einmal ein paar Stunden absolute Ruhe
Das Telefon klingelt:” Hi Alex, hier ist Merle! Hast du Lust auf einen kleinen Abendspaziergang?”
“Merle, Liebes! Sei mir nicht böse. Ich hatte einen anstrengenden Tag,” sage ich.
Aber ich meine: Lass´ mich bloß in Ruhe!!! Es ist bereits neunzehn Uhr durch und ich will heute niemanden mehr hören und sehen!!! Dann knalle ich in Gedanken den Telefonhörer auf.
Merle scheint tiefenentspannt zu sein und gerade Lust auf Smalltalk zu haben.
“Magst du reden?”
NEIN!!! Absolut nicht!!!
“Ach, das ist lieb gemeint. Geht schon,” flöte ich ins Telefon und hoffe, dass sie mir weitere Fragen erspart. Warum habe ich das Gespräch bloß angenommen? Eigentlich bin ich doch ein erwachsener mündiger Bürger, der die Freiheit hat zu entscheiden, ob er gerade gesprächsbereit ist oder nicht.
Zum Glück erkennt Merle, dass ich es gerade nicht bin und wünscht mir noch einen erholsamen Abend. Mit Mühe schaffe ich es, das Gespräch respektvoll zu beenden.
Ich lebe nach dem Motto “all you can feel”. Mir ist alles zu laut oder zu leise, zu schnell oder zu langsam, zu hoch oder zu tief, zu aufregend oder zu trist. Ein gesundes Mittelmaß gibt es für mich nicht. Mein Kopf ist ein mentaler Spaghetti-Teller und der Kellner in meinem Oberstübchen hat gerade eine besonders große Portion serviert. Danke dafür!
Ich überlege, ob ich Merle nicht eben zu unfreundlich abgewürgt habe. Bestimmt hätte sie gerne noch eine Weile mit mir geplaudert und nun ist sie beleidigt, dass ich nicht darauf eingegangen bin. Ich stelle mir vor, wie sie jetzt ganz traurig auf dem Sofa sitzt und sich fragt, ob diese Freundschaft überhaupt noch einen Sinn macht. Ich könnte das sogar verstehen, denn wirklich einfach ist es nicht mit mir. Vielleicht sollte ich sie noch einmal zurückrufen und mich entschuldigen. Aber dazu fehlt mir jetzt die Kraft und sicher werde ich nicht die richtigen Worte finden.
Mit der ersehnten Ruhe, die ich mir eigentlich gönnen wollte, ist es nun vorbei. Ich verliere mich nahezu in der Vorstellung, wie es meiner Freundin jetzt wohl geht und ich fühle mich erbärmlich. Unfähig, überhaupt eine zwischenmenschliche Beziehung einzugehen.
Eine ganze Weile schreien sich die Hauptdarsteller in meinem selbst inszenierten Drama noch an, dann muss ich wohl doch eingeschlafen sein. Mein Freund Sascha weckt mich mit einem sanften Kuss.
Für dich eine Brise, für mich ein Orkan
Wann es anfing mit dem Gefühl in jeder Brise des Lebens einen Orkan zu sehen, weiß ich nicht. Schon früh gehörten Stille und Rückzug zu meinen essenziellen Grundbedürfnissen und ich brauchte immer viel Zeit um Situationen zu bewerten, Erlebnisse zu verarbeiten und Zusammenhänge in Dingen zu erkennen. Meine Mitschüler habe ich als zu wild und zu laut empfunden und in den Pausen habe ich mir immer eine ruhige Ecke gesucht, in die ich mich zurückziehen konnte, um alleine zu sein. Ich machte den Fehler zu glauben, dass die breite Masse so dachte, wie ich.
“Mit der stimmt was nicht...”
“Die ist aber empfindlich...”
“Spielverderber!”
All das waren noch harmlose Angriffe auf meine Dünnhäutigkeit.
Ich habe es mitbekommen, was hinter meinem Rücken getuschelt wurde, wie sie gelacht haben über mich.
Dass es mir weh tat und ich langsam anfing an mir zu zweifeln hat aber niemand bemerkt. Ich habe immer viel gespürt aber nie was gesagt. Ich war schon früh eine Meisterin des Aushaltens.
Und nun, viele Jahre später, liege ich hier auf dem Sofa, und kann nicht aufhören daran zu denken, wie es meiner Freundin wohl gerade geht. Dass ich überhaupt eine Freundin gefunden habe und so einen liebevollen Partner.
“Dein Tag scheint ja ganz schön anstrengend gewesen zu sein, du schläfst doch sonst nicht um diese Zeit hier ein,” flüstert mir Sascha behutsam ins Ohr.
“Ach,” seufze ich,” ich bin einfach nur müde.”
Am nächsten Tag reihe ich mich wieder ein in das Verkehrschaos der Großstadt. Einer Stadt, in der die Menschen hart arbeiten, viel Geld für andere machen, in eine Welt des Konsums und der ewig im Vordergrund stehenden Gewinnmaximierung. So zermürbend alltäglich, dass sich mein Kopf anfühlt wie aus Watte. Ich bin ein Teil von ihnen. Und ich habe doch gar nicht das Bedürfnis, irgendwo dazuzugehören. Ich befinde mich auf dem schmalen Grat zwischen Anpassung und dem dringenden Wunsch ein Individuum zu sein. Ich möchte nicht überschüttet werden mit Meinungen und Ratschlägen von Menschen die ich nicht darum gebeten habe. Sie denken doch sowieso von mir was sie denken wollen. Sie hören doch sowieso nur das was sie hören wollen. Warum bin ich so besessen von dem Gedanken, es jedem recht machen zu wollen? Ich kann manchmal gar nicht mehr zwischen ihnen und mir unterscheiden. Ihre Emotionen sind auch meine, ihr Druck ist auch meiner, ihre Ansprüche sind auch meine. Ich verschwinde regelrecht in ihnen.
Und heute Abend wird es das gleiche sein. Alle Ameisen krabbeln zurück in ihren Bau, nur um am nächsten Tag wieder die gleiche harte Arbeit zu tun.
`Du wolltest noch Merle zurückrufen und denk´ dran heute noch ein Geburtstagsgeschenk für sie zu kaufen. Wie lange weißt du eigentlich schon, dass sie am Samstag Geburtstag hat??? Es ist wie Weihnachten! Weihnachten kommt ja auch immer ganz plötzlich! ´
Ich bin noch keine zwei Minuten wach, bekomme kaum die Augen auf, aber mein innerer Antreiber hat den Dienst schon längst wieder aufgenommen. Er scheint mal wieder richtig gut in Form zu sein.
`Halt´ die Klappe´, denke ich und schleppe mich ins Bad wie jeden Morgen. Und doch fühlt es sich heute befremdlicher an. Dunkler, enger. Als würde sich eine Veränderung in meinem Leben anbahnen.
Sascha hat sich, wie jeden Morgen, schon einen Kaffee aufgebrüht und mir meinen Lieblingstee in meiner Lieblingstasse in den dezenten Farben bereitgestellt. Es ist ein liebgewonnenes Ritual geworden, auf das ich nicht mehr verzichten möchte. An frisch gemahlenem Kaffee riechen zu dürfen, ist für mich immer eine ganz besondere Freude, aber nachdem ich einmal davon gekostet hatte, bin ich doch lieber auf Tee umgestiegen. Ich lief den ganzen Tag auf Hochtouren und auch mein Magen nahm mir diesen Fauxpas, im wahrsten Sinne des Wortes, übel.
Die eiskalte Morgenluft veranlasst mich, meine Jacke noch fester zu schließen und mir meinen kuschelig orangefarbenen Schal über die Nase zu ziehen. Der Winter und ich sind keine Freunde.
WUMMS! Der Dauerfrost hat der Straße übel zugesetzt. Das wird im nächsten Jahr wieder für viele Baustellen sorgen und noch mehr Arbeit für überforderte Mitarbeiter in den Autowerkstätten. Im Prinzip müsste man Slalom fahren um den vielen, teilweise sehr tiefen Schlaglöchern auszuweichen. Ich konnte so schnell nicht reagieren. Geblendet vom Licht des Gegenverkehrs und abgelenkt durch die aufdringliche Werbung im Radio ist mein Stresslevel schon wieder so hoch wie die chinesische Mauer lang ist.
`Das musst du heute Abend Sascha zeigen, vielleicht ist eine Achse gebrochen, katastrophisiert mein Kopf und mahnt mich zur Eile, weil ich schon spät dran bin.
`Dann könnte ich wohl kaum noch fahren´, mutmaße ich, aber ich habe jetzt keine Lust in einen Dialog zu treten, bei dem ich nicht das letzte Wort haben werde.
Am nächsten Tag betrete ich erneut die Showbühne des Berufsalltags. Willkommen beim Festival der Stimmungen! Patricia begrüßt mich stürmisch und scheint mal wieder übereifrig, Jonas ist gereizt, Holger betrübt, Larissa unternehmungslustig, Sebastian möchte wieder witzig sein und Claudia versucht ihre Unsicherheit durch ein Dauerlächeln zu überspielen. Marco scheint gar nicht da zu sein. Er sitzt an seinem Schreibtisch und versteckt sich hinter einem Stapel von Akten. Und ich? Fühle mich für alles und jeden verantwortlich.
Irgendwie gelingt es mir dann doch, den Arbeitstag mit all seinen Anforderungen durchzustehen. Mich auf ein neues Computerprogramm einzustellen, nachdem ich mich gerade an das alte gewöhnt hatte, am Telefon freundlich zu lächeln, obwohl mir gar nicht danach zumute ist und im Meeting eine professionelle Haltung einzunehmen, wobei ich schon das Wort “Meeting” zutiefst verabscheue. Diese blöden Anglizismen!
In der Pause versuche ich Smalltalk mit den Kollegen zu halten, was ich außerordentlich anstrengend finde und um siebzehn Uhr lasse ich alles fallen. Nur nicht mich. Ich muss ja noch ein Geschenk für Merle besorgen. So hat es der innere Antreiber mir heute morgen befohlen. Jetzt aber noch in ein Einkaufszentrum zu gehen, unter Menschen, die nicht zur Ruhe kommen, an Geschäften vorbei, aus denen die unterschiedlichsten Gerüche dringen, beschallt von Musik, die mir ein leichtes Lebensgefühl und Spaß am Kaufen vermitteln soll, erscheint mir als eine so maßlose Herausforderung, die ich heute nicht mehr würde bewältigen können. Ein kleines Geschäft mit einer netten Beratung könnte ich vielleicht noch akzeptieren, aber die gibt es ja kaum noch. Ich habe nicht mal mehr die Kraft, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. In meinem Körper herrscht eine solche Schwere und Antriebslosigkeit, wie ich sie noch nie empfunden habe. Wie ferngesteuert begebe ich mich ins Parkhaus, finde mein Auto intuitiv und fahre sicher nach Hause, ohne jedoch konzentriert und aufmerksam an diesem Vorgang beteiligt zu sein. Ohne jede Mimik oder eine freundliche Geste begrüße ich meinen Freund und verschwinde im Badezimmer. Ruhe, einfach nur Ruhe. Atmen, einfach nur Atmen und langsam wieder bei mir ankommen. Ich lasse angenehm kühles Leitungswasser über mein Handgelenk fließen um mich wieder zu spüren und alles Belastende von mir abzuwaschen.
Allmählich bemerke ich, dass ich wieder bereit bin, mich auf meinen Freund einzulassen. Ihn in den Arm zu nehmen und für einen Augenblick nur die Berührung zu genießen. Nicht zu sprechen, einfach nur da zu sein. Sonst nichts.
Ist das die Veränderung, die sich gestern so verheißungsvoll ankündigte? Ich könnte im Moment nichts dagegensetzen, aber es fühlt sich beunruhigend an.
In dieser Nacht finde ich keinen erholsamen Schlaf. Ich schrecke immer wieder hoch, mit dem Gedanken, noch kein Geburtstagsgeschenk für Merle zu haben. Ich würde ihr Zeit schenken. Nichts Materielles, was vielleicht für ein paar Tage Freude bereitet um dann langsam, immer blasser werdend aus der Erinnerung und schließlich zwischen dem ganzen anderen bedeutungslosen Zeug zu verschwinden. Eine Einladung zum Essen müsste diesmal reichen. Sie dürfte entscheiden, wo wir hingehen und ich würde mich an diesem Abend ganz und gar auf sie einlassen. Ja, das fühlt sich gut an. Es würde genug sein.
Der Schlaf kommt trotzdem nicht. Ich jage ihm nach, wie eine Katze ihrer Beute, aber ich hole ihn nicht ein.
Die Melancholie am nächsten Morgen erschreckt mich. Ich habe irgendein diffuses Gefühl von Angst, das ich nicht greifen kann. Aber mein Bestreben, Dinge gut zu machen treibt mich wieder an meinen Arbeitsplatz. Jeden neuen Tag verlange ich Höchstleistungen von mir selber ab, gehe gewissenhaft meinen Verpflichtungen nach, plane, organisiere und beurteile und halte es aus, wenn ich durch andauerndes Telefonklingeln immer wieder aus meiner Konzentration gerissen werde. Jedes Anliegen eines Arbeitskollegen wird als besonders dringlich auf meine immer länger werdende To-Do Liste gesetzt und ich ignoriere völlig, dass sich mein Körper langsam auf einen Streik vorbereitet.
Merle
Der Abend, der nur meiner Freundin Merle und mir gehören sollte, beginnt mit trüber Stimmung. Ich bin viel zu müde, daran wird auch sicher die Kälte und das klare Licht des Vollmondes nichts ändern. Eigentlich liebe ich diese mystische Stimmung. Sie ist rätselhaft und hat gleichzeitig etwas Heilendes. Sie hat mich bisher immer mitgenommen in eine andere Welt, in die ich mich zurückziehen konnte, wenn mir die reale zu überwältigend vorkam. Aber heute Abend wird es keine Möglichkeit zum Rückzug geben. Ich werde mich hineinstürzen in ein Universum von Fülle und Überforderung. Was ist nur passiert, dass ich mich nicht mehr auf ein paar unbeschwerte Stunden mit meiner Freundin freuen kann? Hat der Alltag mich so verändert, dass ich nicht mehr genießen kann oder bin ich im Grunde genommen niemals bereit gewesen zu genießen? Ich sortiere meine Gedanken nach Farben und muss feststellen, dass nur die ganz dunklen des Winters von mir Besitz ergriffen haben. Werde ich es schaffen, das Helle, das Freundliche, das Lebendige wieder zuzulassen?
Meine Freundin ist, wie immer, pünktlich. Als ich sie sehe, keimt tatsächlich ein Fünkchen Freude auf.
Ich begegnete Merle an einem Tag, der mir schon morgens vorkam wie ein nicht bezwingbarer Berg. Völlig orientierungslos trudelte ich durch mein persönliches All und hatte viele Fragen an das Leben. Irgendwie schien es, dass die Welt von und für die Lauten gemacht war. Es bereitete mir große Schwierigkeiten, mich darin zurecht zu finden.
Nach einem anstrengenden Arbeitstag mit fordernden Kunden und Kollegen, die hektisch zwischen Telefon und Aktenordnen umherirrten, scheinbar eine Art Konkurrenzkampf zwischen einander ausfechtend, entschied ich mich, in einem kleinen Café die ganze Anspannung hinunterzuspülen. Die Unruhe in mir und der Lärm der Großstadt draußen formierten sich zu einer immer bedrohlicher heranwachsenden Lawine, die mich mit sich fortreißen würde, wenn ich nicht schnell genug gegensteuerte.
Hektisch wühlte ich in meiner Handtasche nach dem Portemonnaie um zu bezahlen, als plötzlich eine junge Frau mit ihrem Hund das Café betrat, der sich scheinbar mächtig über den Mann am Nebentisch freute.
“Na Maggi? Wieder gut gelaunt heute?”
Ich bemerkte, dass der jungen Frau das Verhalten ihres Vierbeiners unangenehm war.
“Entschuldigen Sie bitte, mein Hund ist manchmal etwas ungestüm. Stört es Sie, wenn wir uns neben Sie setzen? “ fragte sie mich sichtlich verlegen.
“Nein, ich wollte sowieso gerade gehen, “erwiderte ich freundlich.
Ich war amüsiert über diesen kleinen Dackel, über den Namen, der so wunderbar zu dieser kleinen, dunkelbraunen Fellnase passte und über diese pure unerschrockene Art von Lebensfreude. Außerdem war ich angenehm überrascht von diesem ausgeprägten Maß an Rücksichtnahme.
Jetzt wäre ich am liebsten doch noch etwas länger geblieben um die Szenerie zu beobachten. Das Leben schien mich gerade zu einem Glücksmoment einzuladen. Warum sollte ich sie nicht annehmen?
Ich war neugierig, in welcher Beziehung die junge Frau zu dem Mann stand, dessen Alter ich auf ungefähr fünfzig Jahre schätzte, und wie der Hund sich weiter verhalten würde.
Nach einer ausgiebigen Begrüßung legte er sich unter den Tisch und wartete geduldig. Er schien zufrieden zu sein und nur im Hier und Jetzt zu leben. Die Ruhe, die von der jungen Frau ausging, schien sich auf ihn zu übertragen. Sie hatte eine angenehm sanfte Stimme und ich merkte, dass auch ich langsam ruhiger wurde. Mein Portemonnaie hielt ich zwar immer noch in der Hand, aber nicht mehr so verkrampft. Ich blickte aus dem Fenster, bemerkte die Menschen auf der Straße, die abgeplatzte Farbe der Fensterbank, die dezente Dekoration auf dem Tisch und die leise Hintergrundmusik. Ich konnte für einen Augenblick loslassen und fand langsam zu meiner inneren Mitte zurück. Wie sehr ich das gerade brauchte und wie leicht es zu haben war!
Als ich bezahlt hatte, stand ich auf, hob den Stuhl, auf dem ich saß, an, und schob ihn vorsichtig unter den Tisch. Niemand sollte sich gestört fühlen. Langsam und mit einem inneren Lächeln verließ ich das Café und erreichte wenig später mein Auto. Gerade als ich die Autotür öffnen wollte, hörte ich ein durchdringendes Quietschen von Reifen, einen schmerzhaften Schrei und das markerschütternde Jaulen eines Hundes. MAGGI!!!
Ein Radfahrer hatte ihn angefahren. Ich eilte zurück um mir Gewissheit zu verschaffen, dass niemand ernsthaft verletzt war und um die zitternde junge Frau zu beruhigen, deren Bekannter nun ebenfalls, sichtlich geschockt, aus dem Café gelaufen kam. Aus Maggis Vorderpfote tropfte ein wenig Blut. “Kommen Sie!” rief ich, “ich fahre mit Ihnen zum Tierarzt! Mein Auto steht gleich dort drüben!”
“Vielen Dank!” rief sie bestürzt und hob ihren Hund vorsichtig hoch.
Kurz wendete sie sich ihrem Begleiter zu. “Ich rufe dich an!”
“Ja, sagte der Mann, “kümmere dich erstmal um Maggi!”
Aus seinem Gesichtsausdruck konnte man großes Entsetzen ablesen. Der Radfahrer entschuldigte sich mehrere Male. Auch ihm schien der Unfall einen großen Schrecken eingejagt zu haben.
“Vielen Dank! Ich heiße Merle!” stellte sich die junge Frau später im Auto vor. Ihre Stimme zitterte noch immer, während Maggi ruhig auf ihrem Schoß lag. Um seine Pfote hatte sie ein Taschentuch gewickelt.
“Ich könnte jetzt gar nicht fahren!”
“Machen Sie sich keine Sorgen,” versuchte ich sie zu beruhigen. “Das ist doch selbstverständlich.”
Sie wies mir den Weg zu ihrem Tierarzt, dessen Praxis zum Glück schnell zu erreichen war. Dann drückte ich ihr noch meine Telefonnummer in die Hand mit der Bitte, mich wissen zu lassen, wie es Maggi ging.
Wieder einmal reagierte ich in dieser Situation umsichtig und schnell. Erst später fingen auch meine Knie an zu zittern.
Merle rief mich am nächsten Tag an und berichtete erleichtert, dass eine Kralle an Maggis Vorderpfote leicht verletzt war. Der Tierarzt sicherte jedoch eine schnelle, unkomplizierte Heilung zu. Sie lud mich zum Dank auf einen Kaffee ein, was ich gerne annahm.
Später sollte ich erfahren, dass Merle Maggi aus einem Tierheim geholt hatte. Er half ihr, nach der Trennung von ihrem Freund, die sehr schmerzhaft für sie war, wieder Boden unter ihren Füßen zu spüren. Sie berichtete, dass Veränderungen in ihrem Leben immer mit starken Emotionen verbunden waren, und sie immer sehr lange bräuchte, Dinge zu verarbeiten. Das machte sie mir umso sympathischer, ich konnte das alles deutlich nachvollziehen.
Der Mann in dem Café sei ihr Onkel Marek gewesen, mit dem sie noch etwas für die Geburtstagsfeier ihrer Tante Ilona besprechen wollte.
Sie hätte eine sehr enge Beziehung zu ihren Verwandten, überhaupt würde die Familie ihr viel bedeuten.
Ich erkannte sie immer mehr als eine Art Seelenverwandte und fühlte mich in ihrer Anwesenheit ausgesprochen wohl.
Wir verabredeten uns hin und wieder zu Spaziergängen mit Maggi, die mir sehr guttaten. Ich bewegte mich gerne in der Natur. Wertschätzend und wahrnehmend. Im Wald konnte ich zu mir kommen und fühlte mich verbunden mit dem großen Ganzen.
Langsam entwickelte sich zwischen uns eine tiefe, verlässliche Freundschaft.
Wie viel mir diese Freundschaft bedeutet, wird mir an diesem Abend einmal mehr bewusst. Die Begrüßung ist herzlich, ich kann es zulassen, dass sie mich in den Arm nimmt. An manchen Tagen kann ich nicht mal die Berührung des Pullovers an meiner Haut ertragen.
Das Restaurant, das sie sich ausgesucht hat, strahlt eine warme, ruhige Atmosphäre aus. Es ist nicht zu laut und die frisch zubereiteten Speisen verströmen einen zarten, angenehmen Duft.
Wir unterhalten uns auf Augenhöhe. Immer finden wir Themen, die es zu besprechen gibt, niemals driftet das Gespräch in oberflächlichen Smalltalk ab, der uns beide nur langweilen und ermüden würde. Wir halten Blickkontakt, der niemals aufdringlich ist. Wir sind mit der Aufmerksamkeit ganz bei uns. Und selbst, wenn wir schweigen ist es niemals unangenehm. Keine von uns hat das Bedürfnis, die Stille zu stören, wenn sie gerade da sein will. Wir können das Schweigen aushalten.
Merle gelingt es auch an diesem Abend, mich für eine Weile von meinem Trübsinn abzulenken. So wie damals, als wir uns kennengelernt haben, überträgt sich ihre Ruhe auf mich und die Sanftheit ihrer Stimme streichelt meine Seele.
“Ich soll dich übrigens auch herzlich von Onkel Marek und Tante Ilona grüßen, sie passen heute auf Maggi auf.”
“Holst du ihn später noch ab, oder schläft er dort?”
“Nein, Maggi schläft am liebsten in seinem eigenen Körbchen. Ich bin auch ruhiger, wenn er zu Hause ist. Außerdem ist so gegen halb sechs Uhr morgens das erste Mal Gassi gehen angesagt. Das will ich den Beiden nicht zumuten.”
“Bitte richte den Beiden liebe Grüße von mir aus!”
Marek und Ilona sind mir während der Freundschaft zu Merle regelrecht ans Herz gewachsen. Überhaupt ist ihre ganze Familie so herzlich, so offen und bodenständig, dass ich schon manchmal gedacht habe, ich gehöre irgendwie dazu. Mit dem Temperament von Ilona hatte ich zwar anfangs so meine Schwierigkeiten, sie ist schon sehr energiegeladen, und ich habe sie eigentlich noch nie schlecht gelaunt erlebt. Aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.