Kitabı oku: «Wer bin ich?», sayfa 3
1.2. Einordnung in die christliche Tradition
Obwohl das Enneagramm der Persönlichkeitstypen eine ‚Entwicklung’ unserer Zeit ist, liegen seine Wurzeln in einer Vergangenheit, die als ‚bruchstückhaft’ gesehen werden darf.
Ebert beschreibt seinen Aufsatz in der internationalen amerikanischen Enneagramm-Zeitschrift „Enneagram Monthly“ (März 1996) unter dem Titel „Are the Origins of the Enneagram Christian at all?“ wie seine ‚Suche’ nach einer christlichen Quelle des Enneagramms eine Antwort zum Teil in Evagrios Pontikos’ Schriften findet. Unabhängig von ihm sei auch Lynn Quirolo zur gleichen Feststellung gelangt. Ihr Aufsatz erschien in der gleichen Zeitschrift in zwei Teilen unter dem Titel ‚Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram‘.54 In Eberts deutscher Version des Artikels, der im Rundbrief55 der ÖAE (Ökumenischer Arbeitkreis Enneagramm e.V.) unter dem Titel „Hat das Enneagramm doch christliche Wurzeln?“ erschien, schreibt er:
In keiner anderen schriftlichen Quelle finden sich Einsichten, die so frappierend nah am Enneagramm sind, wie in den Schriften des Evagrios, […]. Könnte er so etwas wie der eigentliche ‚Erfinder’ des Enneagramms sein? Ich bin jedenfalls überzeugt, dass die Übereinstimmungen zwischen ihm und dem Enneagramm nicht bloß zufällig sind.56
Weiter vergleicht er die Lehre Evagrios’ mit den grundlegenden Enneagramm-Kenntnissen, besonders denen der Leidenschaften (Hauptsünden) und Tugenden und sogar denen der Zahlen und Symbole. Aufgrund dieser Nähe von Evagrios’ Lehre zum Enneagramm sind Rohr/Ebert von den christlichen Wurzeln des Enneagramm überzeug.t: „Wir sind inzwischen überzeugt, dass das Enneagramm nicht aus mittelalterlichen islamisch-sufistischen Quellen stammt, sondern im Wesentlichen auf den christlichen Wüstenmönch Evagrius Ponticus (gestorben 399) zurückgeht.“57 Rohr/Eberts Aussage könnte dazu verleiten, zu behaupten, dass die christlichen Wurzeln des Enneagramms ‚primär’ auf Evagrios festgelegt werden können. Aber in ihrer Aussage wird der Begriff ‚im Wesentlichen’ im Sinne von ‚bedeutend’ verwendet. Vorausgesetzt, dass Evagrios’ Beitrag darin besteht, die Lehre der Leidenschaften und Tugenden verschriftlicht und systematisch kategorisiert zu haben, ist Rohr/Eberts Schlußfolgerung richtig. Denn dieses Wissen stammt nicht von ihm, sondern – wie er immer wieder betont hat – von den ‚Vätern’, die vor ihm kamen.58
1.3. Mönchtum (Wüstenväter und -mütter)
Damit die Lehre des Evagrios für die heutige Zeit als relevant erachtet werden kann, ist es notwendig, seine Lehre mit den Umständen, in denen er gelebt hat, in Verbindung zu bringen. Im gleichen Sinne sieht der Benediktinermönch und Autor etlicher spiritueller Bücher, Pater Anselm Grün, das Zeugnis der Wüstenväter und -mütter als etwas Wertvolles für die heutige Zeit an. In seinem Büchlein „Der Umgang mit dem Bösen“ schildert er das Phänomen des Bösen am Beispiel des altkirchlichen Umgangs mit dem Thema. Grün sieht besonders die Lehre des Evagrios (und anderer Mönchsväter und -mütter) über die Leidenschaften und den Umgang mit ihnen als eine große Hilfe für das geistliche Leben jeder Person an. Nach ihm gelten die Erfahrungen, welche die Männer und Frauen in der Wüste gemacht haben, als beispielhafte Wegweiser für uns. Denn aus diesen Erfahrungen können wir unsere eigenen Erfahrungen neu interpretieren und daraus Kraft schöpfen, um den Kampf mit den Mächten unserer Zeit, die uns herausfordern, innerlich belasten und krank machen, aufzunehmen.59
1.4. Evagrios Pontikos
Evagrios wurde im Jahr 346 n. Chr. in der kleinen pontischen Stadt Ibora geboren, im Norden der heutigen Türkei. Er stammte aus einer religiösen Familie. Sein Vater war Presbyter. Das Amt des Vaters wird jedoch von verschiedenen Autoren unterschiedlich angegeben, zum Beispiel als Chorbischof oder Chorepiscopus, Landbischof. Gewiss ist, dass er im kirchlichen Dienst tätig war und durch Basilius60 dem Großen dazu kam.61 Über Evagrios’ Jugendjahre und Ausbildung ist wenig bekannt. „Denkbar ist, dass er im kappadokischen Caesarea studierte, das für seine Schulen bekannt war.“62 Von den bekannten Daten sind es die „großen Kappadokier“ (vor allem Basilius, der ihn zum Lektor weihte, und Gregor von Nazianz, dem er sich nach Basilius’ Tod anschloss und von dem er mit 34 Jahren zum Diakon geweiht wurde), die den größten Einfluss auf ihn hatten.63
Sein Zugang für das Verständnis der menschlichen Seele spiegelt sich in seinen psychologischen Analysen, z.B der Leidenschaften, wider.64 Auch unter Gregor von Nazianz bewies er nicht nur seine Gabe als Rhetoriker, sondern auch sein fundiertes theologisches Wissen.65 „Evagrios scheint neben ihm auf dem 2. Ökumenischen Konzil (381) sehr energisch und geschickt die nizänische Orthodoxie gegen den Arianismus verteidigt zu haben.“66 Der frühere Benediktinermönch Gabriel Bunge, der 2010 Mitglied der Orthodoxen Kirche geworden ist, geht davon aus, dass der Nachfolger von Gregor, Nektarios, von dem Wissen und der Erfahrung des Evagrios in kirchlichen Angelegenheiten profitiert haben muss,67 weil er „bei seiner Erhebung noch Laie war“68. Mit seiner Begabung wird er später einer der Ersten, der das Wissen und den geistlichen Reichtum der monastischen Tradition niederschreibt.69
Durch den Tod von Basilius und den Rücktritt von Gregor findet das Leben des jungen Evagrios eine neue Wende.70 Der endgültige Wendepunkt trat ein während seines Dienstes unter Nektarios, vermutlich wegen einer Liebesaffäre mit einer verheirateten Frau aus der aristokratischen Klasse, oder wie Bunge es darstellt: „Um einer möglichen Affäre mit der Frau eines hohen kaiserlichen Beamten der Stadt zu entgehen“.71 An anderer Stelle heißt es: „Die Frau eines hohen kaiserlichen Beamten verliebt sich in den glänzenden und gut aussehenden Redner, der sich seiner selbst ebenfalls nicht mehr sicher ist. Ein psychologisch hochinteressanter Traum, den Evagrios später einem Vertrauten erzählte, erzwingt die Lösung des Konfliktes: Flucht.“72 Dem Rat des Engels in dem Traum folgend, verließ Evagrios die Stadt und ging nach Jerusalem, wo er im Doppelkloster des Rufinus und der Melania der Älteren aufgenommen wurde.73 Die römische Adelsdame beeinflusste Evagrios nachhaltig, sodass dieser ihr in seinem späteren Leben sehr dankbar gewesen ist. Zum Beispiel erkrankte er an einem schlimmen Fieber, das anscheinend nicht heilen wollte und ihn beinahe das Leben kostete. Erst nachdem er seine Geschichte Melania erzählt hatte, konnte sie wegen ihrer ‚erfahrenen Menschenkenntnis’ vermuten, dass seine Krankheit eine Form der Strafe dafür war, dass Evagrios vor dem Engel in Konstantinopel einen Eid abgelegt, ihn aber anscheinend nicht eingehalten hatte. Daraufhin ließ sie ihn versprechen, dass er den Eid leisten solle, indem er ein klösterliches Leben beginne. Es ist überliefert, dass er nach diesem Versprechen wieder gesund geworden sei und anschließend 383 seine klösterlichen Gewänder von Rufinus erhalten habe. Schließlich entschloss er sich, nach Ägypten zu ziehen.74 „Evagrius ist also erst als reifer Mann, und nicht einmal ganz freiwillig, Mönch geworden.“75 So kommentiert Bunge die Ereignisse, die zu Evagrios Aufnahme des Mönchlebens geführt hatten.
Mit seinem „selten feinen psychologischen Empfinden und analytischen Scharfblick“76 verfasste er in der Wüste seine Schriften. Besonders hier erweist er sich als Schriftsteller, Mystiker, Asket, Kopist, geistlicher Lehrer und biblischer Exeget.77 Kevin Corrigan beschreibt ihn als: “A pioneer of monastic theology; the creator or developer of the seven deadly sins tradition; a father of cognitive psychology; an upholder of Nicene Orthodoxy”.78 Die positiven Attribute des Evagrios spiegeln nicht angemessen wider, wie er in der Geschichte dargestellt wurde. Die Ansichten über ihn erstrecken sich von Evagrios als Heiligem bis hin zum Häretiker. Die heute vorwiegende Meinung über Evagrios und seine religiösen Ideen werden besonders von Bunge in seinen Werken über Evagrios zum Ausdruck gebracht. Hier versucht Bunge die damaligen Lebensumstände und die Themen jener Zeit ausführlich wiederzugeben, um den Zugang zum wahren Evagrios herzustellen.79
Zum gespaltenen Verhältnis gegenüber Evagrios kam es wegen der Ereignisse, die er kommen sah, selber aber kaum miterlebte. Nach seinem Tod mussten viele seiner Gefährten wegen einer innerkirchlichen Verfolgung fliehen.80 150 Jahre nach seinem Tod wurde er auf dem 5. Ökumenischen Konzil von Konstantinopel als Origenist81 verurteilt, was Auswirkungen auf Evagrios’ Werke hatte: Einige seiner Werke mussten wegen der Verfolgung entweder versteckt oder unter anderem Namen veröffentlicht werden. Viele seiner Schriften liegen daher nicht in der ursprünglichen Sprache vor. Erst in den letzten Jahren werden einige der Werke als diejenigen von Evagrios anerkannt oder identifiziert.82 In Syrien hingegen hatte Evagrios eine große Anhängerschar, und seine Werke konnten daher dort unter seinem eigenen Namen veröffentlicht werden, was woanders nicht möglich war.83
Die im Folgenden vorgeführten Argumente, die zur Verurteilung des Evagrios geführt haben, zeigen, dass es hier weniger um dogmatische Fragen ging, sondern eher um ein ‚argumentum ad hominem’, welche aber unter unklaren Prämissen geschah, weil Evagrios anscheinend missverstanden wurde. Das ist nachvollziehbar, wenn uns bewusst wird, dass Feindschaften unter Personen in dieser Zeit ziemlich große Auswirkungen haben konnten, auch wenn es dabei um den Glauben ging.84 Entsprechend verhielt es sich auch bei Freundschaften: Menschen, die sich einander freundschaftlich verbunden fühlten, übernahmen auch die geistigen Positionen der anderen, ohne sehr auf deren Bedeutung zu achten. Auch gilt: Wenn du mein Freund bist, dann sind deine Feinde auch meine Feinde! So kämpfte zum Beispiel Hieronymus, der vorher Rufinus wohlgesonnen war, gegen Melania und Evagrios ‚kämpfte“, weil diese nicht gut auf Epiphanius zu sprechen waren, während er mit Hieronymus alliiert war.85 Eventuell erklärt das, warum Epiphanius oder Hieronymus gegen die ‚Origenisten’ waren, ohne aber vorher in direkten Kontakt mit ihren Schriften gekommen zu sein.86
Nach Bunge kam es zu einer schnellen Verurteilung des Evagrios, weil er „als eine der Hauptinspirationsquellen der ‚origenistisch’ gesinnten Mönche des Palästinas jener Zeit galt.“87 Der Benediktiner Jeremy Driscoll beschreibt die Schriften Evagrios’ als „intentionally enigmatic“88, und Bunge als: „Die verhüllende Sprechweise der ‚gnostischen’ Schriften des Evagrios“89, welche leicht missverstanden werden könnten.90 Die Interpretation von Evagrios’ Lehre durch die besagten Mönche führte zur Verschärfung der origenistischen Krise.91
In seiner Analyse von Evagrios’ Werken bemerkt Bunge die origenische Prägung von dessen Ideen, aber auch, dass – obwohl er mit den Schriften von Origenes vertraut war – Evagrios zurückhaltend war, wenn es darum ging, ihn mit Namen zu erwähnen. Dies war nicht der Fall bei einigen großen Alexandrinern,92 beispielsweise erwähnt Evagrios Basilius mit aller Offenheit.93 Origenes beeinflusste in der Zeit von Evagrios nicht nur diesen, sondern das ganze Denken der Zeit. Dies gilt auch für die Philosophie von Platon und Aristoteles.94 Auffällig ist, dass auch Evagrios von Menschen nicht namentlich zitiert wird, die die Origenisten verurteilt hatten. Zum Beispiel wird Palladios, der mit Evagrios befreundet war und sich offen zu Origenes bekannte, als Origenist durch Hieronymus und Epiphanius verurteilt, der aber Evagrios nicht in Zusammenhang mit der origenistischen Krise erwähnt.95 Hinzu kommt, dass beim Konzil von 553 weder Evagrios noch Origenes namentlich in Bezug auf die Anathemen genannt werden.96 Wie vorher angedeutet, wenn jemand mit Evagrios gleichgesinnt war, wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass er mit ihm in Verbindung gebracht werden könnte, insbesondere weil Evagrios eine gewisse Autorität seiner Zeit war.97 Die Tatsache, dass Evagrios selbst den Origenes nicht erwähnt, spricht dafür, so Bunge, dass er sich selbst nicht als Origenist sah, obwohl zum Beispiel auch Hieronymus ihn als einen solchen einstufte.98 Mit Blick auf Evagrios’ Verbindung zu der ‚rechtmäßigen’ Lehre der Kirche und ihre theologischen und geistlichen Vertreter sowie sein Bild von sich selbst weist Bunge vehement darauf hin, dass diese auch heute berücksichtigt werden solle:
Wie er sich in seinen asketischen Schriften auf seine Lehrer Makarios den Großen und Makarios den Alexandriner beruft, so beruft er sich in seinen spekulativen Schriften auf die Säulen der nizänischen Orthodoxie, allen voran seine persönlichen Lehrer Gregor von Nazianz und Basileios den Großen, dann auch auf Athanasios, Serapion von Thmuis und seinen Zeitgenossen Didymos den Blinden. Daraus ergibt sich für die moderne Kritik die Verpflichtung, das Werk des Evagrios so zu lesen und zu deuten, wie es verstanden werden will, d.h. im Geiste der nizänischen Orthodoxie, so wie sie von den genannten Vätern am Ende des 4. Jahrhunderts gelehrt wurde. Und zwar mit Einschluss all jener Fragen, die Gregor von Nazianz als „Offen“ bezeichnet hatte, und über die auch unter den orthodoxen Vätern der Zeit unterschiedliche Ansichten gang und gäbe waren. M. a. W. Evagrios hat ein Anrecht darauf, auf die nizänische Orthodoxie hin und nicht von ihr weg interpretiert zu werden.99
Bunge argumentiert weiter, indem er die Verbindung der palästinischen Mönche des 6.Jh. zu Evagrios und der origenistischen Lehre in Frage stellt. Anstatt, wie Evagrios‘ ‚Nachfolger‘, sich einer damals noch nicht üblichen wissenschaftlichen Denkweise zu bedienen100, fordert er die moderne Kritik heraus, „Evagrios aus sich selbst zu verstehen und nicht durch die Brille seiner späten Benutzer zu lesen, deren Lehren uns zudem nur aus der Darstellung ihrer Gegner bekannt sind.“101 Anhand eines Briefes von Evagrios an Gregor zeigt Bunge, dass er die gleiche geistige und theologische Gesinnung wie Gregor hatte, was dafür spricht, dass er eher in der ‚Tradition’ Gregors als in der des Origenes stand.102 Diesbezüglich schreibt Bunge: „Nirgends erweckt Evagrios ja den Eindruck, neuartige und den Lesern unbekannte Lehren zu vertreten. Diese Feststellung ist für den Charakter und die Herkunft des ‚Origenismus’ unseres pontischen Mönchs nicht ohne Bedeutung.“103 An vielen Stellen bezieht sich Evagrios auf diejenigen Lehrer, zu denen er sich selbst auch ohne Vorbehalt bekennt, zum Beispiel seinen ‚geistlichen Vater Basilius’.104 Im Allgemeinen ist er bemüht zu zeigen, dass er nur ein Teil der Kette der Tradition sei und seine Aufgabe darin bestehe, das weiterzugeben, was von den Älteren gelehrt worden sei. Auch wenn es um geistliche Methoden ging, sah er sich lediglich als derjenige, der die alten Weisheiten systematisierte, damit sie besser verstanden werden könnten.105 Damit untermauert er nicht nur seine Rechtgläubigkeit, sondern auch seine Verbundenheit zu der christlichen Lehre und mit denjenigen, die für ihn direkt oder indirekt LehrerInnen waren.106 In Bezug auf 1Joh 1, 1-4107 und Evagrios sagt daher Bunge:
Traditionsgebundenheit ist also nicht einfach Beharren auf dem Hergebrachten, sondern Bewahrung eines lebendigen Zusammenhanges mit dem, auf den der Weg des Lebens zurückgeht, Christus. Ganz biblisch besteht Evagrios darauf, dass dies nur möglich ist auf dem ‚Umweg’ über die lebendigen und verstorbenen Glieder der Traditionskette.108
Die Selbstdarstellung des Evagrios passt nicht dazu, dass er später als Häretiker bezichtigt wurde. Daher kann gefragt werden: Wie kann es sein, dass Hieronymus, der als großer Verehrer des Gregor von Nazianz gilt, Evagrios nicht zu Lebzeiten Gregors verurteilt hat, obwohl Evagrios Gregors Diakon war und seine Theologie sogar sehr von ihm beeinflusst wurde? Hinzu kommt, dass auch Hieronymus Gregor als theologischen Lehrer sogar aufsuchte!109 Bedeutet diese Zusammenarbeit von Gregor und Evagrios nicht etwa, dass eine gegenseitige Akzeptanz zwischen ihnen und ihren Denkweisen herrschte? Hat Evagrios etwa erst später neue origenistische Ideen entwickelt? Nach Bunge war die Verurteilung des Evagrios durch Hieronymus und Theophilos – Patriarch von Alexandria –, die auch Johannes Chrysostomos als Übeltäter hinstellen sollten, von unreinen, wahrscheinlich machtpolitischen Absichten durchdrungen.110 Nach ihm war das ganze Geschehen „offensichtlich von so persönlichen und nicht sehr edlen Motiven geprägt, dass es schwerfällt, die vorgeschobenen dogmatischen Bedenken ernst zu nehmen.“111 Es ergibt nämlich keinen Sinn, dass Evagrios von Personen so vehement ‚verfolgt’ wurde, die „selbst überzeugte ‚Origenisten’ [waren], wenn gleich auf recht verschiedene Weise“112. Hier sind Hieronymus und Theophilos gemeint.113
Mit den neuen Kenntnissen über Evagrios’ Theologie und die Auseinandersetzung mit der damaligen Zeit gibt es Stimmen, die dafür plädieren, dass Evagrios eine offizielle Rehabilitation erwarten dürfte. Die zahlreichen Argumente von Bunge, die hier verwendet wurden, untermauern dies. In diesem Sinne schreibt Christoph Joest in Bezug auf Benjamin Drewery:
Es ist nicht genug zu sagen, dass in Bezug auf die „Theologie der Wüste“ die Bezeichnung „Origenismus“ nicht negativ verstanden werden sollte. Vielmehr darf die Frage, die B. Drewery in Bezug auf Origenes stellt, mit gleichem Recht auf Evagrios angewandt und positiv beantwortet werden: ‚The condamnation: should it be reversed?’114
Dafür spricht, dass der Einfluss von Evagrios Lehre in der Kirchengeschichte groß ist, obwohl sein Name nicht damit (in dem Zusammenhang) tradiert wurde.115
1.4.1. Lehre und Praxis
Obwohl die Texte von Evagrios hauptsächlich für Mönche der damaligen Zeit verfasst wurden,116 können Mönche von heute diese auch für sich verstehen und nutzbar machen – aber ebenso auch alle anderen Menschen.117 So ist „der moderne Leser […] aufgefordert, sich nicht mehr als nötig bei dem Wüstenkolorit der evagrianischen Schriften aufzuhalten, will er ihren geistlichen Gehalt für sich fruchtbar machen, und auf die Stimme seines Herzens zu hören.“118
Bunge spricht über die Präsenz der evagrianischen Lehre in der Geschichte, dass sie „die gesamte christliche Spiritualität in Ost und West, über alle konfessionellen Grenzen hinweg [… so] geprägt [hat], dass man mit Fug und Recht von einer ‚evagrianischen Spiritualität’ sprechen muss“.119 Was macht die Lehre Evagrios so aktuell, dass sie von einer großen Anhängerschaft immer noch mit Interesse nachgeahmt und, akzentuiert für den jeweiligen Lebensweg, für nützlich gehalten wird? Einer der Gründe dafür ist Evagrios’ Fähigkeit, tief religiöses Wissen mit menschlichem Verstand in einer besonderen Zusammensetzung von Weltweisheiten und Spiritualität neu zu interpretieren. In der patristischen Denkweise war dies keine Seltenheit. So stand es zum Beispiel für Evagrios außer Frage, seine Theologie mit einigen philosophischen Gedanken zu erklären, und dies in einer christlich geprägten Weise.120 Dies erklärend schreibt Driscoll: “If the wisdom is genuine, then the connection is not to be wondered at. If it is truth, then it is truth valid for all. It is this that explains Evagrius’ synthesis between the wisdom of the Greek philosophical tradition and the wisdom in desert monasticism.”121
Ein weiterer Aspekt der Arbeitsweise der Mönche jener Zeit war der Bezug zur Bibel. Dies spiegelt sich auch im Stil von Evagrios’ Texten wider. Allerdings bedeutet bei den Mönchen ein direkter Bezug zur Bibel keine direkte Einschränkung der Sprache in der ‚geistlichen Menschenführung’. Dies war Charakteristikum der monastischen Tradition, die allerdings dadurch zum Ausdruck kam, dass die Mönche das Wissen und die Weisheit der heiligen Schrift so verinnerlicht hatten, dass ihre Sprache davon durchgedrungen war, ohne dass die üblichen ‚biblischen’ Anspielungen die Oberhand gewannen.122
Ein Beispiel für den Umgang mit der Bibel finden wir in einer Erzählung über den Wüstenvater Poimen:
Der Fremde begann zu reden von der Schrift, von geistlichen und himmlischen Dingen. Da wandte Abbas Poimen sein Haupt ab und gab ihm keinerlei Antwort. Als der Einsiedler sah, dass er nicht mit ihm sprach, ging er betrübt davon und sagte zu dem Bruder, der ihn hergebracht hatte: ‚Ich habe diese ganze Wanderung umsonst gemacht. Denn ich kam zu dem Greis, aber siehe, er will nicht mit mir reden!‘ Da ging der Bruder zum Altvater Poimen hinein und sagte: ‚Vater, deinetwegen kam dieser Mann, der in seiner Gegend ein so großes Ansehen besitzt. Warum hast du denn nicht mit ihm gesprochen?‘ Der Greis gab zur Antwort: ‚Er wohnt in den Höhen und spricht Himmlisches, ich aber gehöre zu denen drunten und rede Irdisches. Wenn er von den Leidenschaften der Seele gesprochen hätte, dann hätte ich ihm wohl Antwort gegeben. Wenn er aber über Geistliches spricht, so verstehe ich das nicht.‘ Der Bruder ging nun hinaus und sagte zu dem Einsiedler: ‚Der Greis redet nicht leicht von der Schrift, aber wenn jemand mit ihm von den Leidenschaften der Seele spricht, dann gibt er ihm Antwort.‘ Er besann sich und ging zu ihm hinein und sprach zu ihm: ‚Was soll ich tun, wenn die Leidenschaften der Seele über mich Macht gewinnen?‘ Da achtete der Greis freudig auf ihn und sagte: ‚Jetzt bist du richtig gekommen, nun öffne deinen Mund für diese Dinge, und ich werde ihn mit Gütern füllen.‘ Der aber hatte großen Nutzen und sagte: ‚Wahrhaftig, das ist der rechte Weg!‘ Und mit Dank gegen Gott kehrte er in sein Land zurück, weil er gewürdigt worden war, mit einem solchen Heiligen zusammenzutreffen.123
Hier wird gezeigt, welche Stellung Menschenkenntnis, in diesem Fall das Wissen über die Leidenschaften, in geistlichen Reden innehat, ohne dabei den Bezug zu Gott zu verlieren. Auch den Wüstenvätern und -müttern ging es darum, dass dem Ratsuchenden Übungen angeboten werden, die ihm dazu verhelfen, das eigene spirituelle und persönliche Wachstum zu ermöglichen. Dies geschieht, indem der Ratsuchende sein ganzes menschliches Dasein vor Gott ‚entblößt‘. Obwohl nach Grün diese Methode von manchen als ‚nicht genuin christlich’ erachtet wird, kann dazu zum Beispiel in der geistlichen Begleitung jede Person einen persönlichen Zugang haben. Damit werden Wege geöffnet, wie auf unterschiedliche und persönliche Weise die Grenzen in der ‚Menschenführung’ überwunden werden können.124 Sie entspricht dem, was der Mensch auf seiner Suche nach sich selbst und nach Gott mitnehmen sollte: seine ganze Persönlichkeit. In alldem geht es bei der Wüstentradition darum, dass der Mensch seine ‚ganze Persönlichkeit’ auch als ‚Weg’ zu Gott wahrnimmt. Die psychologisch aufgeladene beladene Art der geistlichen Begleitung bei den Wüstenvätern und -Müttern, die durch und durch religiös und theologisch fundiert ist, mag für viele Personen störend sein, die auf eine klare Trennung von Spiritualität und Persönlichkeit bzw. Psychologie beharren. Die verschiedenen psychologischen Richtungen zeigen, wie die persönliche Fassung einen allzu großen Einfluss nicht nur auf die soziale Kompetenz, sondern auf das innere transzendentale Gleichgewicht der Person hat. Dies zeigen auf eindrückliche Weise z.B. die Arbeiten von Horst-Eberhard Richter: ‚Der Gotteskomplex’125, oder die ‚Dämonischen Gottesbilder’126 des Pastoralpsychologen Karl Frielingsdorf. Hier zeigen die Autoren, wie die persönliche Verfassung die Vorstellung von Gott bildet. Die eigene Biographie ist die Brille, durch welche die Person Gott sieht. Zusammenfassend zu diesem Gedanken zitiere ich Rohr/Eberts Betrachtung der Untrennbarkeit der Person und der ‚religiösen Reife’:
Die Traditionen östlicher und westlicher Weisheit und Seelenführung […] haben […] immer die Zusammengehörigkeit seelisch-charakterlicher und religiösspiritueller Reifung betont. In diesen Traditionen wäre das undenkbar, was bei uns gang und gäbe ist: dass man Leuten begegnet, die analytisch versiert, psychologisch ‚integriert‘, aber spirituell total verkümmert sind, und dass man andererseits religiöse Menschen findet, deren Charaktermängel und psychische Instabilität mit den Händen zu greifen sind.127