Kitabı oku: «Wer bin ich?», sayfa 4

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1.4.2. Stufen des Wachstums bei Evagrios

Evagrios betrachtet die persönliche Reife nicht getrennt von der spirituellen Reife. In seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen wird suggeriert, dass Persönlichkeits- bzw. religiöses Wachstum stufenweise geschieht – genauso auch der Heilungsprozess.128 Diese Gedanken wollen zu ‚Gotteskenntnis’ führen.129 Dieser Gedanke durchläuft Evagrios wie ein roter Faden. Auch in Bezug auf den Kampf mit den Leidenschaften ist eine bewusste Selbsteinschätzung Voraussetzung dafür, dass auch die jeweiligen Leidenschaften, die mit den entsprechenden Stufen des Wachstums assoziiert sind, erkannt werden. Erst dann kann die Person durch Gottes Gnade in einem leidenschaftslosen Zustand gelangen, in dem das Gute im Menschen zum Vorschein kommt.130 Dieser Prozess zeigt die Relevanz der Selbstkenntnis für die Gotteskenntnis und umgekehrt.131 Auch bei Evagrios und den Vätern ist Selbsterkenntnis nur eine Vorstufe zu Gotteserkenntnis. „Sie wollen den Menschen nicht nur zu sich selbst zurückführen sondern, wenn er dort angelangt ist, über sich selbst hinaus.“132 Es geht also bei der Lehre der Leidenschaften bzw. Gedanken oder Dämonen nicht um eine willkürliche Auflistung physischer und psychischer Vorgänge. Sie will den Weg des geistlichen Wachstums und zu Gott zeigen. Nach Driscoll sind Evagrios’ Ausführungen der Leidenschaften logischer, als auf den ersten Blick erkannt werden kann.133 Er fasst zusammen: “Thus, in a general way the order of the eight thoughts follows the order of spiritual progress.”134

1.4.3. Der geistliche Vater

Bunge nennt Evagrios den „‚Freud‘ der ausgehenden Antike.“135 „Unter diesen frühen Psychologen, Psychoanalytikern und Psychotherapeuten [die Wüstenväter] nimmt wiederum Evagrios Pontikos (ca. 345 – 399) unbestritten den ersten Rang ein.“136 Und das mit Recht. Die Menschenkenntnis findet eine besondere Aufmerksamkeit in der Lehre des Evagrios. Für ihn ist Menschenkenntnis genauso wichtig wie Spiritualität. Durch die zahlreichen Menschen, die er begleitet hat, konnte er nicht nur die spirituellen Nöte, sondern die psychologische Verfassung der Menschen, die seinen Rat aufgesucht haben, auffassen.137 Als „Philosoph, Theologe und Mönchsvater in einer Person“138 war Evagrios für viele nicht nur eine Quelle der Inspiration für das geistliche Leben, sondern auch Lebensberater. Im frühen Mönchtum und im Laufe der Geschichte spielten Mönche (Klöster) eine große Rolle in der Bewahrung des geistlichen Reichtums des Christentums; insbesondere die geistliche Begleitung. Für das frühe Mönchtum war die geistliche Begleitung ein Selbstverständnis des christlichen Lebens. Etliche Beispiele gibt Grün in seinem Büchlein über die „Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern“, unter anderem, dass es Pflicht war, dass „jeder junge Mönch einen geistlichen Vater hatte, dem er seine Gedanken und Gefühle offenbaren musste und dem er absoluten Gehorsam schuldete.“139 Evagrios war geistlicher Vater und Lehrer.140 Er war aber „für seine engsten Vertrauten zunächst und vor allem geistlicher Vater und nicht Gelehrter.“141 Auch für die älteren Mönche war das keine Ausnahme, denn jeder durfte sich einen geistlichen Begleiter aussuchen, obwohl er dazu nicht unbedingt verpflichtet war. Auch im Leben von Evagrios gab es Menschen, zu denen er das Verhältnis eines geistlichen Vaters und/oder eines Sohnes hatte. So finden wir eine Liste von Personen, für die Evagrios als geistlicher Sohn galt, zum Beispiel zu Melania, die dazu beigetragen hatte, dass Evagrios zum Mönch wurde, hatte Evagrios immer wieder Kontakt, oder Didymus den Blinden u.a.142 Bunge schreibt in Bezug auf einem Text von Evagrios, „dass [er] selbst einen erfahrenen Mönch hatte, dem er sich in schwierigen Situationen anvertraute.“143

Aus der Erfahrung als geistlicher Begleiter, aber auch als jemand, der die Begleitung durch andere schätzt, schreibt Evagrios über die Beziehung zwischen einem ‚Ratsuchenden’ und einem ‚Ratgebenden’ und worauf beide auf dem Weg des spirituellen und Persönlichkeitswachstums zu achten hätten. So geht es dabei nicht nur darum, dem Anderen den Weg des geistlichen Wachstums zu zeigen, sondern auch selber den Weg zu gehen. In der heutigen Psychologie wird der von Carl Rogers geprägte Begriff von Kongruenz/Inkongruenz benutzt, der das emotionale Zwischenspiel des Therapeuten und seines Gegenübers beschreibt. Dies spielt sich auch im Rahmen der geistlichen Begleitung ab. So definiert Eckert Jochen Kongruenz/Inkongruenz in seinem Aufsatz „Der therapeutische Prozess in der Praxis“ folgendermaßen:

Kongruenz in einer therapeutischen Beziehung heißt vor allem, dass sich der Therapeut aller Gefühle bewusst werden kann, die der Patient in ihm auslöst. Wenn der Therapeut auf den Patienten mit Gefühlen reagiert, deren er sich nicht bewusst werden kann, wird er in der Regel durch diese Gefühle auch darin behindert, sich in den Patienten einzufühlen und ihn in dem, was er dabei verstanden hat, bedingungsfrei positiv zu beachten. […] Die Kongruenz/Inkongruenz des Therapeuten wird für den Patienten u.a. dadurch erfahrbar, dass der kongruente Therapeut als ‚echt’, authentisch, unverfälscht erlebt wird. Ein inkongruenter Therapeut wird als fassadenhaft, undurchschaubar, ‚unecht’ erlebt und beschrieben.144

Im gleichen Sinne schreibt Evagrios in seinem Werk Gnostikos, wie geistliche Eltern sich Mühe geben sollten, nicht nur die geistliche Entwicklung Anderer wahrzunehmen, sondern zudem ihre eigene Entwicklung zu beobachten. Die Glaubwürdigkeit des Begleiters lässt sich daran messen, dass er in sich ruht.145 Darüber hinaus beschreibt er, wie geistliche Eltern bzw. Begleiter in der Einschätzung des Charakters anderer eingeübt sein sollten. Nach ihm sollen Begleiter wissen, dass es verschiedene Charaktere unter Menschen gibt und dass der jeweilige Charakter einer Person und alles, was ihr wichtig ist, gut gekannt werden muss, um mit ihr angemessen arbeiten zu können. Nur dadurch können sie das Richtige zu jedem Einzelnen sagen. Denn was für den Einen heilend ist, kann für den Anderen Gift sein. Diese Fähigkeit der geistlichen Eltern führt dazu, dass der Geistliche die geistliche Entwicklung des Gegenübers richtig einschätzen und dementsprechend mit der Person umgehen kann.146 So wie es im Enneagramm Charaktere gibt, suggeriert Evagrios eine Menschen-/Seelenführung, die sich nicht nur auf eine mystisch-geistliche Ebene beschränkt, sondern auch die Charaktereigenschaften einer Person berücksichtigt. Das Durchschauen psychischer Mechanismen ist nicht das Ziel der Beschäftigung mit den verschiedenen Charakteren, sondern Hilfe für ein besseres Verständnis von Gottes Wirken in der Seele. So beschreibt Anselm Grün Evagrios’ Beschäftigung mit psychologischen Studien. Gemäß Grün ist dieses Wissen eine Hilfe bei der Unterscheidung der Geister147. „Nur wenn ich die menschliche Seele mit ihren inneren Gesetzen kenne, kann ich in ihr auch Gottes Wirken erkennen. Ohne psychologische Erfahrung bin ich immer in Gefahr, psychische Mechanismen mit dem Wirken des Heiligen Geistes zu verwechseln“,148 berät und mahnt Grün. Den Willen Gottes zu kennen, geht Hand in Hand mit Selbstkenntnis. So beschreibt Anselm Grün den Willen Gottes nicht als etwas Fremdes, was uns aufoktroyiert wird, „sondern er entspricht unserem innersten Wesen. Der Wille Gottes bringt unserer Seele Nutzen, er bringt uns unserem wahren Selbst näher.“149 Um den Gotteswillen zu kennen, muss eines als Kriterium gelten, so Anselm Grün: dort „wo ich mich lebendiger fühle, freier, echter, authentischer, wo sich neue Räume in mir auftun.“150 Diese Fähigkeit zu unterscheiden „verlangt ein ehrliches Ringen mit sich selbst, einen jahrelangen Kampf um die Reinheit des Herzens, um die Leidenschaftslosigkeit (apatheia).“151 „Apatheia heißt nicht nur Freiheit von Leidenschaften, sondern auch von den Projektionen, die uns den Blick für den anderen verstellen.“152

1.4.4 Die Leidenschaften

Evagrios’ Lehre kreist um die Lehre der Leidenschaften.153 In seinem Kommentar zu dessen Erklärung zur Praktike: „Die Praktike ist eine geistliche Methode, die den leidenschaftlichen Teil der Seele gänzlich reinigt“154, sagt Bunge: „In dieser äußerst knappen ‚Definition’ der Praktike ist im Kern schon die ganze evagrianische Lehre von dem, was wir ‚geistliches Leben’ zu nennen pflegen, enthalten.“155 „Evagrios verwendet fast unterschiedslos die Bezeichnung ‚Dämon‘, ‚Leidenschaft‘ und ‚Gedanke‘ für dieselbe Wirklichkeit, obgleich er sie natürlich sehr wohl unterscheidet.“156

Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Leidenschaften bei Evagrios im Kontext dieser Arbeit soll die Verbindung des Enneagramms zu seiner Lehre aufzeigen. Rohr und Ebert zeigen dies, indem sie im folgenden Text die einzelnen Leidenschaften bei Evagrios den Enneagramm-Mustern zuordnen. Ausführlich schreiben sie:

Evagrius entwickelte eine Liste von acht (bzw. an einer Stelle – in der Schrift ‚De vitiis quae opposita sunt virtutibus’ – sogar neun) Lastern bzw. ablenkenden ‚Gedanken’, die den Weg zu Gott und zu leidenschaftsloser Herzensruhe behindern. Ausgangspunkt war für ihn jenes seltsame Jesuswort Matthäus 12, 43-45: ‚Wenn ein böser Geist einen Menschen verlässt, dann schweift er über ödes Land und sucht nach einem Ruheplatz. Wenn er keinen findet, sagt er sich: ‚Ich will in mein Haus zurückkehren, das ich verlassen habe!’ Also geht er zurück – und findet das Haus leer, sauber und geordnet vor. Dann geht er und bringt sieben andere böse Geister mit, die noch schlimmer sind als er selbst, und sie kommen und wohnen hier. So befindet sich der Mensch am Ende in einem schlimmeren Zustand als am Anfang.’ Nach Evagrius ist der erste böse Geist die ‚Völlerei’, die sich schließlich die sieben weiteren Laster ‚einverleibt’, sodass es zur Achtzahl kommt. Die acht Laster sind: Zorn (EINS im Enneagramm), Hochmut (ZWEI); Eitelkeit bzw. Ruhmsucht (DREI), Traurigkeit (im Sinne von Selbstmitleid) bzw. Neid (VIER), Habsucht (FÜNF), Völlerei (SIEBEN), Wollust (ACHT) und Trägheit bzw. ‚Akedia’ (Neun). Die ‚Furcht’, die im Enneagramm Typ SECHS zugeordnet wird, fehlt. Papst Gregor I. hat diese Liste später auf die bis heute gängige Liste der sieben klassischen Hauptsünden reduziert, bei der Eitelkeit und Traurigkeit_wegfallen, sodass Zorn, Hochmut, Neid, Habsucht, Völlerei, Wollust und Trägheit übrig bleiben.157

Der Text „De vitiis quae opposita sunt virtutibus“ (ca. Über die Laster im Gegensatz zu den Tugenden), worauf Rohr und Ebert sich beziehen, ist an einen Mönch namens Eulogios adressiert. Unterteilt in neun Abschnitte, werden in jedem der Abschnitte die gegenseitigen Pole eines Lasters und einer Tugend dargestellt.158 Auffallend ist, dass Evagrios die Beschreibung der Laster, im Gegensatz zu seiner ‚normalen’ Achtzählung der Laster in seinen anderen Schriften, in neun Kapitel einteilt, Die Reihenfolge in diesem Schreiben ist so wie in den anderen Werken des Evagrios,159 allerdings gibt es einen Einschub des ‚Neids’ zwischen Hochmut und Stolz.160 Ein Vergleich der Laster im Enneagramm mit denen in De vitiis quae opposita sunt virtutibus des Evagrios zeigt, dass die im Enneagramm dem Muster Vier zugeschriebenen Laster (Traurigkeit und Neid) zwei Mal vorkommen. Bei Evagrios werden die Traurigkeit und der Neid als einzelne Laster gezählt. Mit der Liste der neun Leidenschaften im Text von Evagrios kann zwar wegen der Zahl der Neunteilung eine Verbindung zum Enneagramm hergestellt werden, dies aber stellt noch keinen überzeugenden Beweis dar, weil die Liste der Leidenschaften bei Evagrios nicht genauso im Enneagramm zu finden ist. Die Furcht als Leidenschaft wird in dem Text nicht eindeutig als solche genannt, was aber notwendig wäre, um die Liste des Evagrios in Bezug auf das Enneagramm zu vervollständigen. Interessant ist aber, dass das Wort Furcht (φόβος) in dem Text auch vorkommt, zwar nicht als Leidenschaft, sondern als eine falsche Haltung. „Ὑπομονὴ, άκηδίας διακοπὴ, λογισμῶν κατακοπὴ, θανάτου μέριμνα, σταυροῦ μελέτη, καθηλωμένος φόβος, τυπτόμενος χρυσὸς, θλίψεων νομοθήκη, βίβλος εύχαριστίας, θώραξ ἡσυχίας, πόνων ὅπλον, άναζέουσα καλλιπονία, άρετῶν ύπογραφή.“161 Wie auch in diesem Motiv erkennbar wird, ist Furcht bei Evagrios ein wichtiger Begriff. Denn jemand, der mit φόβος bezeichnet wird, kann Vertrauen in Gott nicht zulassen. Dieser steht im Gegensatz zum Glauben. (2Tim 1,7; Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.).φόβος wird interessanterweise in Verbindung mit Akedia (Trägheit) verwendet, und zwar unter den Gegenbeispielen (Tugenden) der Trägheit. Die englische Übersetzung der oben angegebenen Stelle lautet: “Perseverance is the severing of acedia, the cutting down of thoughts, concern for death, meditation on the cross, fear firmly affixed, beaten gold, legislation for afflictions, a book of thanksgiving, a breastplate of stillness, an amour of ascetic works, a fervent work of excellence, an example of the virtues.”162 φόβος kann in diesem Satz zweideutig verstanden werden: Im Sinne von passender, angebrachter Angst oder als eine starke unangebrachte Angst. Obwohl Angst und Furcht synonym verwendet werden, ist es bezeichnend, dass bei Evagrios die Furcht eher verwendet wird als die Angst. Der Religionswissenschaftler Günter Lanczkowki beschreibt den Unterschied zwischen Angst und Furcht so, „dass unter Angst eine unbestimmte, auf nichts Konkretes gerichtete Gemütsverfassung verstanden wird, während Furcht eine objektivierte Macht als auslösendes Moment dieser Gefühlsreaktion voraussetzt“163. Jemand, der sich fürchtet, steht vor einer Gefahr, die in seiner Sicht bedrohlich erscheint. Obwohl diese Gefahr nicht unbedingt bedrohlich sein mag, für den Betroffenen ist die Angst real. „Damit können dem Begriff der Furcht ebenso wie dem griechischen Etymon φόβος die Begleitmotive des Schauers, der dämonischen Scheu und des panischen Schreckens eigen sein.“164 Für die Stoa galt die Furcht als ein „Grundübel“, das die Freiheit der Person bedroht und daher nicht nur zwingend abgetötet, sondern gar ausgerottet werden muss.165

Bei Evagrios werden die Gedanken als Synonym für die Dämonen angesehen, allerdings nicht im Sinne von intellektuellen Gedanken, sondern diejenigen, die emotionsbetont sind.166 In Anlehnung an Evagrios schreibt Grün: „Die Gedanken, die von den Dämonen stammen, betrachten die Dinge immer mit Leidenschaft und Emotionen. Sie überlegen z.B., wie man die Dinge besitzen könne, welche Vergnügen sie bereiten und ob sie einem Ruhm verschaffen können.“167 Diese Gedanken beeinflussen die Person auf dreifache Weise (platonische Dreiteilung der Seele). „Die ersten drei Laster werden dem begehrlichen Teil (epithymia), die nächsten drei dem erregbaren oder emotionalen Teil (thymos) und die letzten dem geistigen Teil (nous) zugeordnet.“168

1.4.5. Definition und Näheres zu den Leidenschaften

Weil die Leidenschaften den Weg zum persönlichen und spirituellen Wachstum erschweren oder gar verhindern,169 sind sie eine Form von „Desintegration der menschlichen Persönlichkeit.“170 Sie sind die „Arten, wie wir unsere Mitte verlieren und in unserem Denken, Fühlen und Handeln irregeleitet werden.“171 Das, was als zu unseren Gunsten erscheint, ist in Wirklichkeit das, was uns zerstört.172 In diesem Sinne können die Leidenschaften dem Menschen nur zugutekommen, wenn sie zu ‚Tugenden’ werden, denn von sich aus sind sie „defizitärer Natur“173, so Johannes Bartels. „Sie fungieren als Kompensation für einen je spezifischen Mangel an essentieller Qualität.“174 Daher sind Tugenden und Laster eng beieinander. Daher ist es auch „entscheidend, dass die jeweilige Tugend nur dann ausgebildet werden kann, wenn die entsprechende Leidenschaft als solche wahrgenommen“175 werden kann. Näheres dazu schreibt Bunge:

Man muss auch die Unterschiede zwischen den Dämonen erkennen und sich ihre zeitlichen Umstände merken […]. Dies zu wissen ist notwendig, damit wir, wenn die Gedanken anfangen, ihren eigenen Stoff anzuregen, noch ehe wir allzu weit aus unserem eigenen Zustand hinausgeworfen worden sind, etwas wider sie vorbringen und den anwesenden (Dämonen) kenntlich machen.176

Nach Robert E. Sinkewicz ist die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung dabei unverzichtbar. In seinem Kommentar zu Evagrios’ ‚Abhandlung über Gedanken’ (Thoughts) beschreibt er ‚Beobachtung’ als spirituelle Übung zum besseren Bewusstwerden der eigenen Gedanken (im Sinne von Leidenschaften). Ein angemessenes ‚Ich-Bewusstsein’ kommt nicht zustande, indem die dunkle Seite der eigenen Person oder der Gedanken ignoriert wird. Im Gegenteil – der Mensch darf die Leidenschaften zulassen, damit er sie überhaupt beobachten kann. So kann er durch die Beobachtung der Leidenschaften wissen, wie er mit ihnen umgehen kann, wenn sie die Ober- hand über ihn zu gewinnen drohen.177 Dadurch wird es für den Menschen einfacher, die Leidenschaften zu bändigen; denn eine genaue Beobachtung der Leidenschaften führt dazu, dass die richtigen Methoden angewendet werden, die für den Umgang mit der jeweiligen Leidenschaft geeignet sind. Das bedeutet zum Teil, dass durch die Verinnerlichung dieses Bewusstseins die innere Verfassung des Menschen so ausgerichtet wird, dass sie unabhängiger von den Leidenschaften wird.178

1.4.5.1. Apatheia (oder Leidenschaftslosigkeit)

Evagrios warnt davor, die eigene geistliche Entwicklung als Verdienst unseres Tuns zu feiern. Nach ihm ist jede Tugend, jedes Wissen, jeder Sieg über die Leidenschaften eine Gnade Gottes. Nur durch diese Gnade kann der Mensch zur wahren Erkenntnis und zum Heil gelangen.179 Der menschliche Anteil daran ist keinesfalls Ersatz für den Glauben, im Gegenteil. Bunge kommentiert dazu:

Allerdings hat es mit dieser Wüstenväterpsychologie eine besondere Bewandtnis. Sie ist keine Spezialwissenschaft, vergleichbar der modernen Psychologie und Psychoanalyse, sondern integraler Bestandteil dessen, was die Alten ‚Erkenntnis’ nannten. Dies als Frucht göttlicher Gnade und menschlichen Mühens verstandene christliche „Gnosis“ umfasst Physik und Metaphysik, Philosophie und Theologie, Praxis und Theorie in einer großartigen Zusammenschau der geschöpflichen Wirklichkeit.180

Nach Bunge ist die Rolle der Gnade durch die Heilstat Jesu bei Evagrios bisher kaum erkannt worden. Für Evagrios ist der Kampf gegen die Leidenschaften bzw. die Dämonen ohne den Glauben an Gottes Beistand gotteslästerlich, weil damit Gottes Sieg über das Böse und Satan aberkannt werde.181 Nur wer sich selbst beobachtet und in Vertrauen auf Gottes Hilfe die Leidenschaften zu Tugenden macht, kann in den Zustand der Leidenschaftslosigkeit gelangen.

Der bewusste Umgang mit den Leidenschaften ist lediglich ein Schritt, in dem der Mensch sich bereit erklärt, Gottes Gnade zu empfangen.182 In den Worten des Thomas von Aquin in seinem Hauptwerk, der Summa Theologica, ist „die Vorbereitung zur Gnade nichts anderes als das Sich-Hinwenden zu Gott“183. Thomas verwendet die Stelle beim Propheten Sacharja 1, 3: „Kehrt um zu mir – Spruch des Herrn der Heere –, dann kehre ich um zu euch“. Diese Zeile des Propheten bedeutet, „dass der Mensch sich durch sich selbst zur Gnade vorbereiten kann ohne die Hilfe der Gnade.“184 Thomas bleibt aber nicht dabei; er verweist auf eine Stelle im Evangelium nach Johannes 6, 44: „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zu mir führt“. Daraus schließt er, dass der Mensch sich selbst nicht zur Gnade vorbereiten könne, ohne die Hilfe der Gnade, denn: „Wenn […] der Mensch sich selbst vorbereiten könnte, brauchte er nicht von einem anderen gezogen zu werden.“185 Schlussfolgernd kommt Thomas zur Überzeugung, dass zur Vorbereitung auf die Gnade Gottes beides notwendig sei: das Wirken Gottes und das eigene Bemühen des Menschen.186 Somit steht auch Thomas von Aquin in der Denkrichtung und der Linie der Theologie des Evagrios.

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