Kitabı oku: «Wer bin ich?», sayfa 6
1.4.7. Die Biblische Zahl 153 und ihre Symbolik
In weiteren Schriften des Evagrios finden wir Stellen, wo er mit biblischen Zahlen arbeitet. Rohr/Ebert verweisen auf die Schrift des Evagrios „153 Kapitel über das Gebet“, wo Evagrios nicht nur die biblische Zahl 153 im Sinne von Heil interpretiert, sondern daraus die Eigenschaften der Enneagramm-Symbolik darstellt.237 Wenn man die Zahl 153 nach der pythagoreischen symbolischen Darstellung interpretiert, ergibt sich ein Dreieck und Sechseck, die für Evagrios jeweils für die göttliche Wirklichkeit und die geschaffene Welt stehen. Auch Quirolo schreibt über biblische Zahlen: so z.B. die Zahl 153, die am Ende des Johannes-Evangeliums zu finden ist. Jesus befahl seinen Jüngern, das Netz ins Wasser zu werfen. Daraufhin fingen sie so viele Fische, dass sie das Netz allein nicht aus dem Wasser holen konnten. „Da ging Simon Petrus und zog das Netz an Land. Es war mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen gefüllt, und obwohl es so viele waren, zerriss das Netz nicht.“ (Joh 21, 11) Warum wird genau die Zahl 153 erwähnt? Quirolo fragt z.B., ob der Autor mit dieser Zahl etwas Wissenschaftliches belegen wolle. Sie verweist auf eine andere Stelle, wo sie über Evagrios’ Interpretation dieser Zahl schrieb, und stellt fest, dass die Zahl bei ihm Ähnlichkeiten mit dem Enneagramm-Symbol aufweise. Schwerpunktmäßig interpretiert Evagrios sein Symbol so, dass Gott die Mitte allen Daseins ist. Er hält alles zusammen. Seine Gnade durchdringt die Gesetze der Weltordnung.238 Zu Evagrios’ Dynamik der Zahl 153 in der Einführung zu den Schriften „über das Gebet“ zitiere ich die deutsche Übersetzung bei Rohr/Ebert:
Ich [Evagrios] habe diese Abhandlung über das Gebet in 153 Kapitel eingeteilt. Mit ihnen sende ich dir einen Leckerbissen des Evangeliums, damit du dich an einer symbolischen Zahl erfreuen kannst, die eine dreieckige und ein sechseckige Figur miteinander verbindet. Das Dreieck steht symbolisch für die Trinität, das Sechseck für die geordnete Erschaffung der Welt in sechs Tagen. Die Zahl 100 bezeichnet ein Quadrat, die Zahl 53 ein Dreieck und zugleich einen Kreis. Weshalb? Weil sie die Summe von 25 und 28 ist. 28 ist das Dreieck und 25 das Quadrat, da 25 fünf mal fünf ist. So stellt diese Summe eine quadratische Figur dar, da sie die vierfache Qualität der (sieben) Tugenden symbolisiert. Der Kreis drückt durch seine runde Form den Fluss der Zeit aus und ist zugleich ein angemessenes Symbol für die wahre Welterkenntnis. Im Fluss der Zeit folgt Woche auf Woche, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr und Jahreszeit auf Jahreszeit, wie es die Bewegung von Sonne und Mond, Frühling und Sommer und so weiter zeigen. Das Dreieck, das in der Zahl 28 zum Ausdruck kommt, bezeichnet die Erkenntnis der Heiligen Trinität. Oder wir könnten die ganze Summe von 153 als ein Dreieck deuten, das die asketische Praxis, die Kontemplation der Natur und die Betrachtung des spirituellen Wissens von Gott bedeutet – oder Glaube, Hoffnung und Liebe, oder Gold, Silber und Edelsteine.239
Die Formen sehen dann so aus:
Abbildung 1.
Eine Kombination der Formen und der dynamischen Verbindungen zwischen ihnen ergibt eine ähnliche Symbolik wie die des Enneagramms:
Abbildung 2.
In Bezug auf das menschliche Verhalten schreibt Evagrios: „Und so verhält es sich mit allen Regungen und ihren Gegensätzen, die wir aufgezählt haben, nach jenen drei Ordnungen und sechs Verhaltensweisen, die wir oben durchgegangen sind, ich will sagen nach dem Leben und der Gesundheit und der Krankheit.“240
Die Belege von Evagrios’ Vertrautheit mit Symbolen und Zahlen können zum besseren Verständnis der Arbeit mit dem Enneagramm in christlichen Kreisen beitragen, da nun die Frage, die gestellt werden sollte, nicht mehr die ist, ob die Zahlen und Symbole überhaupt christlich sind, sondern wie damit umgegangen werden sollte.
1.4.8. Das Ziel des Evagrios und der enneagrammatischen Lehre
Evagrios war nicht nur Mystiker, sondern auch Theologe und Philosoph. Aber bei ihm diente alles dem Einen: der Gotteserkenntnis. Die Seelenkenntnis war bei ihm keine philosophische oder psychologische Spekulation, sondern eine bewusste Tat auf dem Weg der Gotteserkenntnis. Das scheint Evagrios Einsatz als geistlicher Vater gewesen zu sein. Denn „Evagrios scheint recht bald in den Ruf eines herzenskundigen Vaters gekommen zu sein, und die Mönche, aber wohl auch Laien, kamen zum Teil von weit her, um seinen Rat einzuholen.“241
Nach Evagrios macht das Wissen auf dem Weg der Gotteserkenntnis den Menschen liebesfähig. Nur der Liebesfähige kann auch gottesfähig sein.242 „Das aber ist ohne die Überwindung der das menschliche Wesen verfälschenden, liebetötenden Leidenschaften nicht möglich.“243 Damit man von einer Überwindung der Leidenschaften sprechen kann, muss man laut Bunge genau wissen, wie die Leidenschaften wirken.244 Denn, nach Bunge sind die „Laster, die die Menschheit bedrängen, seit jeher und überall dieselben, nur ihre konkreten Ausformungen variieren entsprechend der jeweiligen Lebensumstände der Menschen.“245 Im gleichen Sinne ist das Wissen um das Enneagramm ein Wissen um die Leidenschaften. Das heißt, das Enneagramm soll eigentlich den Menschen liebesfähig machen in je ihren eigenen Begegnungen.
1.4.9. Humor bei Evagrios
Ein anderer Aspekt, der die Lehre des Evagrios begleitet, ist der Humor. Dieser Aspekt gehört auch zur Arbeit mit dem Enneagramm oder ist zumindest bei einigen Enneagrammatikern ein bewusster Aspekt des Umgangs mit Menschen in ihrer Arbeit mit dem Enneagramm.
Wenn man die Beschreibungen einiger Erscheinungsmerkmale der Leidenschaften bei Evagrios liest, ist es viel leichter, wenn man sich vorstellt, dass das alles mit einer gewissen Leichtigkeit getragen wird. Auf ähnliche Weise beschreibt Zander, was Humor nach seiner Meinung bedeuten könnte, nämlich dass „aufgeklärter Spott den göttlichen Dingen besser bekommt als esoterische Anstauung“246. So finden wir bei Evagrios viele Beschreibungen des Mönches, die nicht so ernst erscheinen, obwohl die dahinter stehende Lehre doch für den geistlichen Weg des Mönches unverzichtbar ist. Bunge beschreibt diese Eigenschaft des Evagrios folgendermaßen:
[Es] bedarf wirklich keines besonderen Scharfsinnes, um in diesen, z.T. orts- und zeitgebundenen, manchmal recht humorvollen und gelegentlich fast karikaturistisch anmutenden Skizzen des Mönchs- und Eremitenlebens den allgemeinen menschlichen Untergrund wiederzuerkennen. Manche dieser Karikaturen werden den Leser unmittelbar zum Lachen reizen – und das ist eben ihr Sinn. Denn wer lacht, weiß sich ertappt und hat damit seine eigene Schwäche bereits erkannt.247
In der nachfolgenden Ausführung Bunges kann man deutlich erkennen, wie Evagrios eine Person beschreibt, die mit der Trägheit kämpfen muss: Es entsteht ein karikaturistisches Bild. In seinem Werk „Tractatus de octo spiritibus malitiae“ schreibt Evagrios Folgendes:
Das Auge des Überdrüssigen beobachtet häufig die Fenster und sein Geist stellt sich die Besucher vor. Die Türe hat geknarrt – und er ist aufgesprungen. Er hat eine Stimme gehört – und aus dem Fenster gespäht, und er geht von dort nicht weg, bis er, lahm geworden, sich setzt. Beim Lesen gähnt der Überdrüssige oft, und leicht versinkt er in Schlaf. Er reibt sich die Augen und streckt die Arme aus und wendet die Augen vom Buch ab; er starrt die Wand an, kehrt wieder ein wenig zur Lektüre zurück, und indem er (das Buch) durchblättert, vergeudet er seine Zeit mit den Schlussworten. Er zählt die Seiten, bestimmt die (Zahl der) Hefte, bemäkelt die Schrift und die Ausstattung, schließlich klappt er das Buch zu, legt den Kopf darauf und verfällt in einen nicht sehr tiefen Schlaf, denn der Hunger weckt schließlich seine Seele wieder auf, und sie geht (wieder) ihren eigenen Sorgen nach.248
Diese Leichtigkeit und der Humor können gerade für das Enneagramm sehr hilfreich sein, weil es dadurch nicht in die Gefahr der ‚esoterischen Anschauung‘249 gerät, sondern gnädig und menschlich bleibt. Für Thomas Laubach ist es dies, was Glaube und Humor verbindet: Sie machen es möglich, Distanz zur Welt zu haben, aber gleichzeitig in der Welt zu leben.250 In ähnlicher Weise schreibt Wilfried Härle:
Glaubende sind dessen gewiss, dass die Entscheidung über das Scheitern oder Gelingen ihrer Existenz letztlich nicht von ihren eigenen Anstrengungen und Bemühungen abhängt, sondern von dem, was ihnen von Gott her zugedacht ist und zuteil wird. Das nimmt dem eigenen Handeln nicht seine Wichtigkeit, wohl aber seine Verbissenheit und befähigt zu […] Leichtigkeit und Gelassenheit, ja zu dem Humor des Glaubens.251
Für die Seelsorge ist diese Eigenschaft wichtig. Denn nach John Reid gehört es zum Menschsein, Humor zu haben und über sich lachen zu können. Dies hilft, sich selbst gegenüber kritisch zu bleiben und sich davor zu hüten, sich zu wichtig zu nehmen und als unfehlbar zu betrachten. Humor richtet sich also gegen die Selbstgerechtigkeit.252
2. Das Enneagramm: Theorien und Umriss der Enneagramm-Muster
2.1 Einführende Gedanken in das Enneagramm-Verständnis
Die im Folgenden wiedergegebenen Meinungen geben einen Hinweis darauf, wie das Enneagramm von unterschiedlichen Gruppierungen wahrgenommen und verstanden wird. Bei den Interviews handelt es sich um die persönliche Meinung der Interviewten. Es wird daher nicht der Anspruch erhoben, eine einheitliche Auffassung des Enneagramms zu entwickeln.
Eine kurze und präzise Beschreibung des Enneagramms findet sich bei Riso und Hudson. Nach ihnen ist das Enneagramm „eine geometrische Figur, in der die neun Persönlichkeitsgrundtypen und deren komplizierte Wechselbeziehungen symbolisch dargestellt sind. Es handelt sich dabei um einen Zweig der modernen Psychologie, der seine Wurzeln in der spirituellen Weisheit des Altertums hat.“253 Was bei Enneagramm-Kundigen einheitlich ist, ist die sprachwissenschaftliche Zusammenstellung des Begriffs. „Das Wort selbst ist ein Kompositum aus zwei griechischen Wörtern: [Ennea = neun und Gramma = Abbildung], bezeichnet also eine geometrische Figur mit neun Spitzen.“254 In diesem Zitat können folgende Schlagwörter der Beschreibung des Enneagramms herauskristallisiert werden: geometrische Figur, Persönlichkeitstypen, Wechselbeziehung der Persönlichkeitstypen, moderne Psychologie und spirituelle Weisheit des Altertums. Im vorangegangenen Teil wurde in Anlehnung an Bartels bereits der Begriff „Konglomerat“ verwendet, um zu betonen, dass das „Enneagramm aus vielen verschiedenen spirituellen und religiösen Traditionen“255 hervorging. Es ist eine „Zusammenfassung des universalen Wissens, das über Jahrtausende hinweg angesammelt wurde und zu dem Buddhisten, Juden (in der Kabala), Christen und Moslems (vor allem die Sufis) gleichermaßen beigetragen haben.“256 Riso/Hudson bezeichnen es als ein „Hybride [, weil es] eine Mischung aus mehreren alten Weisheitslehren und moderner Psychologie“257 ist. Diese These spricht dafür, dass das Enneagramm sich nicht auf bestimmte Kulturen oder Menschengruppen bezieht, sondern „auf universelle Wahrheiten, die alle Menschen und das Wesen der Realität betreffen.“ 258 Die meisten Enneagramm-Kundigen geben an, dass es andere Mittel gebe, womit man die persönlichen Eigenschaften erkunden könne, aber gestehen dem Enneagramm einen höheren Stellenwert zu. Dies begründen sie erstens damit, dass das Enneagramm am präzisesten sei,259 und zweitens, dass andere Typenlehren vergleichsweise „unbefriedigend [seien], weil sie in ihrer Art und Weise, wie sie die Menschen in Kategorien einteilten, entweder zu starr oder zu unbestimmt waren, um brauchbar zu sein“.260 Im Gegensatz zu manch anderen Typologien ist das Enneagramm laut Pater Jonas auch neutral in seiner Ausrichtung. Er vergleicht seinen Eindruck von anderen Persönlichkeitsmodellen wie beispielsweise dem von Myers Briggs (MBTI) und stellt fest, dass das Enneagramm menschliche Stärken und Schwächen beachtet. Nach ihm neigen andere Modelle dazu, eine gewisse Art von Lebenseinstellung oder Typ zu bevorzugen, z.B. dass sie darauf ausgerichtet sind, das Potenzial zum Gewinn und eine positive extrovertierte Einstellung zum Leben hervorzuheben.261
Die Enneagramm-Lehrerin Beate geht auf die Kategorien des Enneagramms ein und versucht aufgrund der möglichen Unterteilung der Kategorien die Kritik am Enneagramm – die Einteilung der Menschen in Schubladen – zu widerlegen:
Im ersten Moment, als Martin262 mich damit konfrontiert hat mit dem Enneagramm, dachte ich: Kommt schon wieder so ein Ding, ja? Neun Persönlichkeiten, auf die will ich die ganze Menschheit herunterbrechen, was für ein Quatsch. Ja, sowas war mein erster Gedanke. also es war erst mal Widerstand da. Und dann habe ich gedacht, na ja, jetzt guck es dir halt einfach mal an. Dann habe ich angefangen darüber zu lesen und darüber nachzudenken, und ich wusste auf einmal: Es sind nicht neun Typen. Wenn man das Enneagramm wirklich und richtig kennenlernt, dann sind wir, wenn wir fertig sind, bei 82 Typen. Jeder Typ hat drei Subtypen nochmal, ja? Und jeder Typ hat nochmal einen Flügeltyp. Und wenn du das alles rundherum zusammenrechnest sind es auf einmal 82 Typen oder 83, weiß nicht mehr genau, und nicht mehr nur diese neun Typen. es lässt einfach viel auf.263
Nach Beate ist somit das Enneagramm kein Mittel, um die Menschen in enge Kategorien herunterzubrechen, sondern es lässt durch weitere Unterteilungen Raum für Individualität.
Auf das Enneagramm bezogen bedeutet dies, dass sich Menschen in den neun Persönlichkeitstypen wiederfinden, jedoch ihre Individualität nicht verlieren. Obwohl das Enneagramm klare Persönlichkeitsmerkmale aufweist, berücksichtigt es jede einzelne Person mit seinen Erfahrungen, sodass man nicht behaupten könnte, dass das Wissen um die Persönlichkeitstypen mit der ultimativen Menschenkenntnis gleichzusetzen wäre. Das hat wiederum auf der interpersonellen Ebene für meine Interviewten einen großen Stellenwert, so beispielsweise beim Jesuitenpater, der in Bezug auf seine Arbeit als Novizenmeister seiner „Studenten“ klarstellen wollte, dass eine gesunde gegenseitige Annahme voraussetzt, dass man wisse, wie unterschiedlich Menschen sind. Er sagt: “the enneagram teaches you to respect the differences between people’s approach to life”.264 Das heißt, es ist keine Fähigkeit, Menschen so zu sehen, wie wir sie sehen wollen, sondern sehen zu können, wie sie tatsächlich sind.
Grün sagt dazu: Durch das Enneagramm wird deutlich, dass es „diesen Typen von Menschen gibt und es wichtig [ist], dass der Mensch seine Stärken und seine Schwächen entdeckt, dass die Stärken auch zu Schwächen werden können und umgekehrt die Schwächen auch eine starke Seite haben.“265
Im gleichen Gedankengut geht Frau Meier vom Evangelium aus und erklärt, dass Jesus „eigentlich immer ganz schnell die Stärken und Schwächen eines Menschen im Auge gehabt und erfasst und auch festgestellt“266 habe. Nach Frau Meier „geht es im Enneagramm ja auch darum, dass wir sehen, was für Stärken [… und] was für Schwächen [wir haben], wo […] wir uns einsetzen [können] mit unseren Stärken und wo […] wir aufpassen [müssen], mit unseren Schwächen, um nicht irgendwie Schaden anzurichten.“267 Frau Meier sieht das Enneagramm also als eine Hilfe, sich selbst kennenzulernen und die Wirkung der eigenen Person auf die Mitmenschen einzuschätzen. In einem Enneagramm-Buch erweitern Barbara Metz und John Burchill den Gedanken, dass das Enneagramm für viele eine Lebenshilfe geworden sei. Denn durch das Enneagramm können sie die eigenen Begabungen und Stärken erkennen. Mit Hilfe des Enneagramms können sie auch die persönliche Art der eigenen Bemühungen und die eigene Schwächen benennen:268
Herr Mumba sieht im Enneagramm drei Eigenschaften – sich selbst zu verstehen, sich zu beobachten (kontrollieren) und geführt zu werden –, die für sein Leben hilfreich seien. Er sagt, dass das Enneagramm ihn somit davor bewahre, andere Menschen zu verletzen, was dazu führe, die Beziehungen mit anderen zu gefährden. Wenn man sich selbst nicht versteht, können die gleichen Verletzungen immer wieder passieren.269 Nach Pater James hilft das Enneagramm, sich über die eigene Entwicklung bewusst zu werden, und ermöglicht somit, sich selbst wertzuschätzen und zu entwickeln. Kurz gesagt, es ist ein Werkzeug zur Selbstüberwachung und zum Verständnis.270
Nach Anne Linden und Murray Spalding besteht dieses Verstehen darin, dass es nicht urteilt, sondern lediglich annimmt. Es ermöglicht, dass der Mensch nicht nur aus seiner eigenen Perspektive auf einen anderen Menschen blickt, sondern die Fähigkeit hat zu verstehen, wie der andere die Welt wahrnimmt, „ohne seine Eigenständigkeit“ dabei zu verlieren. Nur wenn man seinen eigenen Horizont erkennt, kann man verstehen, wo die Unterschiede zwischen Menschen liegen. Nach Linden und Spalding kann so eine Einstellung dazu führen, dass man mit seinen Mitmenschen mitfühlen kann, was über ein ‚Sich identifizieren‘ hinausgeht.271
Frau Ruth Maria Michel betont, dass das Enneagramm als Persönlichkeitsmodell nur das Verhalten der Menschen beschreibt, was nicht konfessionell gebunden ist, sondern nur menschlich. „Modell sagt, es gibt […] neun verschiedene Brillen, mit denen man die Welt anschaut. Und ob man jetzt evangelisch ist – man hat einfach so eine Brille“.272 Für Herrn Schulte ist das Enneagramm eine Orientierungshilfe. Es ist für ihn ein Kennenlernmodell, das Informationen über den Mitmenschen gibt, und zwar auf zweierlei Weise: auf reiner Wissensbasis und auf Gewissensbasis. Es sei gut, wenn man sagen könne, durch den Glauben sollte man alles akzeptieren und verstehen, aber im Alltag funktioniere dies nicht immer. Es sei besser, wenn man wisse, was hinter einem Verhalten steckt.273 Auf diesen Punkt bezogen kritisiert Lütz, dass das Enneagramm esoterische Züge aufweise: „von daher ist das Enneagramm dann schon ein Problem, weil [man] tatsächlich […] so ein scheinbar esoterisches Wissen über das ‚Eigentliche‘ hinter dem Menschen“274 hat.
Für Herrn Schulte besteht die Hilfe im Enneagramm darin, unbeantwortete Fragen in seinem Leben zu beantworten, allerdings in einer Weise, dass das Enneagramm seine Hypothesen bestätigt oder widerlegt. Andererseits sagt er, dass das Enneagramm nur Teile vom Ganzen beschreibe. Es könne keine einzelne Person gänzlich beschreiben, als sei sie ein Objekt. Für ihn sind die Beschreibungen einerseits grob, zum anderen eine feine Einteilung der menschlichen Eigenschaften.275
Und zuletzt sagt Gündel, dass es ein zweistufiges System – psychologisch und spirituell – sei. Die Typbeschreibungen weisen auch daraufhin, wie eine Person sich spirituell entwickeln kann, und zwar für jeden auf seine eigene Weise:
Gündel: Also für mich ist das auf der einen Seite ein psychologisches System der Menschenkenntnis, da beschreibst du einfach neun unterschiedliche Persönlichkeitstypen[…] und auf der anderen Seite ist es sozusagen ein System im Übergang von Persönlichkeit zur Spiritualität, was einen jeweils persönlichkeitsspezifischen Weg zur Spiritualität weist. […] Wo ist mein nächster Schritt, wenn ich nicht gerade mehr mit meiner Mechanik beschäftigt bin?276
2.1.1. Flügel
Abbildung 3.
Mit der Theorie der Flügel wird im Enneagramm veranschaulicht, dass ein Haupttyp auf beiden Seiten von zwei weiteren Typen umgeben ist, deren Eigenschaften sich mit dem Haupttyp vermischen können. Nach dem obigen Enneagramm-Modell (Abbildung 3.) hat z.B. Typ FÜNF die Typen SECHS und VIER als Flügel. Einer der Flügel kann dominanter sein als der andere, so dass er mehr zum Vorschein kommt. Das bedeutet, er hat mehr Bezug zum Haupttyp als der andere Flügeltyp. Nach Helen Palmer „wäre es [aber] unzutreffend, das Potential des anderen [des nicht dominanten Typs] zu negieren.“277 Obwohl der andere Flügel nicht dominant ist, kann er sich unter Umständen bemerkbar machen, sodass ein Haupttyp stets mit beiden Flügeln betrachtet werden sollte.
In den letzten Jahren hat das Konzept der Flügel für das Verständnis der Typen mehr an Bedeutung gewonnen. Es wird häufiger in der Enneagramm-Literatur und den -Vorstellungen nicht nur von den neun Haupttypen geredet, sondern auch auf die benachbarten Typen Bezug genommen. Statt nur z.B. von Typ FÜNF zu sprechen, wird von Typ FÜNF mit VIERer-Flügel und Typ FÜNF mit SECHSer-Flügel usw. gesprochen. Obwohl es um den gleichen Typ geht, erscheinen die zwei Varianten wegen der „Färbung“ des Haupttyps mit den Eigenschaften der Flügeltypen unterschiedlich voneinander. Einige Menschen berichten, dass sie sich besser typisieren ließen, nachdem sie die Flügelvarianten berücksichtigt hatten. Das ist damit zu begründen, dass die Berücksichtigung der Flügel ermöglicht, das Verständnis der Typen zu erweitern und somit die Arbeit an sich individueller und gezielter zu gestalten278, denn die „Gewichtsverlagerung zu den Flügeln hin trägt zur Charakterisierung der Persönlichkeit bei. Zwei Menschen, die demselben Typ angehören, sind nie identisch, auch wenn sie die gleichen Themen und Probleme haben.“279