Kitabı oku: «Die Nähe der Nornen», sayfa 6
4. Der Verdacht
Als Valerian von Erdolstin vor etwas mehr als dem Umlauf eines halben Jahres auf seinem Herzogsitz in Mendeor angekommen war, schlossen sich die grauen, bedrückenden Mauern seines Elternhauses um ihn wie eine Gruft. Sein Stiefvater hatte ihn hochmütig und kalt empfangen, als wäre er ein Bittsteller. Erst nach Tagen war er bereit gewesen, Valerian Einblick in die Verwaltung zu gewähren und es hatte noch weitere zwei bis drei Wochen gedauert, bis der Herzog den nötigen Überblick hatte, um seinen Stiefvater zu sich rufen zu lassen und ihn all seiner Aufgaben zu entbinden.
Wie er bereits vermutet hatte, war dieser damit nicht einverstanden, aber Valerian blieb standhaft und schließlich zog sich der Alte auf seinen Ruhesitz zurück. Nicht, ohne seinem Stiefsohn unmissverständlich klarzumachen, was er von seinen Fähigkeiten hielt.
Tatsächlich war es ein hartes Stück Arbeit gewesen, die Dinge in die Richtung zu lenken, die Valerian sich vorstellte. Als sich nach Wochen endlich kleine Erfolge einstellten, kam der Brief von seinem Bruder Levian an, in dem er Valerian anflehte, umgehend zurück zur Falkenburg zu reisen.
So manche Nacht hatte sich Valerian darüber geärgert, dass Levian immer dann auf seine Hilfe angewiesen war, wenn es ihm am ungelegensten kam. Trotzdem wollte er ihm beistehen. Das Bedürfnis seinem Bruder zu helfen, war für den Herzog so stark wie der Drang eines einsamen Wolfes, ein Rudel zu finden. Doch wie immer hatte Levian in keinster Weise praktisch gedacht. Was nützte ein Hilferuf, der bei Einbruch des Winters über die Berge geschickt wurde? Der Bote, der das Schreiben überbracht hatte, litt bereits an schwersten Erfrierungen, als er den Herrensitz von Erdolstin erreichte. An eine Überquerung der Berge war zu dem Zeitpunkt nicht zu denken gewesen. Die Winterstürme machten den Pass unpassierbar und selbst die Eilbotschaft, die Valerian auf dem weiten Weg über den Hettiggraben geschickt hatte, konnte frühestens vier bis fünf Wochen vor ihm die Falkenburg erreichen.
Der Winter hatte Valerian immerhin die Zeit verschafft, einen fähigen Verwalter für seine Burg zu finden. Jemanden, der etwas Wohnlichkeit und Wärme in die kalten grauen Mauern brachte, fand er nicht.
Mit der ersten Schneeschmelze machte er sich auf den Weg nach Ardelan, um dem Ruf seines Bruders zu folgen.
In der Kutsche las er wiederholt den Brief seines Bruders und fragte sich, was so dringend gewesen sein konnte, dass Levian einen derart flehenden Ton anschlug. Nicht einmal ein zehntausend Mann starkes Heer, das die Burg belagerte, könnte ihn unter normalen Umständen dazu bewegen, sich in diesem Maße zu erniedrigen. Valerian hoffte, dass er nicht zu spät kam.
Seine Reise ging schleppend voran. Die Wege über den Pass waren so früh im Jahr nur schwer befahrbar. Mehrere Tage musste er in zweifelhaften Unterkünften ausharren, da Neuschnee die Weiterfahrt behinderte. Erst zum Ende des Lenzmondes erreichte er ardelanischen Boden, hatte aber zu dem Zeitpunkt noch mindesten drei Wochen Fahrt vor sich.
Wie immer, wenn die Berge hinter ihm lagen, genoss er die Reise durch dieses hügelige Land und mit jedem Tag, den er weiterfuhr, konnte er dem Frühling bei seiner Arbeit zusehen.
Als er in der zweiten Hälfte des Monats Launig Markt Krontal erreichte, beschloss er, ein bis zwei Tage zu rasten, ehe das letzte Stück seiner Reise bis zur Falkenburg antrat. Er wusste, dass Levian ihm nicht viel Zeit zum Ausruhen gewähren würde und dass man in Markt Krontal so manches einfacher erfuhr als auf der Falkenburg.
Nach Wochen in der Kutsche war er froh, sich endlich die Beine vertreten zu können. Den Brief seines Bruders trug er in der Brustasche seines Wamses.
Obwohl er eine Pause bitter nötig hatte – und mehr als er mussten seine Männer und die Pferde ausruhen – spürte er doch das schlechte Gewissen, das an ihm nagte.
Ohne auf etwas Bestimmtes zu achten, außer Klatsch und Tratsch, schlenderte er über den Markt. Es war der erste sonnige Tag nach einer ganzen Woche Regenwetter und das trieb die Menschen auf die Straße. Stimmengewirr, das nur durch die lauten Rufe der Händler übertönt wurde, erfüllte die Luft. Es wurde gefeilscht und gejammert und manches, was wie ein erbitterter Streit aussah, entpuppte sich am Ende als lohnendes Geschäft für Käufer und Verkäufer. Zunehmend entspannte sich Valerian und die Last der letzten Monate bröckelte von ihm ab.
»Edler Herr wünscht Ihr, das schöne Stück zu kaufen. Gewiss werdet Ihr nirgendwo anders einen so hervorragend gearbeiteten, außerdem noch so schön verzierten und preisgünstigen Gürtel finden.«
Valerian starrte auf den breiten Ledergürtel in seiner Hand und nahm erst jetzt bewusst wahr, dass er ihm gefiel. Er war schlicht und die schwarze Stickerei würde gut zu Levians düsteren Kleidungsstücken passen. Er lächelte. Wahrscheinlich war es unpassend Kleidung für einen König, auf einem Markt zu kaufen, aber der musste es ja nicht zwingend erfahren.
»Was soll er denn kosten?«, fragte er.
Der Händler musterte Valerian kurz und nannte einen Preis, der den Wert des Gürtels um das Vier- bis Fünffache überstieg.
Der Herzog war zwar durchaus bereit, einen angemessenen Preis zu zahlen, aber auf keinen Fall wollte er sich über den Tisch ziehen lassen. Mit entrüsteter Miene legte er den Gürtel zurück und wandte sich zum Gehen. Er schritt langsam, damit der Händler Zeit hatte, den Preis zu senken. Als er ihn durch sein Desinteresse auf die Hälfte des Preises heruntergehandelt hatte, drehte sich Valerian um und nannte seinen Preis. Nun konnte der Händler endlich zeigen, wie viel Schauspieltalent in ihm steckte. Er jammerte, er litt. Sieben Kinder, die allesamt Hunger litten, führte er ins Feld, bis sie sich schließlich auf einen Preis einigten, der Valerian akzeptabel erschien und für den Händler das Geschäft des Tages war.
»Ich habe den Herren noch nie auf diesem Markt gesehen«, plapperte der Mann, während er den Gürtel aufrollte. »Zweifellos könnte ich mich erinnern. Eurer Aussprache nach zu urteilen, kommt Ihr nicht aus Ardelan?«
Endlich eine Gelegenheit, zu plaudern, dachte Valerian. »Ich komme aus Mendeor«, bestätigte er. »Waldoria ist mein Ziel. Wie ich gehört habe, soll dort einiges los sein.«
»So kann man das auch ausdrücken«, brummte der Mann.
»Dann stimmen die Gerüchte?«, fragte Valerian ins Blaue und hoffte, dass er den anderen damit zum Reden bewegen konnte.
»Wenn es nur Gerüchte wären.« Der Mann schlug sich mit der Faust vor die Brust, wie zur Abwehr böser Geister. »Um die Stadt ist es schlecht bestellt. Die Menschen dort leben in Angst. Hunderte von Soldaten haben vor den Toren der Stadt, im Alten Wald, bereits den Tod gefunden, und wenn Ihr mich fragt, werden weitere sterben, wenn sie nicht endlich Ruhe geben.« Er beugte sich vor und warf einen prüfenden Blick über die Schulter, als ob er erwartete, dass jemand direkt hinter ihm stand. »Nicht einmal der Zauberer kann verhindern, dass die Elben überall umherlaufen.«
»In Waldoria gehen Elben um?«, fragte Valerian ungläubig.
»Doch nicht dort! Aber die Alten sind in vielen anderen Städten gesehen worden. Bisher immer friedlich und atemberaubend schön. Sie sprechen von einem König aus dem alten Geschlecht …« Er stockte, als ob ihm jetzt erst bewusstwurde, dass er mit einem Fremden über Dinge sprach, die ihn ohne Weiteres den Kopf kosten konnten. Mit einem verlegenen Hüsteln zog er sich weit hinter seinen Stand zurück. »Gerüchte, Klatsch und Tratsch. Ihr kennt die einfachen Menschen.«
Valerian nickte dem Mann zum Abschied zu und entfernte sich mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er konnte kaum glauben, dass die scheuen Elben, die er vergangenen Sommer im Wald gesehen hatte, in den Städten unterwegs sein sollten. Und was war das für ein Gerücht über einen König aus dem alten Geschlecht? Doch nur, weil niemand sonst in der Thronfolge stand, war Levian damals König geworden. Sein Bruder war selten so ungehalten gewesen, wie in der Zeit, als das von der Kirche geprüft wurde.
Valerian wusste aber, dass in nahezu jedem Gerücht ein Fünkchen Wahrheit steckte. Nur war die Wahrheit manchmal nicht sofort zu entdecken. Er musste versuchen, Genaueres zu erfahren. Möglicherweise war es nur der von Levian angeschürte Elbenwahn, der die Fantasie der Menschen beflügelte. Doch wenn es stimmte, was der Händler erzählte, dann hatte Levian ein nicht unerhebliches Problem.
Valerian schlenderte weiter. Er kaufte an weiteren Ständen Dinge, die er nicht brauchte, und verwickelte die Menschen ins Gespräch. Mit Fragen wie, »Habt Ihr das von den Elben gehört?«, brachte er viele Händler zum Reden. Wenn er jedoch auf das Heer bei Waldoria zu sprechen kam, schürte er Unmut. Fast jeder hatte einen Sohn oder Bruder, der dienen musste. Die Unzufriedenheit war groß, der Feind nicht greifbar, die Heerführung zweifelhaft und die Verluste hoch. Die Leute waren unruhig. Das Land litt unter den Vorbereitungen auf einen Krieg und die Angst vor dem Zorn der Elben war groß.
Die Gerüchte waren widersprüchlich. Jene, die behaupteten Elben gesehen zu haben, sprachen von friedlichen Wesen. Andere, die Söhne im alten Wald verloren hatten, von einem mächtigen Feind. Worin sich alle einig waren, war die Meinung, dass man nicht gegen sie kämpfen sollte.
Ganz frisch schienen zudem die Geschichten von der Entrückung des Waldes. Es hieß, dass sich über dem Wald eine Art Nebel gebildet hatte, sagten die einen, ein Luftflimmern behaupteten andere. Angeblich konnte man ihn nicht mehr betreten, und selbst wenn dies gelang, lief man anschließend nur im Kreis.
Die meisten dieser Berichte endeten mit den Worten: »Der alte Wald war schon immer eigen. Jedes Kind weiß das.«
Manche unterstellten dem Zauberer, diese Veränderung heraufbeschworen zu haben. Andere behaupteten, dass er bloß ein nichtsnutziger Angeber sei, doch die meisten hatten einfach nur Angst, weil man nicht auf die Warnungen der Alten gehört hatte.
Ein Vorwurf, den sich kaum einer traute, offen auszusprechen war: »Der König hat die bösen Geister im Wald geweckt und die Elben erzürnt.«
Immer wieder hörte Valerian dieselben Sätze: »Wer im Dachsbau stochert, braucht sich nicht wundern, wenn er gebissen wird.«
»Schlafende Hunde soll man nicht wecken.«
»Man betritt nicht die Höhle eines schlafenden Bären.«
Und schlimmer: »Böses zieht Böses an.«
»Wie man in den Wald ruft, so schallt es zurück.«
Und dann erfuhr Valerian unvermittelt, dass sich der König derzeit nicht in der Falkenburg aufhielt, sondern bereits im Spätherbst nach Süden gereist war. Um den Beistand der Kirche zu erbitten, hieß es.
Das allerdings konnte sich Valerian nicht vorstellen. Was Levian von der Kirche hielt, wusste er nur zu gut. Außerdem konnte er kaum auf deren Unterstützung zählen, nachdem er Zauberer ins Land gerufen hatte.
Als Valerian abends in dem harten Bett lag, wälzte er sich unruhig hin und her. Er hatte genug erfahren, um beunruhigt zu sein, und auch genug, um sich ausmalen zu können, warum Levian ihn auf die Falkenburg bestellt hatte. Zornig warf er sich von einer Seite auf die andere. Wenn Levian nicht in der Lage war, sein Land selbst zu regieren, und nun von ihm erwartete, dass er für ihn die Kohlen aus dem Feuer holte, dann war er eindeutig zu weit gegangen. Valerian war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sofort umzukehren, und dem, seinem Bruder eine schallende Ohrfeige zu verpassen.
Spät fiel er schließlich in einen unruhigen Schlaf.
***
»Der Archiepiskopos will was?«, brüllte Levian so laut, dass man ihn zweifellos auch noch im nächsten Gebäudeflügel hören konnte. Dabei lief er unaufhörlich auf und ab.
»Er hat es bereits getan, Majestät. Eure Gemächer sind durch die kirchliche Garde abgeschottet. Sie kontrollieren jeden, der hinein- und hinausgeht. Der einzige Weg, den sie Euch gestatten, ist der Gang eines reuigen Sünders nach Eberus.« Der Mann, Darentor von Wallhaus, stand mit gesenktem Kopf vor dem König. Er war von niederem Adel und hatte sich König Levian im Monastirium freiwillig in den Dienst gestellt, in der Hoffnung, dadurch mehr Ansehen und auch etwas mehr Reichtum zu erlangen.
»Ist der vollkommen verrückt? Das übersteigt bei Weitem seine Befugnis. Ich werde ihn zerquetschen wie eine Fliege«, raste Levian. Rote Flecken bedeckten seinen Hals und seine bleichen Wangen oberhalb des ungepflegten Bartes. »Schickt mir sofort einen Schreiber. Ich werde dafür sorgen, dass der Fettwanst seine Entscheidung bereut. Erst wenn Eberus in Schutt und Asche liegt, werde ich ruhen.«
»Majestät, keines Eurer Schreiben wird dieses Haus verlassen.« Die Miene des Mannes war wie aus Stein, aber er hatte die Schultern ein wenig nach oben gezogen, als erwartete er einen Schlag.
In den letzten Monaten war er fast so etwas wie ein Berater für den König gewesen. Er hatte dafür gesorgt, dass seine Majestät die gewünschten Bücher aus der Bibliothek bekam, und hatte mit ihm die Inhalte erörtert. Er hatte geglaubt, Levian Zorn und seinen Unmut zu kennen, doch das Verhalten, das dieser jetzt an den Tag legte, jagte ihm Angst ein.
»Du wirst zu Dosdravan gehen«, sagte der König plötzlich in normaler Lautstärke, aber sein Ton war so eisig, dass er die Luft im Raum abzukühlen schien. »Er soll sofort hierherkommen.«
Darentor fürchtete sich davor, König Levian zu erklären, dass niemand, der in seinem Dienste stand, dieses Kloster verlassen konnte. Der verhängte Arrest betraf jeden, der sich in Levians Nähe aufhielt. Die königliche Wache war abgeführt worden. Im Kloster wimmelte es nun von Männern der kirchlichen Garde.
»Ich werde tun, was Ihr befehlt«, hörte er sich sagen.
»Ihr seid ein eitler Gecke, Wallhaus. Wenn Euch gelingt, was Ihr versprecht, werde ich über eine Belohnung nachdenken … ansonsten«, er machte eine bedeutungsvolle Pause und zog dann langsam und genüsslich seinen Daumen am Hals vorbei.
Darentor senkte erschrocken den Blick. »Ihr werdet zufrieden sein, Majestät«, versicherte er schnell.
Darentor suchte Tag und Nacht nach einer Möglichkeit, das Monastirium zu verlassen und verfluchte den Tag, da er sich dem König wie eine Hure angeboten hatte. Er verfluchte seinen Stolz und seine Eitelkeit.
Zwei bis dreimal täglich bestellte der König ihn nun zu sich und erkundigte sich nach dem Fortgang seiner Bemühungen. Jedes Mal empfing er ihn mit dem Vorwurf: »Ihr seid immer noch hier.« Dann übertrug er Darentor weitere Aufgaben, die meist nichts mit seinem übergeordneten Auftrag zu tun hatten. Am Ende jeder Unterredung sah er ihn aus zusammengekniffenen Augen an, verzog seinen Mund zu einem Lächeln, das nichts Gutes zu bedeuten hatte und deutlich machte, dass es für den König eine willkommene Abwechslung wäre, Darentors Kopf rollen zu sehn.
Darentor Wallhaus hing an seinem Kopf und wollte ihn keinesfalls verlieren. Immer hektischer suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit. Er wollte möglichst viel Abstand zwischen sich und dem König schaffen, und er nahm sich vor, niemals wieder in dessen Nähe zurückzukehren, insofern sich dies irgendwie vermeiden ließ. Nach einigen Tagen kam ihm der Zufall zu Hilfe. An einer Wäscheleine entdeckte er früh am Morgen die Kutte eines Mönchs. Hastig zog er sie herunter und versteckte sie. Die Mönche verließen ab und an das Kloster, um die Gärten jenseits der Mauern zu pflegen, und Darentor hatte tatsächlich noch ein zweites Mal Glück. Es gelang ihm, sich unbemerkt einer dieser Gruppen anzuschließen. Mit gesenktem Kopf und heftig pochendem Herzen folgte er den Mönchen durch das Haupttor den gewundenen Pfad hinunter. Als das Tor außer Sichtweite war, ließ sich Darentor zurückfallen, und in einem Moment, der ihm am günstigsten erschien, lief er, so schnell er konnte, in den Schutz eines Pinienwaldes. Er hielt sich nicht damit auf, falsche Fährten zu legen. Falls jemand von der archiepiskopoischen Garde merkte, dass er nicht mehr da war, wüsste jeder, wo er ihn suchen musste. Darum rannte er geradewegs nach Norden. Seine Lungen brannten, seine Beine zitterten und sein Hals war trocken, aber er gönnte sich keine Pause. Für ihn galt es nur noch, so schnell wie möglich den Auftrag des Königs zu erledigen und dann noch schneller zu verschwinden. Eine Belohnung würde es für ihn nicht geben. Die größte und einzige Belohnung, die er erwartete, war die, aus dem Dunstkreis des Königs entlassen zu sein und ihn nie wieder betreten zu müssen. Ab und zu blieb Darentor stehen und lauschte, ob ihm schon jemand auf den Fersen war, dann lief er weiter.
***
Aribald Langwasser saß mit sieben Männern an einem kleinen Feuer und war zufrieden. Es war eines von etwa fünfzehn Feuern und an jedem von ihnen wärmten sich etliche grimmig aussehende Rebellen. Nach all den Jahren, die Aribald sinnlos vergeudet hatte und die aus ihm weniger als den Schatten seiner selbst gemacht hatten, merkte er nun zunehmend, dass er lebte.
Einst nannte er sich Baron und besaß ein nicht unerhebliches Stück Land in den Quellenbergen. Ein schönes Herrenhaus und ein gut gefüllter Weinkeller gehörten auch dazu, aber in seinem jugendlichen Leichtsinn hatte er zu viele ausschweifende Feste gefeiert und nächtelang Freunde, die er heute nicht mehr kannte, beim Würfeln freigehalten.
Wann er begonnen hatte, schon vor dem Frühstück einen Krug Wein zu leeren, konnte er heute nicht mehr sagen. Genau so wenig, wie ihm die Jahre im Gedächtnis geblieben waren, die er in einem Nebel aus Alkohol zugebracht hatte. Nur verschwommen erinnerte er sich heute an den Fremden, der in sein Haus gekommen war und der ihm, trotz seiner herrischen und unfreundlichen Art, immer willkommen gewesen war, weil er stets einige Krüge guten Rotwein mit sich führte. Aribald Langwasser wusste nicht mehr, was für einen Handel er mit dem Mann eingegangen war, aber nach einem dieser Besuche erwachte er in seinen eigenen Verliesen, an Armen und Beinen gefesselt. Der Nebel, in dem er lebte, bekam damals zum ersten Mal einen Riss und er spürte seinen Körper wieder. Doch nur zu seiner Qual. Tagelang zerrte er an seinen Ketten und brüllte dabei wie ein Tier, bis ihn die Erschöpfung niederzwang und er besinnungslos in seinen eigenen Exkrementen liegen blieb.
Dieser verzweifelten Raserei folgte stille Resignation. Die blutenden Wunden an Armen und Beinen vernarbten und Aribald begnügte sich mit dem abgestandenen Wasser und dem trockenen Brot, das ihm ab und zu hingestellt wurde. Sein vom jahrelangen Alkoholmissbrauch abgestumpfter Verstand ließ ihn nicht einmal mit seinem Schicksal hadern. Regungslos lag er Tage und Wochen da und starrte in das Dämmerlicht. Genauso dämmerig waren auch seine Gedanken. Er schlief, er wachte, aber er nahm nichts von all dem wahr, bis er eines Nachts brutal aufgerüttelt und dann niedergeschlagen wurde. Als er erwachte, war die Luft leichter und es gab Geräusche von fließendem Wasser. Seine Ketten hingen nicht länger an der Wand, sondern waren an einer Schiene am Boden befestigt. Schwerfällig ging er einige Schritte und staunte über die weitläufige Halle, in der er sich befand. Doch plötzlich wimmelte es in der Halle von gebeugten Kreaturen.
Aribald war sich damals sicher, in der Hölle angekommen zu sein, aber auch dies nahm er nur zu Kenntnis, es bewegte ihn nicht. In gewisser Weise war er wirklich tot gewesen und diese Hölle nur ein weiterer Beweis dafür, dass er in seinem Leben alles falsch gemacht hatte.
Teilnahmslos erledigte er die Arbeit, die ihm von den Kreaturen aufgetragen wurde, und nahm die Schläge in Kauf, wenn er sie nicht ordnungsgemäß oder schnell genug durchgeführt hatte. Bis eines Tages ein Engel zu ihm sprach und ihn daran erinnerte, dass er früher mal einen Namen hatte. Und ein Leben.
Ihre Stimme war Trost und sie berührte einen Teil in ihm, von dem er nicht wusste, dass es ihn noch gab. Durch diese Stimme fühlte er, dass er immer noch ein lebendes Wesen war, doch als sie ging, war die Dunkelheit um ihn herum finsterer denn je. Alles, was ihn am Leben hielt, war ihr Versprechen wiederzukommen.
Heute wusste er, dass es kein Engel gewesen war, der mit ihm gesprochen hatte. Als die Elben kamen und ihn aus der unterirdischen Halle befreiten, lauschte er, ob ihre Stimme dabei war. Und obwohl alle ihre Laute wie Musik in seinen Ohren klangen, fehlte ihm doch jene eine.
An dem Tag, als Aribald zum ersten Mal wieder das Licht der Sonne sah, ließ er sein altes Leben hinter sich. Er war hundert Tode gestorben und den Baron von Langwasser, der er einst gewesen war, gab es nicht mehr.
Die Elben hatten ihm ein neues Leben geschenkt und mit dem wollte er nicht so unachtsam umgehen wie mit dem ersten. Er behielt nur seinen Namen als Erinnerung und Mahnung und verließ die Quellenberge, die einst seine Heimat waren.
Seit er wieder in der Gesellschaft von Menschen weilte, merkte er, wie seine Lebensenergie zurückkehrte. Sein Körper erinnerte sich daran, dass er früher einmal kraftvoll gewesen war. Er lernte, das Lachen befreien konnte und ein derber Scherz unter Gleichgestellten Balsam für die Seele war. Selbst die eine oder andere Schlägerei hatte die Wirkung eines Sommergewitters, nach dem die Luft wieder rein und klar war.
Viel Zeit zum Grübeln blieb ihm in dem Rebellenlager, in dem er jetzt lebte, ohnehin nicht. Um die Versorgung einer so großen Truppe zu gewährleisten, war einiges an Aufwand nötig. Die erfahrenen Kämpfer und geschickten Jäger kümmerten sich um das leibliche Wohl, während die anderen – so wie er – im Lager Ordnung hielten, Beeren und Holz sammelten, Zelte flickten und Pfeile schnitzten.
Knut war ein verwegener, hitzköpfiger Anführer. Er konnte die Männer begeistern und auch in schier ausweglosen Situationen noch einen positiven Gedanken finden, der aufmunternd wirkte. Aber bei der nicht abreißenden Schwemme an Notsituationen war es bereits zu einigen Abspaltungen gekommen. Aribald zweifelte nicht daran, dass ohne den bedachten Gunar weit weniger von der Truppe, die im Winter aus der Armee des Königs geflohen war, übriggeblieben wäre.
Gunar war der Mann im Hintergrund und wahrscheinlich der Einzige, der mitten in einem Streit Knut unverblümt die Meinung sagen konnte, ohne dass dieser ihn niederschlug. Zwar hörte Knut durchaus auch auf das, was andere ihm rieten, aber bei keinem gab er dies so offen zu wie bei Gunar. Knut war das Schwert, aber Gunar das Schild, und schon nach kurzer Zeit merkte Aribald, dass die Männer mit ihren Sorgen zu Gunar gingen. Wenn Gunar bei den Feuern saß, so wie jetzt, trank er immer mäßig und mit Bedacht. Genau wie Aribald hörte er nur zu und beobachtete die anderen.
»Du trinkst nie mit den Männern.«
Aribald fuhr zusammen. »Ich habe genug getrunken für dieses eine Leben«, antwortete er. »Mehr als genug.« Dann starrte er ins Feuer und schwieg.
»Dein Name war weithin bekannt dafür.«
Wieder zuckte Aribald zusammen, löste seinen Blick aber nicht aus dem Feuer. »Ein zweifelhafter Ruhm.«
»Wohl wahr«, lachte Gunar rau. »Doch könnten wir alle etwas Ruhm gebrauchen.«
»Ich habe mein altes Leben hinter mir gelassen.« Aribald sah den Rebellen von der Seite an, aber dieser blickte ihm offen in die Augen. »Von dem, was früher mir gehörte, ist mir nur mein Name geblieben, der mich mahnt, nicht zu vergessen, aus welch tiefen Abgründen ich entkommen bin.«
»Keiner hier ist ohne Vergangenheit. Selbst diejenigen, die gerade mal sechzehn Sommer alt waren, als sie dem Heer des Königs beitreten mussten, haben sich damals, bei dem Kampf im Wald, von allem losgesagt und einen Teil ihres Lebens hinter sich gelassen. Was uns hier zusammenhält, ist Angst und ein gemeinsamer Feind. Einen, den alle fürchten.« Gunar lachte. »Auf Dauer wird das für unseren Zusammenhalt jedoch nicht reichen. Erst gestern haben sich wieder einige zusammengetan und sind nach Süden aufgebrochen. Knut ist ein hervorragender Kämpfer, aber er hat mit zu vielen hier zusammen getrunken. Die Männer sehen nicht zu ihm auf. Schon jetzt sind wir nicht mehr als ein Haufen Diebe und werden alle an einem Galgen enden.«
Aribald hörte zu. Er ahnte, worauf Gunar hinauswollte, aber er konnte ihn weder unterbrechen noch konnte er sich dazu durchringen, etwas dazu zu sagen.
»Wir haben Kundschafter, die uns berichten, dass sich die Kirche auf einen Krieg vorbereitet. Manche sind der Meinung, wir sollten uns ihnen anschließen. Knut ist dagegen und auch ich halte nichts davon. Der Heilige Vater in Eberus hat schon oft gezeigt, was er mit Verrätern macht.«
»Und dieses neue Gerücht von dem unbekannten Nachfahren aus dem Geschlecht der Kronthaler Könige, was hältst du davon?«, fragte Aribald.
Gunar zuckte mit den Schultern. »Es ist ein Gerücht, keiner weiß was Genaues.«
»Und die Elben?«, fragte Aribald weiter.
»Machst du Witze! Die meisten hier fürchten die Elben mindestens so sehr wie den Zauberer. Sie und dieser geheimnisvolle Wald sind es doch, die immer mehr Männer nach anderen Auswegen suchen lassen.«
»Der Wald?«, fragte Aribald verständnislos. »Aber er bietet uns doch Schutz.«
Gunar lachte freudlos. »Wir alle haben mindestens einen Kameraden an den Wald verloren. Zugegeben, das war, bevor wir uns ihm ausgeliefert haben, aber dennoch erinnern sich die Männer noch an jede Handbreit Weg, den wir ihm blutend abgetrotzt haben.«
Aribald nickte. Jetzt verstand er, warum jeder hier lieber einen weiten Fußmarsch in Kauf nahm, um Feuerholz zu suchen, statt sich an einem der Bäume zu vergreifen. In seiner Heimat in den Quellenbergen erzählte man sich auch Geschichten über den Wald, aber die letzten hatte er als Kind gehört.
»Ich habe Elben gesehen«, sagte Aribald unvermittelt.
Gunar bekam kugelrunde Augen. »Gesehen?«, fragte er ungläubig.
»Gesehen«, bestätigte Aribald. »Ich saß mitten unter ihnen. Sie haben meine Wunden versorgt und mich gepflegt. Sie bekämpfen den Zauberer. Sie haben alle seine Gnome getötet und …« Aribald stockte und verzichtete auf die Geschichte von dem weggesprengten Berg. Selbst heute bekam er eine Gänsehaut, wenn er daran dachte. Die Elben waren mächtige Wesen. Sie verfügten über Kräfte, die ihm nicht geheuer waren, und er vermutete, dass es viele Gründe gab, sie zu fürchten. Doch mindestens genauso viele Gründe gab es, es nicht zu tun. Wenn er an die bescheidene Freundlichkeit dachte, mit der sie sich ihm genähert hatten, wurde sein Herz weit.
Gunar sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als schätzte er ab, ob Aribald wirklich die Wahrheit sagte. Nach einer Weile beschloss er offensichtlich, ihm zu glauben.
»Diese Geschichte wirst du mir bald genauer erzählen müssen. Einstweilen bitte ich dich, dir zu überlegen, ob du diesem Haufen Männer zu etwas Würde verhelfen willst, indem du deinen Stand für unsere Sache in die Waagschale wirfst. Viele wären froh, wenn sie sich unter dem Banner eines großen Herrenhauses einen könnten. Selbst wenn es sich dabei um die Baronie Langwasser handelt.«
Nachdem Gunar ging, starrte Aribald so lange in die Flammen, bis nur noch schwach glimmende Kohlen davon übrig waren.
Früher war er der Baron der Säufer und Verschwender gewesen und jetzt sollte er der Baron der Rebellen und Diebe werden? Wusste Knut von Gunars Vorschlag? War er bereit, seine Führerrolle abzugeben, oder hatten er und Gunar sich gedacht, dass es gut wäre, ein neues Aushängeschild zu haben? Ein letzter Funken Würde verbot Aribald, der Handlanger dieser beiden Männer zu werden. Dann wollte er doch lieber wieder alleine weiterziehen. Mit etwas Glück würde er im Wald alles finden, was er zum Leben brauchte. Er sorgte schließlich für alle Menschen hier wie eine mürrische Mutter.
Zwei Tage vergingen, an denen Aribald weder Gunar noch Knut zu Gesicht bekam. Im Lager ging alles seinen gewohnten Gang. Aribald hatte Glück und fand einige Vogelnester, die er räuberisch plünderte. Die Männer, mit denen er das Feuer teilte, quittierten diesen Fund mit einem anerkennenden Schulterklopfen, denn er bereicherte ihr Nachtmahl. Auch Aribald war zufrieden. Er lag entspannt zwischen den Wurzeln einer großen Eiche und starrte durch ihre jungen Blätter in den Himmel. Zwar hörte er das Hufgetrappel, das einen Kundschafter ankündigte, aber er war viel zu träge und vollgefressen, um sich zu erheben. Was immer der Bote zu berichten hatte, er würde es gewiss noch früh genug erfahren.
Er lauschte dem Flüstern des Windes und dem Rascheln in den trockenen Blättern des Vorjahrs. Seine Gedanken waren frei und sorglos. Müdigkeit lähmte seine Glieder und die Geräusche aus dem Lager vermischten sich mit den ersten Traumbildern, als ihn plötzlich jemand an der Schulter packte und unsanft schüttelte.
»Knut will dich sehn!«
»Was?«, stammelte Aribald verschlafen.
»Jetzt beweg dich halt, dann wirst du’s schon erfahren.«
Aribald stand auf, gähnte und klopfte den Staub aus seiner Hose, ehe er zu Knuts Feuer hinüberging.
Gunar saß dort und unterhielt sich mit einem Mann, dessen Gesicht und Namen Aribald nicht kannte. Zwei weitere Männer, Uribert und Hubert, unterhielten sich ebenfalls. Knut war nicht da.
Als Aribald in den Lichtkreis des Feuers trat, sahen alle auf, und Gunar winkte ihn sofort herbei.
»Gut, dass du kommst. Knut wird auch bald hier sein, er holt nur noch Fergal und Dersthorn.«
Aribald nickte. Die beiden Männer, die Gunar erwähnt hatte, waren Hauptleute wie Uribert und Hubert an den größten Feuern, wo sich hauptsächlich die Krieger aufhielten. Kaum zu glauben, dass alle Männer hier im Heer des Königs als Soldaten eingesetzt gewesen waren, wo doch so viele nur wenig Erfahrung mit Schwert und Bogen hatten.
Kurz darauf erschien Knuts narbiges Gesicht im Feuerkreis. Ihm folgten der Hüne Dersthorn und der drahtige Fergal. Sie musterten Aribald misstrauisch.
»Was tut der da?«, fragte Dersthorn.
»Das erfährst du, wenn es soweit ist«, erwiderte Gunar knapp.