Kitabı oku: «Hinter verborgenen Pfaden», sayfa 6
»Mist! Aber da hätten wir auch gleich darauf kommen müssen, als er davon gesprochen hat, diesen Zauberer vom Berg zu jagen. Ich dachte mir gleich, dass er für einen Boten ziemlich großspurig daherredet. Und warum zieht sich der Kerl nichts Vernünftiges an?« Während Walter laut überlegte, schaute Hartmut immer finsterer.
»Du hast dir’s also gleich gedacht! Ha! Falls du überhaupt weißt, wie das geht: Denken.«
»Immerhin hat er noch sein Pferd bei mir stehen, und wir waren freundlich zu ihm … und …« Walter machte eine kurze Pause. »Wenn es ihm wichtig gewesen wäre, dass man ihn mit seinen Titeln anspricht, dann hätte er dafür gesorgt, dass wir es tun. Beinhart, überleg mal. Eigentlich war er doch fast schon ein Freund. Komm, schau nicht so finster, es wird schon alles gut sein.«
»Gut?! Gut fühlt sich anders an. Aber vielleicht hast du recht …« Hartmut atmete einmal tief durch. Er verzog sein bärtiges Gesicht und verabschiedete sich mit einem kräftigen Schlag auf Walters Schulter, der diesen beinahe zu Fall gebracht hätte.
***
Ein magerer Junge hatte Agnus ein Schreiben überbracht, in dem stand, dass Hilmar ihn vor der abendlichen Veranstaltung in seinen Gemächern sprechen wollte. Agnus blieb genügend Zeit, um noch einmal nach seinem Pferd zu sehen, ehe er sich umziehen musste.
Langsam schlenderte er durch den inneren Bereich der Burg zu dem hinteren Tor und dann den steilen gepflasterten Weg hinunter zum Platz. Eine Weile schaute er sich die Eingänge und Türen der umliegenden Häuser an, bis er den richtigen entdeckte. Als er den Stall betrat, wieherte Lisia zur Begrüßung. Sie war gut versorgt, das Wasser frisch, und auch Heu war genügend vorhanden. Agnus streichelte ihren Kopf, und sie schnupperte mit der Nase an seinem Wams, in der Hoffnung einen Apfel oder eine Möhre in seinen Taschen zu finden. Agnus hatte immer eine Kleinigkeit für sein Pferd dabei. Schließlich waren sie Gefährten, und Agnus war es wichtig, sein Pferd mit Respekt zu behandeln.
»Du bist mein gutes Mädchen«, flüsterte er seiner Stute ins Ohr, klopfte ihren Hals und wandte sich dann dem Ausgang zu.
Zumindest der Gaul hat einen guten Platz zum Schlafen, dachte er zufrieden und schloss die Stalltür.
»Herr Baron«, hörte er da eine Stimme hinter sich und fuhr herum.
»Ach, du bist es, Walter. Ich sehe, du hast mein Pferd schon versorgt, ich danke dir.«
Walter verbeugte sich und sagte: »Stets zu Diensten.«
Agnus runzelte die Stirn und fing dann an zu lachen. Von den umliegenden Mauern schallte sein Lachen zurück.
»Aber ansonsten geht es dir gut?«, fragte er immer noch lachend.
»Danke der Nachfrage«, antwortete Walter förmlich.
»Du kannst mit dem Unsinn wieder aufhören. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass sich ein paar meiner Mängel bis zu dir herumgesprochen haben, aber jetzt ist Schluss damit.«
»Aber …«, sagte Walter, »wenn mich jemand hört. Es geht nicht …«
»Es hat sich nichts verändert seit heute Vormittag. Ich bin immer noch Agnus und du und dein Freund seid bis jetzt immer noch die einzig freundlichen Menschen, die ich auf dieser Burg kennengelernt habe. Dieses Hochwohlgeboren strengt mich gewaltig an, und jetzt soll ich mich auch noch zu diesen Gecken auf dem Fest des Königs gesellen.«
Walter sah Agnus ernst an. »Ich werde auch da sein, und ich werde zu einer angemessenen Anrede verpflichtet sein. Aber ich bin froh, dass ich mich nicht in Euch getäuscht habe, und würde mich noch mehr freuen, Euch an einem anderen Abend wieder beim Mauerwirt zu sehen.«
»Ich werde kommen, aber nur, wenn ich dort nicht Baron sein muss, mein Freund.« Agnus lächelte und legte Walter die Hand auf die Schulter.
»Ich danke dir«, antwortete Walter leise.
In Gedanken versunken lief Agnus zurück in sein Quartier und zog sich um, ehe er sich auf den Weg zu seiner Verabredung mit Hilmar machte.
»Ob du es glaubst oder nicht«, begann Hilmar, »als ich vorhin einen meiner Männer mit einem Brief an meine Frau in die Heimat schicken wollte, habe ich ihm gesagt, dass er sich in den südlichen Provinzen ein wenig umhören soll, weil mir zu Ohren gekommen ist, dass da irgendetwas möglicherweise sein Unwesen treibt. Da fragt er mich tatsächlich, ob ich das Gerücht von den Gnomen gehört hätte, die jetzt überall in den Helmsholmhügeln umherlaufen sollen.« Hilmar presste die Lippen aufeinander.
»Wie ich es dir gesagt habe«, bemerkte Agnus knapp. »Aber wieso wusste er davon?«
»Die Viehzüchter des Königs aus den Helmsholmhügeln haben schon vor Wochen einen Abgesandten ins Schloss geschickt«, fuhr Hilmar fort, »aber der König will ihn nicht anhören. Ich sag dir, Agnus, ich habe meinen Mund fast nicht mehr zubekommen.«
»Wieso hat dir keiner davon berichtet?«, fragte Agnus.
»Sie sagen, sie wären sich nicht sicher gewesen, ob sie selbst sowas glauben wollten, und fürchteten ich würde sie auslachen, wenn sie mir von dem Gerede erzählt hätten.«
»Vielleicht gelingt es uns noch heute Abend, unbefangen mit dem König zu sprechen«, schlug Agnus vor.
»Wir müssen, Agnus! Lieber heute als morgen. Es muss etwas geschehen! Solange es nur die Rinder des Königs betrifft, ist es mir ja noch relativ egal, aber wenn diese Kreaturen jetzt schon im Moor sind, dann treiben sie sich bestimmt auch auf den Wiesen und in den Wäldern entlang des Säbelflusses und vielleicht auch schon in meinem Garten auf der Weideninsel herum.« Aufgeregt lief Hilmar mit großen Schritten im Raum auf und ab.
»Deine Frau ist tüchtig, ich denke, in deinem Garten werden sie noch nicht sein …«
»Du hast recht, Annamarie würde sie, wenn es notwendig ist, mit dem Besen erschlagen oder zumindest mich damit wieder in ihr Schlafgemach scheuchen.« Er grinste beinahe verlegen und fügte hinzu. »Es wäre schon schön, mal wieder zu Hause zu sein.«
Agnus sagte nichts. Für ihn gab es auf der ganzen Welt nur einen Ort, an dem er leben wollte, und es gab auch nur eine Frau, an deren Seite er sein wollte. Amilana. Sie war die Mutter seiner Kinder, und nur mit ihr wollte er alt werden. Aber das Altwerden hatte noch ein paar Jahre Zeit. Sie hatten erst zwei Söhne und eine winzige Tochter, und Agnus konnte sich gut vorstellen, noch ein paar Rabauken mehr in seiner Halle toben zu sehen, und auch noch ein paar Töchter, die so schön werden würden wie ihre Mutter.
Er war noch keine drei Wochen von zu Hause weg, und die Sehnsucht nach seinen Lieben begann bereits, ihn zu quälen.
In der Halle des Königs war einiges los. Die Tische waren eingedeckt, und Agnus und Hilmar begaben sich zu den ihnen zugewiesenen Plätzen, doch während Hilmar ganz selbstverständlich Höflichkeiten oder kleine Scherze mit dem einen oder anderen austauschte, musste sich Agnus beherrschen, um nicht unruhig an den Aufschlägen seines Hemdes zu zupfen. Sein Kragen kratzte, und das Wams war um die Brust herum etwas zu eng, so dass er immer befürchtete, die Nähte könnten bei einer unbedachten Bewegung aufplatzen. Stocksteif setzte er sich auf den Stuhl. Als er sich von da aus umsah, bemerkte er erst, dass die Stimmung im Raum nicht festlich oder erwartungsfroh war, sondern, dass auch einige andere Gäste sehr angespannt wirkten, und viele Gespräche nur im Flüsterton geführt wurden. Er wollte gerade aufstehen, um sich zu Hilmar zu gesellen, als König Levian die Halle betrat. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und sein Blick flog über die Menge. Einen kurzen Moment lang war Agnus dem König zugetan, weil dieser scheinbar auf eine große Ankündigung seines Erscheinens durch Fanfaren oder Ähnliches verzichtet hatte, doch dann traf ihn der eiskalte Blick aus den blassblauen Augen seiner Majestät, und Agnus gefror das Blut in den Adern. Im gleichen Moment ertönte doch noch eine Fanfare. Das Gemurmel verstummte sofort und alle Blicke richteten sich auf den König. Es war plötzlich so still, dass man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können.
»Verehrte Gäste.« Die Stimme des Königs ließ Agnus einen weiteren Kälteschauer über den Rücken rieseln. Levians Ton war so schneidend, als ob er ein Todesurteil verkünden und nicht seine Gäste begrüßen würde. »Wie ich sehe, seid ihr zahlreich erschienen, und das ist gut so. Lasst uns beten.« Er nickte dem Episkopos von Waldoria, einem der bedeutendsten Vertreter der Gläubigen im nördlichen Teil Ardelans, zu. Dieser begann in monotonem Singsang, sein Gebet herunterzuleiern. Während Agnus sich noch fragte, warum jemand, der so wenig Begeisterung für seinen Glauben übrighatte wie dieser Mann, ein so hohes Amt in der Kirche einnahm, unterbrach Levian mit einem knappen »Das genügt« die Litanei. Agnus zog unwillkürlich die Augenbrauen hoch, doch der Episkopos trat nur einen halben Schritt zurück und war sofort still.
»Es sind nur ein paar Worte, die ich euch zu sagen habe«, setzte der König an. »Diejenigen, die heute bei der Jagd dabei waren, wissen es schon, und vielleicht hat auch der eine oder andere bereits davon erfahren.« Er machte eine kurze, bedeutungsvolle Pause. »Wir wurden heute von Geschöpfen angegriffen, deren Anwesenheit in diesem Land, ja auf dieser Welt, widernatürlich ist. Manche nennen sie die Alten, andere sagen, es wären Feen, doch die Gelehrten der frühen Tage nannten sie Elben. Jahrhundertelang galten diese Wesen als ausgestorben, doch aus gut unterrichteten Kreisen weiß ich schon seit geraumer Zeit, dass sie wieder zum Angriff auf die Menschheit rüsten. Dass sie es wagen, eine gut gerüstete Truppe am hellen Tag in unmittelbarer Nähe der Falkenburg zu überfallen zeigt, wie fortgeschritten ihre Rüstungspläne sind und dass wir keine Zeit zu verlieren haben.«
Das Murmeln, das sich im Saal erhob, beendete der König mit einer energischen Handbewegung und einem eisigen Blick.
»Zum Schutz von Ardelan und meinem Volke«, erhob sich seine Stimme, »habe ich zwei Fachkundige aus Mendeor kommen lassen. Die Kirche«, er deutete mit dem Kopf auf den Episkopos »hat ihnen die Absolution erteilt, weil sie unserem Land einen großen Dienst erweisen. Diese Männer werden uns mit ihren besonderen Fähigkeiten bei unserem Krieg gegen die Elben beistehen. Mit ihrer Hilfe wird es uns gelingen, das Feenvolk aus seinen Verstecken zu vertreiben.«
Betretenes Schweigen folgte. Fragende Blicke läuteten das erste leise Gemurmel ein. Was für fachkundige Männer mit besonderen Fähigkeiten gab es in Mendeor, die sich auf einen Krieg mit den Elben verstanden? Eine der anwesenden Damen brach mit einem spitzen Schrei auf ihrem Stuhl zusammen, als das Wort Zauberer immer deutlicher zu vernehmen war. Unsicherheit und Angst wurden spürbar.
»In den nächsten Wochen werde ich ein Heer einberufen«, fuhr der König fort. »Ich vertraue darauf, dass ihr alle mir die Männer hierherschickt, die ihr mir, eurem König, im Kriegsfall schuldig seid. Wenn wir die Feen erst in ihren Nestern gestellt und ausgeräuchert haben, wird es zu einer Schlacht kommen, wie es sie seit tausend Jahren nicht mehr gab. Wir werden die Geschichte neu schreiben und die Schlacht, die unsere Vorväter vor tausend Jahren im Wilmustal schlugen, wiederholen. Aber diesmal wird keines dieser Geschöpfe überleben.«
Die Selbstzufriedenheit, mit der der König seine Gäste verunsicherte, und zum Krieg aufrief, ließ Agnus die Fäuste ballen.
»Und nun esst und trinkt.« Mit diesen Worten trat der König hinter seinen rotsamtenen Stuhl und verließ den Saal durch eine kleine Tür in einer Wandnische. Zeitgleich gingen die Türen auf, und die Pagen brachten die Speisen und Getränke. Heftiges Gemurmel erfüllte den Saal.
Agnus ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken. Er spürte, wie eine Naht im Wams nachgab, und leerte den gerade aufgefüllten Weinkelch in einem Zug. In seinem Kopf summten die Worte des Königs – … zum Schutz von Ardelan und meinem Volke habe ich zwei Fachkundige aus Mendeor kommen lassen.
Er fühlte sich leer, hohl und ausgebrannt. Achtzehn lange Tage war er geritten und hatte weder sich noch sein Pferd geschont, doch jetzt würde er unverrichteter Dinge zu seinen Leuten zurückkehren und ihnen erklären, was unerklärlich war. Den »Fachkundigen« mit seiner Gnomenschar, der auf dem Ebelsberg hauste, würden sie nicht loswerden und im Gegenzug musste Agnus dem König auch noch mehr als hundert waffenfähige Männer schicken.
Ein Page füllte seinen Kelch erneut und Agnus kippte den schweren Wein, ohne abzusetzen, in sich hinein. Erleichterung brachte er jedoch auch nicht.
Als Walter Vogelsang seinen zweiten wichtigen Auftritt in diesem Jahr darbot, lag Agnus bereits im Bett. Er hielt die Fäuste geballt und starrte zur Decke, bis die Erschöpfung und der viel zu viel und viel zu schnell getrunkene Wein wirkten und er in einen gnädigen Schlaf fiel.
6. Flimmernde Luft
Philip war müde und unkonzentriert. Zwei Nächte in Folge war er sehr spät zu Bett gegangen und hatte zudem unruhig geschlafen. Die Anwesenheit der Elbin im Haus - in seinem Bett - beherrschte jeden seiner Gedanken und die Notwendigkeit immer darauf bedacht zu sein, kein falsches Wort zu niemandem zu sagen, tat ihr Übriges. Noch nie hatte er seinen Brüdern in so kurzer Zeit so viele Unwahrheiten aufgetischt, ohne mit einem frechen Grinsen zuzugeben, dass er sie genarrt hatte. Dass es sich bei der angeblichen Base um eine Elbin handelte, durfte keiner wissen.
Seine Mutter hatte beinahe den ganzen Sonntag in Jar’janas Zimmer verbracht, und jedes Mal, wenn sie in die Küche gekommen war, wirkte sie nachdenklich und besorgt. Philip wagte gar nicht nachzufragen, wie es ihr ging, lauschte aber angespannt, auf Mutters leise Zwischentöne.
Auch jetzt im Unterricht dachte er nur an Jar’jana. Er merkte zwar, dass sein Lehrer ihn immer wieder tadelnd ansah, aber er konnte einfach nicht aufhören an sie zu denken und zu gähnen.
Als die Mittagsglocke läutete, entließ Lehrer Theophil seine acht Schüler. Es waren ausnahmslos Buben zwischen zwölf und fünfzehn Jahren. Nur die Hälfte von ihnen kam aus Waldoria. Die anderen waren die Söhne wohlhabender Bürger aus den Städtchen Mendebrun und Markt Krontal, einer von ihnen war der jüngste Sohn Baron Felhorns. Laurenz von Felhorn würde gemeinsam mit Philip in diesem Sommer die Klasse verlassen. Soweit Philip gehört hatte, sollte er danach in der Schreibstube des Königs eine Stellung erhalten, da die Mittel des Barons erschöpft waren. Tjalf, der Sohn eines berühmten Arztes, ließ keine Gelegenheit aus, sich über diesen Umstand lustig zu machen.
»Philip, auf ein Wort«, donnerte Theophil, als Philip sich gerade seine Sachen unter den Arm klemmte. Aus dem Augenwinkel konnte er noch Tjalfs hämisches Grinsen sehen. Er schnitt dem Jüngeren eine Grimasse, legte seine Schreibtafel zurück auf das Pult und wandte sich dem Lehrer zu.
Theophil kramte so lange in seinen Unterlagen, bis der letzte Schüler den Raum verlassen hatte, und brummte dann: »Mach die Tür zu!«
Philip gehorchte.
»Was war heute los mit dir? So habe ich dich noch nie erlebt«, kam Theophil ohne Umschweife zur Sache.
»Entschuldigung … ich … ich habe zu wenig geschlafen«, brummelte Philip.
»Ich erwarte Konzentration, wenn du hier bist«, erklärte Theophil und fügte dann milde lächelnd hinzu. »Ich hoffe, es liegt nicht an dem Buch, das ich dir geliehen habe.«
»Nein, ich hatte auch noch nicht viel Zeit, um darin zu lesen«, gestand Philip.
Theophil nickte, sah ihn aber über sein Augenglas hinweg prüfend an. »Du wirst alles, was du heute verträumt hast, bis morgen nacharbeiten. Die Geschichte unseres Landes ist ein wichtiges Thema. Verstanden?!«
Philip nickte.
»Haben deine Eltern entschieden, wie es hiernach weitergeht?«, fragte der Lehrer mit gesenkter Stimme.
»Mutter erwähnte, dass ich im Monastirium Wilhelmus studieren solle. Aber …«
»Das ist gut. Eine sehr gute Entscheidung«, lobte der Lehrer. »Ich werde dem Abt gleich ein Schreiben zukommen lassen. Du musst noch viel lernen.« Er nickte zufrieden. »Eine sehr gute Entscheidung«, wiederholte er, stand auf und begann, nach etwas zu suchen. Dabei murmelte er unverständliche Worte, huschte von einem Schrank zum anderen und suchte darin wie ein Vogel, der im Gras nach Würmern stochert. Dann drehte er sich zu Philip um. »Jetzt kannst du gehen.«
Philip verneigte sich. »Auf Wiedersehen, Herr Lehrer«, sagte er und verließ den Raum.
Kaum stand er draußen in der Sonne, erwachten auch seine müden Lebensgeister wieder. Beschwingten Schrittes ging er nach Hause. Sein Herz klopfte erwartungsfroh in der Brust. Vielleicht würde er sie heute sehen. Allein der Gedanke an sie ließ ihn seinen Schritt beschleunigen. Vielleicht war sie ja diesmal wach und … Er wagte nicht, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn sie ihn zum ersten Mal ansah. Wenn sie mit ihm sprach. Er war sich ganz sicher, dass ein Wort von ihr sein ganzes Leben verändern konnte.
Obwohl die Sonne warm auf seinen Rücken schien, fröstelte er plötzlich.
»Sag mal, stehst du auf deinen Ohren? Ich brüll mir die Seele aus dem Leib.« Jacob kam keuchend angelaufen.
»Wo kommst du denn jetzt her?«, fragte Philip verwundert.
»Nachsitzen! So wie du.« Er grinste breit.
»Ich bin nicht nachgesessen«, wehrte sich Philip.
»Natürlich nicht, großer Bruder. Aber ich. Und ich sag dir, diesen Zirkus mach ich nicht länger mit. Ich such mir eine Lehrstelle, oder noch besser, ich werde Ritter und ziehe in den Kampf, so wie früher.« Jacob grinste. Die Sommersprossen tanzten frech auf seiner Nase, und er wedelte mit dem Arm, als würde er ein Schwert führen.
»Träum weiter«, lachte Philip. »Als Sohn eines Schmieds wirst du niemals Ritter.«
»Ja, ja. Ich weiß, wir liefern nur das Zubehör«, knurrte Jacob schmollend. »Trotzdem schufte ich lieber in der Schmiede, als mich länger in dieser blöden Schule abzumühen. Wofür gibt es die bloß?«
»Damit Hornochsen wie du Lesen und Rechnen lernen«, gab Philip lachend zurück. »Sei doch froh, früher konnte es sich kaum einer leisten, was zu lernen. Erst König Willibald der II. hat in Waldoria die Schule bauen lassen und so zumindest der Stadtbevölkerung ermöglicht, an ein Mindestmaß an Bildung zu gelangen.«
»Ach, halt die Klappe«, wehrte Jacob ab. »Mir reicht’s für heute mit Vorträgen. Auf jeden Fall werde ich nicht zur Schule gehen, bis ich fünfzehn Jahre alt bin wie du, dazu habe ich wirklich keine Lust. Ein Gelehrter in unserer Familie reicht erstmal.«
Philip versetzte seinem Bruder einen leichten Schlag auf den zerzausten Hinterkopf, und der boxte ihn dafür in die Seite.
»Was hast du angestellt, dass du wieder nachsitzen musstest?«
»Gar nichts. Du weißt doch selbst, was für eine taube Nuss der Lehrer Jodokus ist. Der versteht gar keinen Spaß. Ich musste zwanzigmal schreiben ›Ich darf im Unterricht nicht mit Kreide werfen‹. Zwanzigmal! Aber das mach ich morgen wieder, dann werd ich bloß besser zielen, damit er’s nicht wieder an den Kopf bekommt.«
Philip hatte an diesem Nachmittag genug zum Lernen, und so verschwand er gleich nach dem Essen auf den Dachboden. Aber er fand keine Ruhe. Er hörte, wie seine Mutter in den Garten hinausging, und wusste, dass er für eine Weile alleine im Haus war. Auf leisen Sohlen schlich er die Leiter hinunter und vor der Tür von Jar’jana auf und ab, bis er endlich ein Geräusch hörte, das ein Eintreten rechtfertigte. Im dämmerigen Licht konnte er die blonden langen Haare sehen, die kreuz und quer über dem Kissen lagen. Jar’janas Gesicht konnte er nicht finden.
»Kann ich Euch helfen?«, fragte er vorsichtig.
Die Decke bewegte sich, und jetzt erkannte er, dass sie mit dem Gesicht zur Wand gelegen hatte. Als sie sich zu ihm umdrehte, hörte er sein Herz laut hämmern. Bestimmt hörte sie es auch.
Sie hatte die gleichen veilchenblauen Augen wie Lume’tai, und sie sahen ihn so erschrocken an, dass Philip am liebsten weggelaufen wäre. Aber er blieb.
»Braucht Ihr etwas?«, fragte er tapfer.
»Bist du gekommen, um mich zu holen?«, flüsterte sie. »Hat Varsa´ra dich geschickt?«
Sie redet wirr, dachte Philip enttäuscht. »Niemand hat mich geschickt. Ich dachte nur …«
»Ich spüre die Nähe von As’gard.« Ihre Hand griff nach seiner. »Das Vergessen ist nicht mehr fern.« Sie seufzte. »Fari’jaro ist mir vorausgegangen. Varsa’ra hat seinen Faden abgeschnitten. Aber Lume’tai wird leben. Wie geht es ihr?«
Hilflos sah Philip in die Wiege.
»Sie schläft«, sagte er schlicht. Er spürte seine grobe Hand zwischen ihren zarten feingliedrigen Fingern und trieb losgelöst von der Wirklichkeit, wie in einem Traum, von dem er nicht wusste, was für eine Wendung er nehmen würde.
»Es ist so schön, dich wiederzusehen. Du warst sehr lange fort. Du musst zu Ala’na gehen. Du musst ihr sagen, dass noch nicht alles zu spät ist. Die letzte Prophezeiung ist eingetreten. Nate’re ist hier! Sag Ala’na, Nate’re ist bei meinem Kind. Lume’tai wird leben. Geh für mich nach Pal’dor – sie sollen es alle wissen, ich …« Jar’jana stockte und ließ seine Hand los.
Philip spürte eine Bewegung hinter sich und drehte sich um.
Seine Mutter stand in der Tür. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.
»Was tust du hier drin?«, fragte sie.
»Ich habe etwas gehört und dachte, sie braucht …« Philip stockte, denn der Blick, mit dem ihn seine Mutter musterte, war streng, besorgt und gleichzeitig wild. Hilflos stand er zwischen den beiden Frauen. Stand zwischen zwei Welten und wusste plötzlich nicht mehr, wo er hingehörte. Seine Mutter verkörperte alles, was ihm vertraut und lieb war. Aber Jar’jana hatte soeben eine Tür aufgestoßen. Sie hatte ihm einen neuen Weg gewiesen, zu Orten, von denen er bisher nicht einmal geträumt hatte. Wie ein Reh scheute er vor dem Unbekannten zurück und ging zu seiner Mutter. Fühlte sich wie ein reuiger Sünder, der wieder aufgenommen werden wollte.
Er war nur noch einen halben Schritt von ihr entfernt, als sie ihm auswich und an Jar’janas Bett trat. Verloren stand Philip im Raum.
Etwas war geschehen, aber er konnte es nicht begreifen, er wusste noch nicht einmal, was es war, aber er fühlte sich verraten. Seine Mutter hatte ihn stehenlassen und sich mit der Elbin verbündet.
Gedanken, die er nicht zu Ende dachte und Gefühle, die er nicht beschreiben konnte, brachen über ihn herein. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte aus dem Zimmer. Er lief aus dem Haus und blieb erst stehen, als er am Teich an der großen Weide ankam.
An den Stamm gelehnt, starrte er ins Wasser. Sein Atem ging schnell. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang, zumindest seine Gedanken zu ordnen. Der Gefühle, die so stark in ihm brannten, und die er nicht verstand, konnte er nicht Herr werden.
Jar’jana hatte zu ihm gesprochen, doch den Sinn ihrer Worte hatte er nicht verstanden. Offensichtlich hatte sie ihn mit jemandem verwechselt. Trotzdem war ihr Auftrag klar gewesen: Geh nach Pal’dor! Dass es diese Stadt im Wald wirklich gab, überraschte ihn jetzt kaum noch. Er musste dafür sorgen, dass Jar’jana und Lume’tai wieder zurückkehren konnten. Er musste beide nach Hause bringen. Wahrscheinlich hatte seine Mutter das gehört. Wahrscheinlich war es ihr nicht recht. Mit Sicherheit sogar. Sie war sehr ängstlich, wenn es um den Alten Wald ging.
Aber sie hatte nichts gesagt. Nur ihr Blick war anklagend und enttäuscht gewesen. Oder traurig? Philip konnte es nicht sagen. Seit Jar’jana im Haus war, benahm Mutter sich eigenartig. Sie hütete die Elbin wie eine Glucke ihre Küken. Es war, als hätte Philip eine unsichtbare Grenze überschritten, als er in ihr Zimmer ging. Als hätte er etwas Verbotenes getan.
Wütend warf er einen Stein ins Wasser. Er fühlte sich alleine im Niemandsland, als säße er zwischen zwei Türen, die ihm ein Luftzug beide vor der Nase zugeschlagen hatte.
Trotzig ließ er sich ins Gras sinken, den Kopf an den rauen Stamm gelehnt. Die Sonne schien warm zwischen den Ästen der Weide hindurch, und der Wind spielte leicht mit ihren langen Zweigen, so dass diese leise rauschten. Er schlief ein.
Als er wieder aufwachte, war bereits später Nachmittag. Philip gähnte und das schlechte Gewissen meldete sich. Weder hatte er die Arbeit erledigt, die der Lehrer ihm aufgetragen hatte, noch hatte er in dem Buch auf dem Speicher gelesen, um etwas über diese geheimnisvolle Stadt im Wald zu erfahren. Er hatte noch nicht einmal Holzspäne für das Feuer gehackt, um die ihn seine Mutter beim Mittagessen gebeten hatte.
Als er in die Küche kam, knetete die Mutter gerade einen großen Klumpen Brotteig. Josua saß auf einem Hocker, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und schaute missmutig drein.
Philip warf seiner Mutter einen kurzen Blick zu. Sie machte ihm ein stummes Zeichen, dass er sich um Josua kümmern sollte. Philip unterdrückte ein Seufzen und setzte sich zu seinem Bruder an den Tisch.
»Was ist los?«, fragte er.
»Nichts.«
»Ihr könntet die Wäsche in dem Korb da hinten waschen«, mischte sich Phine ein. Es war ein Angebot an beide, damit sie in Ruhe miteinander sprechen konnten, das verstand Philip, aber zum Wäschewaschen hatte er heute weder Zeit noch Lust. Ein leises Seufzen entfuhr ihm. Er spürte den Blick seiner Mutter. Diesmal bittend.
»Wäsche waschen ist gut, um auf andere Gedanken zu kommen«, behauptete er.
»Frauenarbeit«, brummte Josua abweisend.
»Ja«, knurrte Philip zurück. »Aber wenn du dir dafür zu fein bist, könntest du auch den Sack Mehl da wieder in den Keller tragen oder Holzspäne hacken.«
Bei dem Versuch Holz zu hacken, hatte Josua sich erst im Frühling einen beachtlichen Schnitt im Schienbein eingehandelt, und den schweren Mehlsack würde er wahrscheinlich nicht einmal aufheben können. Josua seufzte resigniert.
»Das Wasser hier«, die Mutter deutete auf einen großen Topf, »ist für die Wäsche.«
»Glaubst du, dass Vaters Base bei uns bleibt?«, fragte Josua, als sie beide, mit den Armen bis zum Ellbogen im Waschtrog, Säuglingswäsche wuschen.
Philip zuckte mit den Schultern.
»Das wäre gut, weil diese Jana dann Mutter bei der Hausarbeit helfen könnte. Wäsche waschen ist blöd.«
»Zumindest werden die Finger davon richtig sauber«, bemerkte Philip und begutachtete seine aufgeweichten Hände.
»Ich will keine sauberen Hände«, protestierte Josua. »Nur reiche Säcke haben saubere Hände.« Er warf das Hemdchen zurück ins Wasser und fing an zu heulen. »Lennart hat das auch gesagt.«
»Was?«, fragte Philip, aber jetzt verstand er, woher Josuas schlechte Laune kam. Lennarts Vater war Ackerbürger. Seine Familie wohnte zwar in der Stadt, doch sie führten ein Bauernleben. Im Sommer, wenn die meiste Arbeit auf den Feldern war, mussten alle mithelfen. Das bedeutete, dass Lennart ab jetzt nicht mehr zur Schule ging, bis die Ernte eingefahren war, und nachmittags auch keine Zeit mehr zum Spielen hatte.
»Lenart hat gesagt, dass wir reiche Säcke sind.«
»Wie kommt er darauf?«
Josua wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah Philip böse an. »Weil alle bei uns zur Schule gehen, weil wir ein Haus und eine Schmiede haben und weil du schon größer bist als sein Vater und immer noch keine Lehrstelle hast«, zählte er zornig auf. »Warum hast du keine Lehrstelle wie alle anderen?«
Mit dieser Frage aber vor allem diesem vorwurfsvollen Ton hatte Philip nicht gerechnet.
»Ich wollte gerne weiter zur Schule gehen«, sagte er. »Mutter und Vater waren damit einverstanden. Aber darum sind wir doch keine reichen Säcke.« Er rubbelte wild an einer Windel und dachte daran, was für ein Gerede es im Ort geben würde, wenn er in diesem Sommer tatsächlich im Monastirium Wilhelmus mit dem Studium begann. Wie seine Eltern das bezahlen wollten, war ihm ohnehin schleierhaft.
Als er aufblickte, sah er Mutter in der Tür stehen. Sie lächelte.
»Ihr macht das wirklich gut.«
Josua murmelte etwas vor sich hin, erfreut klang er nicht.
»Ich hab ein wenig Zeit. Ich könnte euch etwas erzählen.«
»Eine Geschichte«, brummte Josua ohne jede Begeisterung. Wahrscheinlich wäre es ihm, genau wie Philip, lieber gewesen, die Mutter hätte an ihrer Stelle die Wäsche gewaschen.
Josephine aber setzte sich auf die schmale Holzbank neben der Tür und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
»Eine wahre Geschichte«, begann sie. »Damit du verstehst, Josua, dass das, was heute unser Wohlstand ist, durch das Leid vieler anderer zustande kam. Die Schmiede, so wie ihr sie kennt, wurde nach dem letzten Krieg erbaut.«
Philip erinnerte sich, dass Theophil in der Schule über diesen Krieg gesprochen hatte. Es war vor etwa hundertfünfzig Jahren der letzte Krieg zwischen Ardelan und Mendeor gewesen. Ardelan hatte dem übermächtigen Nachbarn getrotzt, aber die Verluste waren gewaltig. Corona, einst die Hauptstadt von Ardelan, war vollständig zerstört worden. Nach dem Krieg hatte König Willibald Corona als Königsitz aufgegeben und die Falkenburg errichten lassen. Dadurch war Waldoria vom kleinen Provinzstädtchen zur Hauptstadt geworden.
»Als Waldoria immer größer wurde, musste die alte Stadtmauer abgerissen und eine neue gebaut werden. Dies war die Gelegenheit für euren Urahnen, die Schmiede zu errichten. Er hat sie sich Stein für Stein vom Mund abgespart, in dem Glauben, jedem seiner beiden Söhne durch dieses Opfer zu einem Erbe verholfen zu haben. Doch einer seiner Söhne starb bei einem Unfall. Der andere bekam sieben Kinder, die ihn beerben konnten. Doch dann wütete eine Seuche in der Stadt, die seine Frau und sechs seiner Kinder dahinraffte. So befand sich der gesamte Familienbesitz selbst nach zwei Generationen immer noch in einer Hand.«
Josua hatte aufgehört, die Wäsche zu rubbeln. Seine Hände hingen ins Wasser.
»Es war wie ein Fluch, der über diesem Haus hing. So wie das Haus und die Schmiede von Generation zu Generation weitervererbt wurden, schien auch der Fluch einer hohen Kindersterblichkeit weitervererbt zu werden. Drei Ehefrauen eures Urgroßvaters starben gemeinsam mit ihren Kindern im Kindbett und erst im hohen Alter gebar ihm seine vierte Frau einen Erben, euren Großvater. Doch auch er hatte wenig Glück. Von den fünf Geschwistern eures Vaters erlebten drei ihren ersten Geburtstag nicht. Einer seiner Brüder starb im Alter von zehn Jahren, als er von einem Baum herunterfiel. Einzig seine Schwester, eure Tante Irmtraut aus Mendebrun, lebt heute noch.« Phine seufzte. »Das, was wir heute als Glück oder Wohlstand bezeichnen können, hat eine lange Tradition von Tränen.«
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