Kitabı oku: «Großer Bruder, kleine Schwester»
Zum Buch
Wohin gehört man, wenn man nicht weiß, woher man kommt? Kim Thúy erzählt so zärtlich wie erschütternd vom Schicksal der Kriegskinder aus Vietnam, die, weil sie einen französischen oder amerikanischen Vater hatten, in für sie fremde Länder gebracht wurden.
Die Liebe zwischen Alexandre und Mai, einem französischen Plantagenbesitzer und einer vietnamesischen Widerstandskämpferin, begann mit Gewalt. Das Glück kam unvorhergesehen und währte kurz, den Angriff auf Alexandres Plantage überlebt nur ihre Tochter Tam.
Auf den Straßen Saigons schlägt sich Louis durch, Sohn einer Vietnamesin und eines schwarzen GIs, der schon mit sechs Jahren die Kunst des Taschendiebstahls beherrscht. Eines Tages findet er ein ausgesetztes Baby mit reisfeldgrünen Augen. Liebevoll kümmert er sich um das Mädchen und nennt es Em Hóng, doch das Kriegsende reißt sie auseinander. Jahrzehnte später begegnet Emma-Jade auf dem Flughafen einem Mann, der ihr zugleich so ähnlich ist und doch so fremd. Woher kennen sie sich?
Inspiriert von der Operation Babylift, bei der 1975 vietnamesische Kinder ohne Eltern ins Ausland geflogen wurden, erzählt Kim Thúys Roman in so knappen wie atmosphärischen Bildern von dem Schicksal dieser Kinder. Sie leben mit den traumatischen Erinnerungen in fremden Ländern, meist in Adoptivfamilien, und müssen eine eigene Identität und Zugehörigkeit finden.
Über die Autorin
Kim Thúy wurde in Saigon geboren und floh als Zehnjährige mit ihrer Familie in den Westen. Sie arbeitete als Dolmetscherin und Rechtsanwältin, als Gastronomin, als Kritikerin und Moderatorin für Radio und Fernsehen. 2010 wurde sie mit ihrem in zahlreiche Sprachen übersetzten Überraschungserfolg Der Klang der Fremde als Autorin bekannt. Es folgten Der Geschmack der Sehnsucht (2014) und Die vielen Namen der Liebe (2017). Kim Thúy lebt in Montreal.
Kim Thúy
GROSSER BRUDER, KLEINE SCHWESTER
Aus dem Französischen von
Brigitte Große
Verlag Antje Kunstmann
AUS EINEM GESPRÄCH MIT DEM MALER LOUIS BOUDREAULT
KIM: All diese Lebensfäden in den Zeitläuften
All diese Fäden ohne Knoten, ohne Halt, Lebenslinien der Verlassenen
All diese geduldig weitergesponnenen Fäden, auf denen die Seiltänzer des Lebens ihr Gleichgewicht halten All deine Fäden
LOUIS BOUDREAULT: Die Schachtel sieht aus, als ob sie sich durch den leisesten Hauch auflösen könnte, doch wenn sie standhält, kann nichts sie zerstören …
Und sie hat standgehalten.
Anfang einer Wahrheit
Immer wieder Krieg. In jeden Konflikt schleicht sich das Gute ein und findet sogar in den Rissen des Bösen Platz. Heldentum vollendet den Verrat, Liebe flirtet mit dem Verlassen. Wenn Feinde aufeinander losgehen, haben alle nur ein einziges Ziel: zu gewinnen. Und in diesem gemeinsamen Tun erweist sich der Mensch als stark, verrückt, feige, loyal, grandios, grobschlächtig, unschuldig, ahnungslos, gläubig, grausam, mutig … Daher Krieg. Immer wieder.
Ich will die Wahrheit erzählen oder zumindest wahre Geschichten, sie werden aber nur teilweise, unvollständig, annähernd wahr sein. Es ist unmöglich, die Nuancen des Himmels in dem Moment, in dem der Marine Rob einen Brief seiner Liebsten liest und der Rebell Vinh in einer Atempause, einem Augenblick trügerischer Ruhe, an seine schreibt, exakt zu benennen. Ist er maya-blau und azurin oder französisch- und coelinblau? Wie viel Kilo Maniokmehl sind in dem Topf, in dem Private John die Liste mit den Aufrührern findet? Ist das Mehl frisch gemahlen? Welche Temperatur hat das Wasser in dem Brunnen, in den Herr Út gestoßen wird, bevor ihn Sergeant Peter mit einem Flammenwerfer bei lebendigem Leib verbrennt? Wiegt Herr Út halb so viel wie Peter oder eher zwei Drittel? Hat Peter sich über juckende Mückenstiche geärgert?
Nächtelang habe ich versucht, mir Travis’ Vorstoß, Hoas Schüchternheit, Nicks Entsetzen und Tuâns Verzweiflung auszumalen, die Schusswunden der einen, die Triumphe der anderen, im Wald, in der Stadt, im Regen, im Dreck … Allnächtlich scheiterten diese Versuche im Takt der Eiswürfel, die in den Behälter an meinem Gefrierschrank klackern, weil meine Fantasie nicht ausreicht, um die ganze Wirklichkeit zu erfassen. So erinnert sich ein Soldat in einer Zeugenbefragung, wie der Feind mit einem 1,30 Meter langen und 17 Kilogramm schweren M67-Gewehr auf der Schulter auf einen Panzer zurennt. Der Mann vor ihm ist bereit zu sterben, um seine Feinde zu töten, bereit, sterbend zu töten, damit am Ende der Tod triumphiert. Wie soll man sich so einen Opferwillen, so ein bedingungsloses Festhalten an einer Sache vorstellen?
Kann man sich ausdenken, wie eine Mutter ihre viel zu kleinen Kinder Hunderte Kilometer durch den Dschungel schleppt, indem sie das eine zum Schutz vor wilden Tieren an einem Ast festbindet, mit dem zweiten weitergeht, dieses dann wieder an einen Baum hängt und zum ersten zurückkehrt, um es zu holen? Von genau so einem Marsch hat mir eine zweiundneunzig Jahre alte Kämpferin erzählt. Doch obwohl unser Gespräch sechs Stunden dauerte, fehlen mir tausend Einzelheiten. Ich habe sie zu fragen vergessen, woher sie die Seile hatte und ob die Körper ihrer Kinder heute noch Spuren dieser Verschnürung tragen. Und wer weiß, ob all diese Erinnerungen nicht hinter einer einzigen verschwunden sind: dem Geschmack wilder Knollen, die sie für ihre Kinder vorgekaut hat? Wer weiß …
Wenn diese Geschichten über vorhersehbaren Wahnsinn, unerwartete Liebe und alltägliches Heldentum Ihnen aufs Herz schlagen, bedenken Sie, dass die ganze Wahrheit wahrscheinlich zu Atemstillstand oder Euphorie geführt hätte. Die Wahrheit in diesem Buch ist zerstückelt, lückenhaft, unvollendet in Raum und Zeit. Ist es denn dann noch die Wahrheit? Die Antwort darauf überlasse ich Ihnen, sie wird Ihre eigene Geschichte, Ihre eigene Wahrheit widerspiegeln. Dafür verspreche ich im Folgenden eine gewisse Ordnung der Empfindungen und das unvermeidliche Chaos der Gefühle.
KAUTSCHUK
Das weiße Gold quillt aus Einschnitten an den Kautschukbäumen. Jahrhundertelang hatten die Maya, die Azteken, die Völker Amazoniens Latex geerntet und daraus Schuhe, wasserfeste Stoffe und Bälle hergestellt. Die Europäer, die auf ihren Forschungsreisen das Material entdeckten, machten zuerst elastische Strumpfbänder daraus. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Auto begann, die Landschaft zu verändern, stieg der Bedarf an Gummi rasant. Um die dringend nötigen riesigen Mengen herzustellen, wurde er fortan auch synthetisch erzeugt, was heute etwa 70 Prozent des Bedarfs deckt. Doch trotz aller Forschung in den Laboren kann nur natürlich gewonnener Kautschuk, dessen Name »Tränen (caa) des Baumes (ochu)« bedeutet, der Beschleunigung, dem Druck und den Temperaturschwankungen standhalten, denen etwa Flugzeugreifen oder Raumschiffdichtungen ausgesetzt sind. Und je höher das Arbeitstempo, das der Mensch sich auferlegt, desto mehr verlangt er nach natürlichem Latex aus immer größerer, immer schnellerer Produktion, die im Takt der Mondfinsternisse mit der Erdrotation mithält.
Dank seiner Elastizität, Strapazierfähigkeit und Undurchlässigkeit umhüllt Naturlatex unsere Glieder wie eine zweite Haut und schützt uns vor den Folgen des Begehrens. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 stiegen die Infektionen durch sexuell übertragbare Krankheiten in der Truppe von knapp vier auf über 75 Prozent, was dazu führte, dass die deutsche Regierung im Ersten Weltkrieg der Kondomproduktion höchste Priorität einräumte, um ihre Soldaten zu schützen, obwohl Kautschuk äußerst knapp war.
Ja, Kugeln töten, aber Lust vielleicht auch.
ALEXANDRE
Alexandre war gut in der Disziplin, diese seinen sechstausend zerlumpten vietnamesischen Kulis aufzuerlegen. Die Arbeiter aber wussten besser als er, wie man die Hacke in einem 45-Grad-Winkel zur Senkrechten in den Stamm des Kautschukbaums schlägt, bis die ersten Latextropfen fließen, und in Windeseile am unteren Ende der Wunde, wo sich der Milchsaft sammelt, Gefäße aus Kokosnussschalen anbringt. Alexandre war davon abhängig, dass sie weitermachten, auch wenn er ganz genau wusste, dass sie im Schutz der Nacht flüsternd die Möglichkeiten eines Aufstands erwogen, erst gegen ihn und Frankreich, dann durch ihn gegen die USA. Tagsüber verhandelte er mit der amerikanischen Armee, wie viele Bäume er fällen müsste, damit Lastwagen, Jeeps und Panzer passieren könnten, wofür im Gegenzug die Plantage von Bomben und Entlaubungsmitteln verschont bleiben würde.
Die Kulis wussten, dass die Kautschukbäume mehr wert waren als ihr Leben. Deshalb versteckten sich alle, ob Tagelöhner, Rebell oder beides, unter deren noch unversehrtem, üppigem Kronendach. Alexandre überspielte seine Angst, eines Nachts aufzuwachen und die Plantage brennen zu sehen, mit einem naturfarbenen Leinenanzug. Und die Furcht, im Schlaf ermordet zu werden, bannte er, indem er sich mit Dienern und jungen Frauen umgab, seinen con gái.
Wenn wieder einmal der Gummikurs fiel oder die Lastwagen mit den Kautschukballen auf der Straße zum Hafen in einen Hinterhalt gerieten, streifte Alexandre durch die Baumreihen auf der Suche nach einer zartfingrigen Hand, die seine geballte Faust lockern könnte, einer gelehrigen Zunge, die seine zusammengebissenen Zähne voneinander lösen könnte, einem engen Schritt, der ihn um seine Wut erleichtern könnte.
Obwohl sie Analphabeten waren und von Reisen über die Grenzen Vietnams hinaus nicht einmal zu träumen wagten, war den meisten Kulis klar, dass sich synthetischer Kautschuk auf dem Vormarsch befand. Sie hatten die gleichen Sorgen wie Alexandre, was viele dazu brachte, die Plantage zu verlassen und in die Stadt zu gehen, um dort ihren Weg zu finden, in die großen Zentren, wo die Anwesenheit von bald Zehntausenden Amerikanern neue Möglichkeiten eröffnete, neue Arten des Lebens und Sterbens. Manche versuchten sich als Verkäufer und handelten mit SPAM-Frühstücksfleisch, Sonnenbrillen oder Granatäpfeln. Wer sich gut in die Musikalität der englischen Sprache einfühlen konnte, wurde Dolmetscher. Die Mutigsten verschwanden in den Tunneln, die unter den Füßen der Amerikaner gegraben wurden. Sie starben als Doppelagenten, zwischen den Fronten oder vier Meter unter der Erde, von Bomben zerfetzt oder von Larven, die sich unter ihrer Haut eingenistet hatten, zerfressen.
Als Alexandre entdeckte, dass das in den Wäldern versprühte Agent Orange ein Viertel seiner Bäume vergiftet hatte und dass sein Vorarbeiter von einem kommunistischen Widerstandskommando im Schlaf erwürgt worden war, begann er zu schreien.
Zwischen Wut und Entmutigung schwankend, stolperte er über Mai, an der er sich abreagierte.
MAI
Zur Zeit der Kolonisierung sah Frankreich Indochina und damit auch Vietnam weniger als Siedlungsgebiet denn als Zone wirtschaftlicher Ausbeutung. Die neu angelegten Plantagen ermöglichten die Teilnahme am Wettrennen um den Gummi. Doch mitten im Busch Tagelöhner dazu anzuhalten, dass sie ganze Bambuswälder mit tief eingewurzelten Rhizomen aus dem Boden rissen und an ihrer Stelle Kautschukbäume pflanzten, um tagaus, tagein im Morgengrauen Latex zu zapfen, erforderte einen eisernen Willen. Für jeden gewonnenen Tropfen wurde ein Tropfen Blut oder Schweiß vergossen. Die Kautschukbäume konnten fünfundzwanzig oder dreißig Jahre lang genutzt werden, während von den 80.000 auf den Plantagen eingesetzten Kulis einer von vieren lange davor einging. Tausende Tote suchen noch immer im Blätterrauschen, im Rascheln der Zweige und im Sausen des Windes Antworten darauf, warum sie zu ihren Lebzeiten den heimischen Tropenwald durch Bäume aus Amazonien ersetzten, warum sie auch diese verstümmelten und warum sie schließlich die großen Fremden, deren bleiche Wangen und behaarte Haut in nichts an ihre hageren Ahnen mit dem ebenholzschwarzen Haar erinnerten, auf ihren Köpfen trugen.
Mai hatte die kupferfarbene Haut der Kulis und Alexandre die Haltung des Besitzenden, der wie ein König über sein Reich herrscht. Alexandre traf Mai in seiner Wut. Mai begegnete Alexandre mit Hass.
KULIS
Das Wort wurde seit dem vorigen Jahrhundert in zahlreichen Ländern auf allen fünf Kontinenten gebraucht, zuerst und vor allem für Arbeiter aus China und Indien, die von den gleichen Kapitänen auf den gleichen Schiffen transportiert wurden wie die Sklaven früherer Zeiten.
Einmal an ihrem Bestimmungsort angelangt, schufteten die Kulis wie die Tiere auf Zuckerrohrplantagen, in Minen oder im Eisenbahnbau und starben oft noch vor dem Ende ihres Fünfjahresvertrags, ohne etwas von dem versprochenen und erhofften Lohn gesehen zu haben. Die Firmen, die mit ihnen Handel trieben, nahmen von vornherein in Kauf, dass dreißig bis vierzig Prozent der »Ware« während der Überfahrt verloren gingen. Die Inder und Chinesen, die ihre Vertragszeit in den britischen, französischen oder niederländischen Kolonien überlebten, ließen sich auf den Seychellen, Trinidad und Tobago, den Fidschi-Inseln, Barbados, Guadeloupe, Martinique, in Kanada, Australien oder den Vereinigten Staaten nieder. Vor der kubanischen Revolution befand sich das größte chinesische Viertel Lateinamerikas in Havanna.
Unter den indischen Kulis waren auch Frauen, meist vor einem gewalttätigen Ehemann oder aus extremen Verhältnissen geflohen, unter den chinesischen nicht – Chinesinnen ließen sich dazu nicht verführen. Deshalb trösteten sich die Exilchinesen in den fernen Kolonien, wenn sie keine Möglichkeit hatten, in den Schoß der Familie zurückzukehren, in den Armen einheimischer Frauen. Diejenigen, die nicht durch Selbstmord, Mangelernährung oder Gewalt ums Leben kamen, taten sich zusammen, um Zeitungen herauszugeben, Clubs zu gründen und Restaurants zu eröffnen. Durch die Verschleppung dieser Männer wurden Bratreis, Sojasauce und Wantan-Suppe international bekannt.
Für indische Kulis stand die Chance, eine Inderin zu umwerben, die auch auf Abenteuer aus war, eins zu drei, was den Status der Frauen ebenso radikal veränderte wie die Unterschiede zwischen den Kasten. Frauen waren auf einmal in der Lage, selbst zu wählen und eine Mitgift zu verlangen, statt zu bezahlen. Das ließ die Männer befürchten, keine Frau zu bekommen oder ihre zu verlieren. Nachbarn, Passanten und die Frauen selbst wurden zur Bedrohung. Manche schlossen ihre Frau im Haus ein wie in einem Tresor, andere verschnürten sie mit Seilen wie ein Paket. Wenn die Macht der Frauen auf die Angst der Männer trifft, erwachsen daraus Tod und Verderben.
Während chinesische und indische Sklaven oder Kulis aus ihrer natürlichen Umgebung gerissen wurden, mussten sich vietnamesische Kulis im eigenen Land unter vergleichbaren Bedingungen den Befehlen eingewanderter Kolonisten beugen.
ALEXANDRE UND MAI
Mai hatte den Auftrag, sich in Alexandres Plantage einzuschleichen. Es machte sie glücklich, jeden Tag einen Baum zu retten: Ein zu tiefer Zapfschnitt brachte den Milchsaft zum Versiegen, und der Baum musste nicht weiter für den Profit des Plantagenbesitzers bluten. Sie stand jeden Morgen um vier Uhr auf und bewies ihre Vaterlandsliebe, indem sie Alexandres Besitz allmählich zerstörte, um ihn zu ruinieren. Dabei setzte sie immer nur einen Schnitt an einem Baum, um nach dem Vorbild der chinesischen Kaiser einen schleichenden Tod herbeizuführen: death by a thousand cuts.
Ihre Liebe zu Alexandre war das Ende ihrer Mission.
Alexandre zerrte Mai an den Haaren in sein Schlafzimmer und befahl ihr, dasselbe zu machen wie sonst seine con gái. Mai weigerte sich nicht nur, ihm zu gehorchen, sondern sprang ihn mit der Hacke in der Hand an, bereit, ihm in einem 45-Grad-Winkel zur Senkrechten die Kehle durchzuschneiden.
Mai hatte vorgehabt, ihn zu töten oder wenigstens von seinem Besitz und dann aus dem Land zu vertreiben. Alexandre war ein alter Fuchs, verhärtet durch das weiße Gold, die Bisse der roten Ameisen und die heißen Winde, die seine Gallierhaut versengt hatten.
Seit sie auf der Plantage war, hatte Mai auf diesen Moment gewartet. Beseelt von dem Wunsch, zu töten und ihr Volk zu rächen, versank sie auf einmal in Alexandres Augen. Die beiden Jadekugeln verwirrten sie, ihr revolutionärer Elan brach sich in seinem ruhigen Blick, der ihr das Gefühl gab, heimzukehren in die Stadt ihrer Geburt, ins stille, dichte Grün der Halong-Bucht. Alexandre dagegen hatte sich schon aufgegeben, war des Ungeliebtseins müde und hoffte auf eine lang andauernde Ruhe, auf ein Ende des nicht enden wollenden hundertjährigen Kampfes in diesem fremden Land, das durch die Macht der Umstände zu seinem geworden war.
Hätten Wissenschaftler von der Liebe zwischen Mai und Alexandre Wind bekommen, hieße das Stockholm-Syndrom heute womöglich Tây-Ninh-, Bên-Cui- oder Xa-Cam-Syndrom. Die von ihrer Mission erfüllte, zu allem entschlossene Jugendliche hatte nie gelernt, sich vor der Liebe und ihren Absurditäten in Acht zu nehmen. Sie wusste nicht, dass die Aufwallungen des Herzens, die einen ohne Vorwarnung und bar jeder Logik überfallen, blendender sind als die Mittagssonne. Wie der Tod muss auch die Liebe nicht zweimal anklopfen, um sich bemerkbar zu machen.
Diese Liebe, die Mai und Alexandre wie ein Blitz traf, spaltete mit der Zeit ihre Umgebung. Für idealistische, romantische Träumer war sie die Verheißung einer besseren, symbiotischen, verschwisterten Welt. Realisten und Aktivisten kritisierten die leichtsinnige, ja fahrlässige Verwischung der Grenzen durch diese Rollenumkehr.
Die Geburt von Tâm, dem Kind des Chefs und seiner Arbeiterin, zweier Feinde, an diesem Ort der Nähe und Rivalität, hatte jedoch etwas Banal-Alltägliches.