Kitabı oku: «Mein Sprung in ein neues Leben», sayfa 2

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Für die sieben Sanitäter entpuppte sich die Bergung als ganz schön schwierige Übung. Die für derartige Fälle vorgesehene ausklappbare Liege erwies sich im Einstichkasten als unbrauchbar, die Matten links und rechts verhinderten, dass sie zur Entfaltung kam. Rund 15 Minuten dauerten die Versuche, mich aus meiner Notlage zu befreien und in den Krankenwagen zu hieven. Am Ende trugen mich die Rettungskräfte buchstäblich auf Händen. Als alles verstaut war und dem Abtransport nichts mehr im Wege stand, bemerkte ich, dass Clemens von meiner Seite gewichen war. So hieß jener Sanitäter, der Papa als meine „Kopfstütze“ abgelöst hatte. Zu ihm hatte ich in den vergangenen Minuten scheinbar eine Art Vertrauensverhältnis aufgebaut. Mein Wunsch, dass er mich, zusätzlich zu meiner Mutter und anstelle eines Sanitäters, den ich bisher nur aus der Ferne wahrgenommen hatte, im Rettungsauto begleiten möge, stellte die Einsatzleitung vor gewisse organisatorische Probleme, zumal Clemens einer anderen Rettungsorganisation zugehörig gewesen sein dürfte als der Krankenwagen, in dem ich mich befand. Am Ende wurde meiner Bitte doch entsprochen, und der Tross setzte sich Richtung Landeskrankenhaus in Bewegung.

Unterdessen hatte Mama bereits unser nächstes Umfeld über die unerfreulichen Entwicklungen informiert – und auch niemanden im Unklaren gelassen, mit welcher Diagnose zu rechnen sei. Zuerst alarmierte sie Angie, die Mutter eines meiner Trainingskollegen, die als Sprechstundenhilfe für unseren Vertrauensarzt Christian Hoser arbeitet. Sie muss ihn umgehend erreicht und er alles stehen und liegen gelassen haben, traf er doch ziemlich gleichzeitig mit uns im Uniklinikum, seiner ehemaligen Arbeitsstätte, ein. Der zweite Anruf galt meinem Freund Christoph, der in seiner Wohnung in Graz saß und an der Bachelorarbeit feilte. Der dritte meinem Manager Tom Herzog, der vierte meiner Schwester Brit. „Brauchst aber nicht zu kommen“, legte Mama ihr nahe, weil sie offenbar fand, dass man das Leid nicht auf noch mehr Personen verteilen müsse. Brit dachte nicht daran, untätig zu Hause auf Nachrichten zu warten, und brach auf, wurde unterwegs aber von Mama zur WUB-Halle umdirigiert. Dort hatte Papa, der per Pkw ins Krankenhaus hätte nachkommen sollen, ebenso fieberhaft wie vergeblich nach dem Autoschlüssel gesucht. Als Brit mein Trainingsdomizil betrat, sah sie die Schlüssel auf dem Stabhochsprungkissen liegen und Papa ein wenig konfus umherirren. Womit ihr augenblicklich klar wurde, dass es ohnedies besser sei, ihn in diesem Zustand nicht ans Steuer zu lassen.

Es waren 43 Minuten seit meiner Bruchlandung vergangen, als wir in der Notaufnahme eintrafen. Auf die holprige Fahrt mit Blaulicht und Sirene hätte ich durchaus verzichten können. Die Federung des Rettungsautos übertrug jede Bodenwelle, jedes auf den ungeteerten Wegen des WUB-Areals befindliche Schlagloch auf mich, und ich machte mir zunehmend Sorgen, dass sich meine Verletzung durch das permanente Durchgerütteltwerden weiter verschlimmern könnte. Wenigstens war ich durch Mamas Telefongespräche abgelenkt, ich hatte ihr noch aufgetragen, meinen Vorgesetzten beim Bundesheer, Vizeleutnant Hechenberger, über den Stand der Dinge zu informieren. Im Krankenhaus schob man mich sogleich in den Schockraum und bettete mich auf eine Krankenhausliege um. Mama musste draußen warten, und ich freute mich über das vertraute Gesicht von Christian Hoser, der kurz mit mir sprach, sich nach meinem Befinden erkundigte.

Unverzüglich wurde ein CT von Kopf und Halswirbelsäule angefertigt, das Aufschluss darüber geben sollte, wie es tatsächlich um mich stand. Alsbald begannen die Vorbereitungen für eine Operation, eine Notoperation, eine Operation als lebenserhaltende Maßnahme, wie meinem Manager später als Input für seine erste offizielle Aussendung mitgeteilt wurde. Bei mir verfehlten die diversen Medikamente und Mittelchen indessen ihre Wirkung nicht. Vieles von dem, was mir seit Jahren aufgrund der Anti-Doping-Bestimmungen bei Strafe verboten war, wurde nun in rauen Mengen in mich hineingepumpt. Und obwohl ich nicht auf die Idee kam, Einspruch zu erheben, so schoss mir doch zwischenzeitlich der Gedanke ein: „Wenn jetzt die Dopingkontrolleure kämen, hätten sie’s lustig mit mir.“

Nicht minder skurril gestaltete sich die Konversation mit dem medizinischen Personal. Eine Assistentin eröffnete mir, dass mein T-Shirt für die Operation aufgeschnitten werden müsse. Ich führe es auf mein wegen der Halskrause sehr eingeschränktes Blickfeld und auf meine Sedierung zurück, dass ich heftig protestierte, weil ich der irrigen Auffassung war, dasselbe coole, weiße Michael-Kors-Leibchen mit aufgedruckter rosa Brille zu tragen, das ich frühmorgens vor dem Weg zur Physiotherapie übergestreift hatte. Die Krankenhaus-Bedienstete versicherte mir, mein Lieblings-T-Shirt vorsichtig an der Seitennaht aufzutrennen, damit es später problemlos zusammengenäht werden könne. Zurück bekam ich es trotzdem nicht mehr. Bloß gut, dass es sich letztlich nur um ein schmuckloses Textil fürs Training gehandelt hatte.

Rund um mich wurde eifrig gewerkt, aber ich hatte zahlreiche Fragen: „He, bin ich eigentlich schon nackig?“, wollte ich mehrfach wissen, denn die Halskrause verunmöglichte mir auch diesen Blickwinkel. Einen jungen, südländisch aussehenden Mitarbeiter fragte ich schließlich mit ehrlichem Interesse: „Schlägt mein Herz eigentlich noch?“ Die Antwort des Angesprochenen entbehrte nicht einer gewissen Logik. „Sonst könntest du wohl kaum mit mir reden.“ Ich aber ließ nicht locker. „Könnte ja sein, dass ihr mich an eine Maschine angeschlossen habt.“ Das war ihm dann offensichtlich doch zu blöd. Weniger wissbegierig war ich, als mich die operierenden Ärzte aufsuchten und mir begreiflich machen wollten, was passiert war und was sie während der Operation zu tun gedachten. Mich schreckte die Vorstellung, dass mir die Chirurgen womöglich eine günstige Prognose stellten, mir in Aussicht stellten, gehen zu können, und dann beim Eingriff irgendetwas misslang. Also wehrte ich die Aufklärungsversuche mit den Worten ab: „Operiert doch mal, dann sehen wir ja, was rauskommt.“ Kurz darauf kam meine Familie, die sich sehr wohl über den Stand der Dinge hatte informieren lassen, um sich von mir zu verabschieden und mir Glück zu wünschen. Dann war ich wieder mit dem Ärzteteam allein, das darüber diskutierte, ob es mich bereits im Schockraum oder erst im Operationssaal narkotisieren sollte. Es dürfte sich für Variante eins entschieden haben. Denn ich war dann mal weg.

Quantensprünge

Als mir meine Trainingsgruppe im Spital einen Besuch abstattete, fiel ich aus allen Wolken. Die Burschen eröffneten mir doch tatsächlich und allen Ernstes, sich vom Stabhochsprung zurückziehen zu wollen. „Warum wollt ihr nicht mehr springen?“, fragte ich entgeistert. „Das ist doch das Schönste, das war immer unser Traum, dafür haben wir gelebt. Ich würde doch auch sofort wieder beginnen, wenn ich könnte.“ Ein Jahr später ist aus dem verbliebenen Trio tatsächlich nur mehr einer übrig. Was zu einem Gutteil daran liegt, dass mein Vater, der die Truppe betreut hatte, gezwungen war, andere Prioritäten zu setzen. Lukas Wirth, der als 18-Jähriger starke 5,15 Meter überqueren konnte, hat aufgehört, Emanuel Hübner auf Sprint umgesattelt, einzig Riccardo Klotz hält unsere Fahnen noch hoch. Dem damals 16-Jährigen war am Tag nach meinem Unfall ein mentaler Kraftakt geglückt, als er beim European Youth Olympic Festival in Tiflis mit übersprungenen 4,60 Metern die Bronzemedaille einheimste. Nachdem er auf der Hinreise infolge eines Kreislaufkollaps zwei Schneidezähne eingebüßt hatte. Ricci wird nun von seinem Vater gecoacht und nähert sich unaufhaltsam der Fünfmeter-Schallmauer.

Dass die Burschen ins Grübeln kamen, kann ihnen niemand verübeln. In den Tagen nach meinem Unfall wurde Stabhochspringen zur gefährlichsten Freizeitbeschäftigung, der man überhaupt nachgehen kann, hochstilisiert. Zitiert wurden die Erkenntnisse des National Centre for Catastrophic Sport Injury Research, das zwischen 1983 bis 2004 nicht weniger als 18 Todesfälle im amerikanischen High-School- und Collegesport ermittelt hatte. Einige der Fälle lassen sich im Internet gut nachrecherchieren. Man stößt auf die Namen von Samoa Fili (17), Leon Roach (19), Kevin Dare (19), Ryan Moberg (18) und Robert Zhongjie Yin (20). Hinzu kamen sieben Querschnittslähmungen, unter anderem von James Vollmer (zum Zeitpunkt des Unfalls 21), Jared Lutz (18) und Brandon White (18). Vor allem 2002 rissen die Schreckensmeldungen mit drei tödlichen Stürzen innerhalb von sieben Wochen nicht ab, worauf die Behörden einzelner US-Bundesstaaten mit einer Helmpflicht für Stabhochspringer reagierten. Das Beispiel machte mangels bewiesener Sinnhaftigkeit keine Schule. Zum Vergleich: American Football verzeichnete im gleichen Beobachtungszeitraum 94 Tote und 553 Schwerverletzte. Allerdings bei einer 50 Mal höheren Zahl an Ausübenden. Der wenig schmeichelhafte Status von Football als „gefährlichste High-School- und Collegesportart“ dürfte in den USA demgemäß zu Recht bestehen. Was mich erstaunt, ist, dass aus keinem anderen Land tödliche oder schwere Stabhochsprungverletzungen überliefert sind. Entweder wird anderswo weniger akribisch, vielleicht auch gar nicht dokumentiert, oder man lässt die jungen Athleten in den USA zu früh und/oder ohne ausreichende Vorbildung an die Stäbe und die großen Höhen. Die einzige mir bekannte Athletin, die einen folgenschweren Sturz zu verzeichnen hatte, war Annika Becker. Der DLV-Athletin brach bei einem Meeting 2004 nach dem Absprung der Stab, beim Aufprall vor der Matte zog sie sich Halswirbelverletzungen zu. Physisch erholte sich Becker rasch, doch die psychischen Nachwirkungen machten eine Rückkehr unmöglich. Sie versuchte sich in der Folge noch einige Jahre mit begrenztem Erfolg als Weitspringerin. Im Erwachsenensport jedenfalls rangiert Stabhochsprung in dieser traurigen Statistik nicht im Spitzenfeld, wird von Motorsport, Boxen, aber auch Pferdesport um Längen abgehängt. Was auch kein Trost ist. Jeder Tote, jeder Schwerverletzte, egal, in welcher Sportart, ist einer zu viel.

Worum es mir geht: Das Letzte, das ich mit der Beschreibung meines Unfalls vermitteln und bewirken will, ist, dass Eltern ihre Kinder künftig nicht mehr zum Stabhochsprung schicken. Dazu ist die Sportart einfach zu faszinierend, zu beglückend, zu herausfordernd. In meiner subjektiven Wahrnehmung habe ich meinen Sport nie als gefährlich empfunden, wiewohl jeder Springer nach der ein oder anderen brenzligen Situation einmal kräftig durchatmet. Aber trifft das auf Skisportler, Radfahrer, Turner und viele andere nicht genauso zu? Mein Unfall war Pech, eine Verkettung unglücklicher Umstände, Schicksal, Vorbestimmung – was auch immer. Und führt vielleicht, soweit nötig, zu einer Verbesserung der Sicherheitsstandards.

Als mich der Traum vom Fliegen erstmals packte, lag mein siebter Geburtstag erst wenige Tage zurück. Ganz nebenbei verfolgte ich eine Übertragung der Olympischen Spiele 2000 in Sydney – bis mich ein Finale in der Leichtathletik ganz in seinen Bann zog. Aufgeregt zerrte ich meine Eltern aus dem Nebenzimmer vor den Röhrenfernseher. „DAS will ich auch machen!“, tat ich kund und zeigte auf Menschen, die sich mithilfe von biegsamen Stecken elegant über eine Latte in luftiger Höhe wuchteten. Papa dürfte die Kinnlade ein wenig nach unten geklappt sein. Es handelte sich um eine Sportart, die er selbst hobbymäßig betrieben hatte: Stabhochsprung. Aber das erzählte er mir erst viel später.

Wir, die Grünbergs, waren zwei Jahre davor aus dem schwäbischen Reutlingen bei Stuttgart, der Heimat meines Vaters, nach Kematen, ein paar Kilometer westlich von Innsbruck, gezogen. Dort hatten meine Großeltern mütterlicherseits einen alten Bauernhof erstanden, in dem meine Eltern, die sich übrigens beim Skifahren im Stubaital kennengelernt hatten, die obere Etage für uns einrichteten. Ausschlaggebend für den Wohnsitzwechsel waren die Einschulung meiner um zwei Jahre älteren Schwester Brit und Mamas auslaufende Karenzierung. Sie war vor der Geburt ihrer beiden Töchter an der Volksschule Axams als Religionslehrerin tätig gewesen und hätte bei einer weiteren Karenzverlängerung das Recht verwirkt, an dieser Schule wiedereinzusteigen.

Im Gegensatz zu meiner Schwester bin ich nicht in der Lage, Schwäbisch zu schwätzen. Sie fühlt sich generell Deutschland mehr verbunden als Österreich, bei mir ist es umgekehrt. Vielleicht liegt’s an den zwei Jahren, die sie länger in Reutlingen, vielleicht an den drei Jahren, die sie studienbedingt in München verbracht hat. Leicht ist uns beiden die Umsiedlung nicht gefallen, auch ich hatte in der alten Heimat einen Kindheitsfreund, von dem ich mich nur schwer trennen konnte. Ich war überhaupt ein schüchternes, ängstliches Mädchen – aber nur gegenüber Menschen, nicht gegenüber Fahrzeugen oder Geschwindigkeit. Man könnte mich in diesem Bereich durchaus als draufgängerisch bezeichnen. Eine Charaktereigenschaft, die ich wohl mehrheitlich Papa zu verdanken habe. Dessen Herz schlägt nämlich automatisch ein paar Schläge schneller, wenn irgendwo um ihn herum ein Motor knattert. Wovon auch ein Blick in das Nebengebäude hinter unserem Haus zeugt. Dort hortet er einen ganzen Fuhrpark von Fahrzeugen, der sich auf Asphalt- und Wasserstraßen, Feld- und Seewegen bewegen ließe. Schade nur, dass ihm ein männlicher Nachkomme verwehrt blieb. Hat er halt Brit und mich ein bisschen wie Buben erzogen. Monster Trucks gab’s eine ganze Menge im Haus, Puppen eher weniger, und wenn, hat niemand damit gespielt. Auch den Puppenwagen nutzten wir nur, um unsere Katze herumzukutschieren.


Die Sommer unserer Kindheit haben wir so gut wie alle auf einem Campingplatz am Lago Maggiore verbracht. Der Spaß durfte nicht zu kurz kommen, also war stets für ausreichend Pferdestärken gesorgt. Wir schipperten mit dem familieneigenen Motorboot über den See, fetzten mit dem Jetski über die Wellen. Besonders angetan hatte es mir ein Motorino, das ich mit sechs Jahren im Alleingang pilotierte. Das Gefährt ging an die 80 Sachen und, glauben Sie mir, für mich hat’s damals nur Vollgas gegeben. Mit diesem Spielzeug in Griffweite wurde auch jeder 13. August zum Selbstläufer – mein Geburtstag.


An Bewegung hat es uns Mädels trotzdem nie gefehlt. Dafür sorgten unsere Eltern mit Nachdruck. Und gingen mit gutem Beispiel voran, was sie zunächst aber vor uns geheim hielten. Mama war 1982 im Alter von 17 Jahren Vize-Europameisterin im Taekwondo gewesen, Papa spielte viele Jahre in der ersten Unterwasser-Rugby-Bundesliga und fallweise auch im deutschen Nationalteam. Brit und ich konnten uns auf vielfältige Weise austoben. Winters kurvten wir durch die Skigebiete vor der Haustür – Kühtai, Axamer Lizum, Seefeld –, sommers sattelten wir die Pferde, dazwischen turnten wir durch diverse Säle. Dann entdeckte Brit Eiskunstlauf für sich, während mir der Sinn so gar nicht nach Leistungssport und zielgerichtetem Training stand. Bis zu den Olympischen Spielen in Sydney. Logisch, dass Papa keine Einwände gegen meine Entdeckung hatte, aber er führte mir vor Augen, wie viele Jahre es dauern werde, bis ich Sprünge beherrsche, die zumindest so aussähen, als wäre es die gleiche Sportart wie die der Olympia-Finalistinnen. Hat mich offenbar nicht abgeschreckt. Vier Jahre später wurde mir der Abstand zur Elite jedoch schmerzlich bewusst. Als ich beim Stabhochsprung-Finale der Olympischen Spiele 2004 als Elfjährige wieder einmal gebannt vor dem Fernseher saß und Jelena Isinbajewas dritten Weltrekord innerhalb eines Monats (4,91 m), den siebenten insgesamt, bestaunte, wurden meine Eltern durch lautes Wehklagen ins Wohnzimmer gelockt. „So ein Mist – jetzt muss ich ja noch höher springen, um Weltmeisterin zu werden.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits die ersten Wettkämpfe in den Beinen, ich wusste also schemenhaft, was mich erwartete. Papa hatte sich nach meinem „Erweckungslerlebnis“ von 2000 umgehend auf die Suche nach einem Stabhochsprungtrainer gemacht, gelangte aber bald zu der Erkenntnis, dass sich in Innsbruck keiner auftreiben ließ. Zumindest keiner, der bereit war, seine Aufmerksamkeit Kindern zu widmen. Woraufhin in ihm der Plan reifte, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Vorerst nur zu einem kleinen Teil, denn die ersten Trainingsjahre standen im Zeichen einer gediegenen athletischen Grundausbildung. Dafür hatte er meinen ersten Verein, den LAC Innsbruck, und die dortige Trainerriege auserkoren. Im Jahr darauf wechselten wir zur Turnerschaft Innsbruck. Drei, vier Jahre lang probierten meine Schwester, die mit fliegenden Fahnen von der Eishalle auf die Tartanbahn gewechselt war, und ich alle kindgerechten Disziplinen durch: 60 und 100 Meter, Weit- und Hochsprung, Schlagball, später Kugelstoßen. Papa selbst griff nur ein, wenn vorbereitende Grundübungen für Stabhochsprung auf dem Programm standen. Die Trainingsgeräte muten aus heutiger Sicht ein wenig archaisch an, wir hopsten mit Holzstecken und Besenstielen durch die Gegend, Matte bekamen wir jahrelang keine zu Gesicht. Wohl auch, weil jene am Alten Tivoli eher das Interesse von Altertumsforschern denn von Athleten erregte. Wir lernten mithilfe unserer Stecken, wie man einen Stab richtig hält, wie man fachgerecht in den Kasten einsticht, und andere nützliche Dinge. Wenn wir ein paar Sprünglein taten, landeten wir in der Sandkiste der Weitsprunganlage.


Mit elf erfüllte Papa endlich meinen sehnlichsten Wunsch, nunmehr das gesamte Training auf Stabhochsprung auszurichten. Keine andere Disziplin hatte mir auch nur annähernd so viel Freude bereitet. Ich konnte auch später nie verstehen, wie man es schaffte, sich etwa für den Langstreckenlauf zu begeistern. Allein schon die Eintönigkeit im Training hätte mich mürbe gemacht. Zeitgleich zu der frohen Kunde eröffnete uns Papa, sich künftig hauptverantwortlich um unsere vier, fünf Kids starke Gruppe zu kümmern. Und er „gestand“, früher selbst aus Spaß an der Freud’ mit dem Stab aktiv gewesen zu sein, dass er es zwar „nur halb“ konnte, aber sich die Technik seither nicht gravierend verändert habe.

Trotz meiner Begeisterung war aller Anfang schwer. Beim ersten Stabhochsprung-Wettkampf in der Alten Messehalle im Jänner 2004 scheiterte ich sechsmal an der niedrigstmöglichen Anfangshöhe von 1,70 Metern. Meine Eltern und die Veranstalter aber ließen mich gewähren, wollten wohl nicht, dass mein Debüt mit einem Frustrationserlebnis endete. Tatsächlich gelang es mir, mich im siebenten Versuch über die Latte zu katapultieren – Jubel! Bei meiner ersten Teilnahme bei Österreichischen Meisterschaften half aber auch meine Engelsgeduld nicht. Als noch Zehnjährige ließ man mich bei den U14-Titelkämpfen in Ried im Innkreis schlicht und ergreifend nicht antreten. Auch Brit fühlte sich nach Rang 4 nicht ausreichend wertgeschätzt, und so bekam Papa auf der Heimfahrt in Stereo zu hören: „So lassen wir uns nie wieder behandeln! Wenn wir noch einmal zu so etwas fahren, dann nur, um zu gewinnen!“

Im Jahr darauf fuhren wir wieder „zu so etwas“, nur diesmal für die Turnerschaft Innsbruck statt für den LAC – und machten unsere Ankündigung in Feldkirchen wahr. Brit krallte sich nach einem Sprung über 2,81 Meter Gold, ich konnte als Elfjährige mit Bronze im U14-Bewerb (2,30 m) auch ganz gut leben. Ich trainierte mittlerweile viermal die Woche, dreimal Sprint, Sprung, alles, was mit Athletik zu tun hatte, und einmal mit dem Stab. Und genau diese Vielfalt war es, die mich an dem Sport so fesselte. Es braucht Schnelligkeit, Sprungkraft, turnerische Fähigkeiten, Technik, Mut – anspruchsvoller geht’s eigentlich kaum. Ich befand mich auf dem Vormarsch. Zwar noch auf bescheidenem Niveau, aber auf dem Vormarsch. Beim LAC-Nachwuchsmeeting durchstieß ich im Mai 2006 erstmals die Dreimeter-Schallmauer (3,01). Und in Ried, wo ich zwei Jahre zuvor unverrichteter Dinge hatte abziehen müssen, setzte ich als frisch gebackenes Mitglied des ATSV Innsbruck, für den ich bis zu meinem Karriereende im Einsatz war, den ersten Meilenstein. Als Jüngste im Feld (zwölf Jahre, zehn Monate) siegte ich bei der österreichischen U16-Meisterschaft vor – auch nicht ganz unwesentlich – meiner Schwester, die ich mit 2,90 Metern um zehn Zentimeter hinter mir ließ. Ich befürchte, dass dieses Erlebnis in gewisser Hinsicht prägend war für sie, da sie sich von dem „Schock“, sportlich betrachtet, nicht mehr vollständig erholte.


Der nächste Quantensprung verschaffte mir mit 13 die Ehre meines ersten österreichischen Rekordes. Schauplatz war das burgenländische Pinkafeld, Austragungsort der U16-Staatsmeisterschaften 2007. Als ich bei drei Metern in den Wettkampf einstieg, war nur mehr eine Konkurrentin übrig. Allerdings hätte auf einen peinlichen Salto nullo nicht viel gefehlt; erst im dritten Versuch meisterte ich meine Anfangshöhe. Gold war mir damit sicher – also fackelte ich nicht lange und ließ die neue Rekordhöhe von 3,42 Metern auflegen. Gar kein so leichtes Unterfangen, die Organisatoren hatten für eine solche Höhe nämlich keine Messlatte parat. Also musste einer der Veranstalter ausschwärmen, um aus der nahen Steiermark eine herbeizukarren. Wieder machte ich es über Gebühr spannend, im dritten Versuch aber hatte ich die Bestleistung dann doch noch in der Tasche. Damit sich der Botendienst richtig ausgezahlt hatte, versuchte ich mich noch an 3,52 Metern, 17 Zentimeter über meinem bisherigen „All-time High“ – und wieder blieb die Latte im letzten Versuch liegen. Zwei Wochen später wurde ich mit dem ersten Aufeinandertreffen mit der heimischen Elite belohnt. Es reichte bei den Staatsmeisterschaften in Feldkirch zwar nur zu Rang 5 unter fünf Teilnehmerinnen, mit übersprungenen 3,30 Metern konnte ich mein damaliges Leistungsniveau aber annähernd abrufen.

Selbe Höhe, selbe Platzierung ein halbes Jahr später bei den Hallen-ÖMS 2008. Einziger Unterschied: Zum ersten Mal landete Doris Auer, die Grande Dame des österreichischen Stabhochsprunges, hinter mir. Ich war zwar schon längst ausgeschieden (3,30 m), als sie in den Wettkampf eingriff (3,80 m), ihre drei Fehlversuche ließen sie aber am Ende der Wertung aufscheinen. Oder eigentlich außerhalb. Fakt ist: Mit Doris, damals 36, hatte ich immer ein sehr gutes Verhältnis, sie ist ein unglaublich positiver Mensch. Wenn die Begleitumstände eines Meetings noch so trist waren – Doris fand immer etwas, um sich und andere aufzubauen. „Schau, der schöne Rasen!“ Oder: „Schau, die schöne Wolke! Da werden wir heute gut springen.“ Wenn ihre Prophezeiung dann doch nicht eintraf, gab es hundertprozentig einen anderen triftigen Grund, warum der Wettkampf trotzdem schön gewesen war. Als ich ihr 2014 und 2015 den Freiluft- und den Hallenrekord entriss, trudelte prompt ein Gratulations-SMS ein: „Dir vergönne ich das!“ Eine große Geste, zumal man fairerweise sagen muss: 4,40 bzw. 4,44 Meter hatten vor 15 Jahren die Zugehörigkeit zur absoluten Weltklasse bedeutet, nicht umsonst belegte sie bei den Olympischen Spielen in Sydney Rang 6. Heute erreicht man mit dieser Leistung nicht einmal mehr ein EM-Finale. Doris war aber auch eine tolle Universal-Athletin, ein echtes Rundumtalent. Sie sprintete zum Beispiel die 100 Meter in 11,90 Sekunden. Das schaffen in Österreich mit ein paar handverlesenen Ausnahmen nicht einmal die Spezialistinnen.

Im weiteren Verlauf der Saison, in der Papa erstmals das gesamte Training konzipierte und leitete, konnte ich meine Bestleistung in drei Schritten um weitere 20 Zentimeter auf 3,72 Meter steigern. Und drang damit in Sphären vor, die für die Beschickung internationaler Titelkämpfe infrage kamen. Bis dahin war mir nicht einmal bewusst gewesen, dass es im Jugendbereich solche Veranstaltungen gab. Jetzt aber hatte sich die U18-Weltmeisterschaft 2009 in Brixen in meinen Gehirnwindungen festgesetzt. Dort musste ich hin. Mit Erfahrungen bei internationalen Multisport-Wettkämpfen, selbst in exotischen Gefilden, konnte ich zu diesem Zeitpunkt zwar schon aufwarten, aber nicht im Stabhochsprung, der zugunsten von „leichteren“ Disziplinen mit größeren Starterfeldern oft außen vor gelassen wurde. 2006 hatte ich an den 40. International Children’s Games in Bangkok teilgenommen, wo ich über 100 Meter an den Start ging. Die Veranstaltung, bei der Städteteams antraten, wurde sogar von König Bhumibol eröffnet, ich aber fand das alles wenig erbaulich. Weil mich das Heimweh massiv gepackt hatte. So wie in den Reitferien früher – nur dass mich Papa und Mama damals abholen und nach einer Nacht zu Hause wieder hinbringen konnten. In Thailand aber waren Elternteile nicht mal als Betreuer vorgesehen – im Gegensatz zu ganzen Heerscharen von Innsbrucker Lokalpolitikern und Landesbeamten. Wenigstens konnte ich das Zimmer mit Brit teilen, die als Hochspringerin nominiert war. Im Jahr darauf war Reykjavik Schauplatz der Kinder-Spiele gewesen, auch sehr schön, auch sehr, na ja, kühl eben. Hängen blieben bei mir die Blue Lagoon und ein Vergnügungspark. Und dass ich wegen vorauseilenden Heimwehs schon kurz vor der Abreise hatte kneifen wollen. Ebenfalls 2007 hatte es mich noch ins dänische Aalborg verschlagen. Der Trip zu den Youth Games fiel eher in die Kategorie „beschwerlich“. Zuerst saßen wir Athleten einen ganzen Tag im Bus, dann durften wir in Feldbetten auf mitgebrachten Luftmatratzen ruhen.

Da fühlte sich Brixen schon sehr viel eher wie Spitzensport an. Das Limit von 3,65 Metern war frühzeitig erledigt, folglich reiste ich Anfang Juli als eine von sieben Österreichern zur Medaillenjagd nach Südtirol. Zwei der Teamkollegen zählen noch heute zu den Aushängeschildern der rot-weiß-roten Leichtathletik: Diskuswerfer Lukas Weißhaidinger und Mehrkämpferin Ivona Dadic. Mit Ivi habe ich mich von Beginn an prächtig verstanden, Brixen war der Startschuss für eine bis heute währende Freundschaft. Der Zufall, die Tagesform und die Konkurrenz wollten es, dass wir mit jeweils zehnten Plätzen für die beste österreichische WM-Platzierung sorgten.

Für mich als 15-jährigen Backfisch entpuppte sich das erste Kräftemessen mit der (fast) gleichaltrigen internationalen Konkurrenz als überaus wertvolle Erfahrung. Alles lief sehr seriös und offiziell ab. Erstmals wartete ich in der nervösangespannten Atmosphäre eines Call Room mit meinesgleichen auf den Wettkampf, erstmals musste mein Trainer die Performance von der Tribüne aus verfolgen. Keine große Sache – beim zweiten Mal, etwas gewöhnungsbedürftig bei der Premiere. Eine neue Erfahrung brachte auch das unerwartete Zusammentreffen mit Stabhochsprung-Ikone Sergej Bubka. Irgendwie kamen mein Teamkollege Thomas Pastl und ich mit dem IOC-Vizepräsidenten ins Gespräch, ein Fotograf fing die Szene ein, und schon war ich anderentags an der Seite eines Weltstars in einer Südtiroler Tageszeitung zu bewundern. Meine sportliche Leistung hätte dafür nicht ganz gereicht. Nachdem ich meinen persönlichen Rekord im Laufe der Saison zunächst auf 3,74 m und dann wieder um stattliche 17 Zentimeter auf 3,91 m nach oben hatte schrauben können, bedeuteten die 3,85 m in der Qualifikation und die 3,80 im Finale doch immerhin die zweit- und drittbeste Leistung meiner Karriere. Die erste internationale Bewährungsprobe hatte ich damit auf jeden Fall bestanden. Und mich auch ein Stück weit besser kennengelernt. Dass mir die Nerven im Normalfall keinen Streich spielen, die Nervosität auch bei großen Aufgaben wie weggeblasen ist, sobald ich den Stab in der Hand halte.

Keine zehn Tage später vertrat ich schon wieder Österreichs Farben bei einem bedeutenden Wettkampf, dem Europäischen Olympischen Jugendfestival. Leider hielt der Event im finnischen Tampere mit der hochtrabenden Bezeichnung nicht mit. Im Stabhochsprung, aber wohl auch in vielen anderen Leichtathletik-Disziplinen beschickten die meisten europäischen Nationen das EYOF mit der zweiten oder gar dritten Athletengarnitur. Die logische Folge: Die Höhe der Siegerin lag in Tampere 42 Zentimeter unter jener der schwedischen WM-Goldmedaillengewinnerin in Brixen. Warum ich dann trotzdem keine Medaille holte? Das wüsste ich auch gern. Meine WM-Finalleistung hätte für Bronze, jene aus der Quali für Silber, die Einstellung meiner persönlichen Bestleistung für Gold gereicht. Aber ich wurde mit mäßigen 3,65 Metern Fünfte. Eine Schmach, die ich zum Teil auf meine Kappe nehme, zum Teil auf die unbefriedigende Betreuungssituation vor Ort zurückführe. Dr. Roland Werthner, der ehemalige Mehrkämpfer, war mir als Trainer zugeteilt. Sehr betreuungsintensiv dürfte ich nicht gewesen sein, wollte lediglich den Absprungpunkt meines jeweils letzten Versuches übermittelt bekommen. Aber auch das war offenbar zu viel verlangt.

Alles in allem ging es in den Jahren 2007 bis 2010 – von ein paar kleinen Dämpfern abgesehen – hurtig nach oben. Ein Resultat der zunehmenden Professionalisierung meines Umfeldes. Papa hatte begonnen, sich mit Kapazundern unseres Sports auszutauschen, die Kontakte permanent zu pflegen und sein Know-how sukzessive zu erweitern. Unter seinen Informanten und Diskussionspartnern fand sich das Who’s who der Stabhochsprung-Trainerszene: Andrej Tiwontschik (Olympia-Dritter von 1996 und Coach von Raphael Holzdeppe), Herbert Czingon (langjähriger deutscher Bundestrainer) und Witali Petrow (coachte Sergej Bubka und Jelena Isinbajewa). Ich selbst stelle die Weichen meiner schulischen Laufbahn neu, um der Professionalisierung Rechnung zu tragen. Ursprünglich hatte ich mich für das Innsbrucker Adolf-Pichler-Platz-Gymnasium, eine Schule ohne sportlichen, dafür mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt, entschieden, musste aber allmählich zur Kenntnis nehmen, dass sich Leistungssport und Regelschule nicht unter einen Hut bringen lassen. Nicht der Noten wegen, die hatte ich spielend im Griff, sondern aufgrund der Unmengen von Fehlstunden, die ich regelmäßig anhäufte. Im Februar 2010, Mitte der siebten Klasse, also eineinhalb Jahre vor der Matura, zog ich die Notbremse und wechselte in die Abendschule, das Gymnasium für Berufstätige. Dort waren nur zweimal fünf Stunden Anwesenheit pro Woche erforderlich, den Rest arbeitete man in einer Art Fernstudium ab. Für mich ergab sich dadurch der unschätzbare Vorteil, problemlos zweimal am Tag trainieren zu können. Selbst an den beiden Abenden mit Anwesenheitspflicht schuftete ich noch von 22 bis 24 Uhr in der rund um die Uhr geöffneten Kraftkammer im „Happy Fitness“ in Innsbruck.