Kitabı oku: «Sprache: Wege zum Verstehen»
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UTB 2172
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Kirsten Adamzik Jahrgang 1955, Studium der Germanistik, Allgemeinen Sprachwissenschaft und Pädagogik in Münster. Promotion 1982. Seit 1983 Dozentin am Département de langue et de littérature allemandes der Universität Genf.
Für D. G. E.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
3., überarbeitete Auflage 2010
2., überarbeitete Auflage 2004
1. Auflage 2001
© 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG
Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
ISBN 9783846321720
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Internet: http://www.francke.de E-Mail: info@francke.de
Titelbild: René Magritte, L’usage de la parole. © VG Bild-Kunst, Bonn 2009.
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt
ISBN 978-3-8252-2172-0 (UTB-Bestellnummer)
Hinweis zu Zitierfähigkeit
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Inhaltsverzeichnis
Titel Impressum Hinweis zu Zitierfähigkeit 1 Sprache und Sprachen – Ursprungsmythen 2 Wie viele Sprachen gibt es? 3 Sprache als System 4 Zeichen: Von Sinneswahrnehmungen zu Interpretationen 5 Was braucht man, um eine sprachliche Äußerung zu verstehen? 6 Wozu man Sprache braucht – Sprachfunktionen 7 Eine Landkarte der Sprachwissenschaft – die Linguistik und ihre Teildisziplinen 8 Sprachzeichen als psychische Größen 9 Sprachzeichen und die außersprachliche Welt 10 Bedeutungsbeschreibungen im Wörterbuch 11 Wortbedeutungen im Bewusstsein der Sprecher 12 Sprache als Mittel des Denkens: Die Kategorisierung der Welt 13 Bedeutungsverwandte Ausdrücke: Wortfelder 14 Die so genannten Synonyme I: Denotation und Konnotation 15 Die so genannten Synonyme II: Gebrauchsbedingungen 16 Kontinua und Grauzonen 17 Die grammatische Seite von Wörtern: Wortarten 18 Die Bedeutung wortgrammatischer Kategorien 19 Wortformen in verschiedenen Sprachtypen 20 Alte und neue Blicke auf die Sprache 21 Wie man eine fremde Sprache analysieren kann 22 Typen elementarer Sprachzeichen 23 Warum man die Wörter einer Sprache nicht zählen kann 24 Wie kreiert man neue Wörter für unbenannte Dinge? 25 Die Überlebenschancen von Wortkreationen 26 Wortbildung zwischen Lexikon und Grammatik 27 Die Struktur komplexer Wörter 28 Deutsche Komposita – Wortungetüme? 29 Der Satz als Drama 30 Semantische Rollen 31 Verdichtung von Aussagen durch komplexe Satzglieder: Attribute 32 Einfache(re) Satzglieder 33 Der Satz als grammatische Struktur 34 Verbindung von Aussagen: Der komplexe Langue-Satz 35 Parole-Sätze 36 Syntax der Übersichtlichkeit 37 Bäumchen, wechsle dich: Die Verbstellung im deutschen Satz 38 Wie man mit Worten die Welt verändern kann 39 Sprechakte 40 Wie erschließt man die kommunikative Intention des Sprechers? Illokutionsindikatoren 41 Gemeintes und Mitgemeintes 42 Eine kommunikative Ethik? 43 Sprachgebrauch – Wie Texte entstehen 44 Der Text als Ausschnitt aus einem Diskurs 45 Texte und Nicht-Texte? 46 Der Text als Folge von Teiltexten 47 Der Text als mehrdimensionale Größe 48 Textum – das Gewebe 49 Rückblick: Sprache – eine angeborene Fähigkeit oder ein kulturelles Erbe? Anmerkungen Anhang Quellenverzeichnis Literaturhinweise Glossar und Register Systematische Inhaltsübersicht
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Vorwort zur 3. Auflage
Seit der ersten Auflage von 2001 hat sich die Art, wie wir Sprache verwenden, dramatisch verändert. Im Jahr 2001 wurde das Projekt Wikipedia gestartet, das heute in 270 Sprachen existiert, an fünfter Stelle der meistbesuchten Internetseiten liegt und ohne Werbung auskommt.
Nun spielt die technische und kommerzielle Seite der Kommunikation in diesem Buch keine besondere Rolle, und die globale Vernetzung im ›Informationszeitalter‹ – am Beispiel des Mauerfalls in den Kapiteln 43 und 44 behandelt – konnte ihre soziale Sprengkraft auch schon vor der Banalisierung des Internets entfalten.
Wenn die ins Ungeahnte gestiegenen Möglichkeiten der Datenspeicherung, -übermittlung und -aufbereitung für die Neuauflage dennoch von Bedeutung waren, so liegt das daran, dass sie die Arbeit von Sprachwissenschaftlern entscheidend verändert haben und es heute auch für den ›normalen Sprachteilhaber‹ nützliche Ressourcen gibt, die vor zehn Jahren nicht zur Verfügung standen. Da ein Ziel dieses Buches darin besteht, Informationsquellen über die (deutsche) Sprache vorzustellen und an Beispielen möglichst konkret vor Augen zu führen, konnten die Neuerungen insbesondere bei den Wörterbucheinträgen nicht übergangen werden.
Auch an anderen Stellen wurden Aktualisierungen und Ergänzungen vorgenommen. Neu bearbeitet sind insbesondere die Literaturhinweise.
Fragen und Hinweise sind willkommen unter
Kirsten.Adamzik@unige.ch
Genf, im Januar 2010
Kirsten Adamzik
Vorwort zur zweiten Auflage
Für die 2. Auflage wurden Irrtümer berichtigt und die Literaturhinweise aktualisiert. Ferner habe ich einige kleinere inhaltliche Ergänzungen und Veränderungen vorgenommen, insbesondere im Teil zur Wortbildung. Diese gehen auf Anregungen von Elke Donalies zurück, der ich ganz herzlich dafür danke. Hinzugekommen ist eine detaillierte Inhaltsübersicht am Ende des Bandes, die auch einen besseren Überblick über den Grobaufbau erlaubt. Auf die Einschaltung von Übungen (mit Lösungen) wurde weiterhin verzichtet.
Genf, im September 2003
Kirsten Adamzik
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Vorwort
Es gehört zu den Aufgaben eines Vorworts, deutlich zu machen, an wen sich das Buch wendet. In Vorwörtern zu Fachbüchern erfährt man dann zu seinem Erstaunen oft, dass der Autor eigentlich an alle gedacht hat: interessierte Laien, Schüler, Lehrer, Studenten, Kollegen aus der eigenen und aus anderen Disziplinen. Dasselbe gilt natürlich auch für dieses Buch: Es wendet sich an alle, die sich für Sprache interessieren – und wer täte das nicht (wenn er es denn schon aufschlägt)?
Aber selbstverständlich hat die Autorin doch an eine spezielle Gruppe gedacht, genauer gesagt: an zwei. Gemeint sind zunächst jene, die ein ursprüngliches Interesse an Sprache haben, an Sprache überhaupt, an ihrer eigenen und an fremden Sprachen, Menschen, die aufmerken, wenn sie hören und lesen, und sich die Frage stellen, warum es wohl so und nicht anders heißt, kurz: Personen, die keine gelehrte Kenntnis erwerben wollen (vgl. S. 46). Die zweite Gruppe stellen jene dar, die sich für Sprache interessieren sollen, von denen man erwartet, dass sie (zumindest ansatzweise) eine professionelle Neugier entwickeln, die nämlich eine Sprache studieren. Dies tun sie oft aus dem Wunsch heraus, sich mit der Literatur in dieser Sprache zu beschäftigen, und viele sind nicht wenig erstaunt, dass zu einem solchen Studium auch ein sprachwissenschaftlicher Teil gehört, besonders dann, wenn sie eine Sprache studieren, die sie schon beherrschen. Nun ist es leider so, dass die Studierenden oft den Eindruck haben, das, was sie in der Linguistik lernen sollen, habe wenig zu tun mit ihrem – ja zweifellos auch vorhandenen – ursprünglichen Interesse an Sprache. Das unerwartete Teilgebiet bleibt bei vielen ein ungeliebtes.
Die Schwierigkeit dieses Buches bestand nun darin, den Erwartungen beider Teilgruppen gerecht zu werden: Es sollte nicht zu gelehrt, zu wissenschaftlich sein, aber doch einen systematischen Einblick in die Linguistik geben, wie er in Einführungsveranstaltungen vermittelt wird. Diese unterschiedlichen Anforderungen können nicht wirklich in Einklang gebracht werden. Was für die einen vielleicht schon zu viel ist, ist für die anderen noch zu wenig. Daher kann ich nur Empfehlungen geben, wie man je nach Interessenlage mit diesem Buch umgehen kann.
Eigentlich ist es als eines gedacht, das man von vorn nach hinten lesen soll, es ist kein Arbeitsbuch. Die Randspalte gibt eine grobe Orientierung über das jeweils Behandelte, sie kann aber auch als Wegweiser benutzt werden: Stößt man auf Abschnitte, in denen es zu speziell zu werden scheint, kann man diese überspringen; sucht man gezielt nach Themen oder Begriffen, lassen sie sich leicht auf- oder wiederfinden. Ein solch gezielter Zugriff ist auch über das Glossar/Register möglich.
Speziell für das Laieninteresse sind die Textbeispiele gedacht, die man auch unabhängig vom Rest lesen kann. Manche dienen als Analyse- oder Illustrationsmaterial; im Vordergrund stand jedoch die Idee, Texte zu versammeln, in denen linguistisch nicht speziell Geschulte sich über Sprache äußern.
Die Literaturhinweise schließlich verzeichnen einerseits Werke zum Thema Sprache für ein breites Publikum und andererseits weiterführende Literatur als Hilfestellung für jene, die auch zum gelehrten Schrifttum vordringen wollen oder müssen.
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Dieses Buch hat eine lange Geschichte. Sie beginnt natürlich mit dem kindlichen Staunen über Sprache und darüber, was man sagen und was man nicht sagen kann – ein fortgesetztes Staunen, das unweigerlich zum Studium des Phänomens führte. Dort machte Helmut Gipper mich 1973 mit der Sprachwissenschaft bekannt. Er pflegte zu sagen, dass für einen Professor nichts so schwer sei wie eine Einführung, beherrschte jedoch virtuos die Kunst, in seinen Vorlesungen alltägliches und wissenschaftliches Fragen zusammenzubringen. Dafür sei ihm an dieser Stelle ein später Dank gesagt. Ich habe oft an ihn gedacht.
Wie schwierig es nämlich wirklich ist, das Interesse für Linguistik zu wecken, habe ich in den vielen Einführungsveranstaltungen, an denen ich seit 1983 in Genf mitgearbeitet habe, immer wieder erlebt. In unendlichen Diskussionen über uns nie ganz befriedigende Lehrbücher und über fast jährlich revidierte eigene Arbeitspapiere wurde uns mitunter schmerzlich bewusst, dass es keine wirklich gute Lösung gibt. Mein Dank geht an alle Genfer und auswärtigen Kollegen, die, jeder auf seine Weise, dazu beigetragen haben, dass ich schließlich doch den Mut zu diesem Buch gefunden habe. Ganz besonders danken möchte ich Gottfried Kolde, ohne den es nicht entstanden wäre. Dennoch ist dieses Buch kein Gemeinschaftswerk geworden, eben weil es nicht als Arbeitsmaterial gedacht ist, wie man es für den universitären Unterricht braucht.
Sehr herzlich bedanken möchte ich mich auch beim Verlag für die Aufnahme des Buches in diese Reihe und speziell bei Herrn Stephan Dietrich für die sorgfältige Betreuung des Manuskripts.
Genf, im Oktober 2000
Kirsten Adamzik
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1 Sprache und Sprachen – Ursprungsmythen
Die Sprache im Paradies
Sprache ist ein allen Menschen vertrautes Phänomen. Dennoch soll diese Erkundungsfahrt durch die Welt der Sprache bei ›Adam und Eva‹ beginnen – genauer gesagt: bei Adam. In der Bibel ist nämlich von der menschlichen Sprache dort zum erstenmal die Rede, wo Adam noch allein auf der Welt ist. Es handelt sich um die zweite Version des Schöpfungsberichts, in der Adam vor den Tieren geschaffen und Eva danach aus seiner Rippe gemacht wird:
Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. […]
Und Gott der Herr sprach: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.« Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre. Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen […]. (1. Mose 2, 4 und 18 – 21)
Adam schafft seine Sprache selbst
An diesem biblischen Mythos sind für uns zwei Dinge interessant:
Offenbar ist der Mensch von allem Anfang an mit Sprache ausgestattet, er kommt als sprachbegabtes Wesen in die Welt. Es ist ja nicht davon die Rede, dass Gott dem Menschen eigens die Sprache gibt. Er hat sie von vornherein, der »Odem des Lebens« impliziert Sprachfähigkeit. Noch viel bemerkenswerter ist Folgendes: Nach diesem Bericht erfindet sich Adam seine Sprache selbst, er schafft die Namen für die Tiere.
Die ›Ursprache‹
Man hat sich in früheren Jahrhunderten vielfach den Kopf darüber zerbrochen, mit welcher Sprache Adam eigentlich ausgestattet war, welches die ›Ursprache‹ ist, ob der erste Mensch Hebräisch, Aramäisch, Phönizisch oder was sonst für eine Sprache mit auf den Weg bekam. |►2| Im 16. Jahrhundert wurde gar die Auffassung vertreten, Adam habe Deutsch gesprochen.1
Bei all diesen Spekulationen ging man anscheinend von der Vorstellung aus, dass Gott dem ersten Menschen gleich ein großes Wörterbuch samt Grammatik in die Hand gedrückt – bzw. realistischer: ihm entsprechende Kenntnisse in den Kopf gelegt hat. Der Schöpfungsbericht stellt jedoch etwas anderes dar: Gott hat Adam die Sprache nicht in Form einer bestimmten Sprache mitgegeben, sondern als Sprache schlechthin. Er hat ihm die Fähigkeit gegeben, selbst sprachliche Ausdrücke zu erfinden.
Mit dieser Fähigkeit ausgestattet schuf Adam gewissermaßen die Welt noch einmal neu für sich nach, indem er die verschiedenen Dinge benannte, sie sprachlich in Besitz nahm. Damit war zugleich die notwendige Grundlage gegeben, dass er die Erde in Besitz nehmen, sie sich untertan machen konnte.
Der Turmbau zu Babel
Bekannter ist ein anderer biblischer Mythos von der Sprache, die Geschichte vom Turmbau zu Babel, wo die Menschen – längst aus dem Paradies vertrieben und zahlreich gemehrt, aber mit einer einzigen, allen gemeinsamen Sprache ausgestattet – in Hybris verfallen und einen Turm bauen wollen, »dessen Spitze bis an den Himmel reicht«, um ihre Macht und Stärke zu bezeugen. Angesichts dieser Vermessenheit beschließt Gott:
Ich will herabfahren und ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr den andern versteht. Und Gott stieg herab und verwirrte ihre Sprache und zerstreute die Menschen von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten ihre Stadt zu bauen. (1. Mose 11, 7 – 8)
Der Schöpfungsbericht, der die Sprache als etwas darstellt, was vom Menschen nicht wegzudenken ist, entspricht einer Auffassung, die wir auch heute noch teilen. Die Geschichte von der babylonischen Sprachverwirrung passt dagegen weder zu dieser Vorstellung von Adams ›angeborener‹ Sprachfähigkeit noch zu unseren heutigen Erkenntnissen über die menschliche Sprache. Was wir über Sprache, Sprachen und Menschen mit verschiedenen Sprachen wissen, lässt sich mit diesem Bericht kaum vereinbaren. Zur Ehrenrettung der mosaischen Schriften sei hinzugefügt, dass dort auch die uns selbstverständliche Annahme begegnet, mit der Erfüllung des göttlichen Auftrags Seid fruchtbar und mehret euch sei Sprachenvielfalt verbunden. Unmittelbar vor der Geschichte vom Turmbau zu Babel wird nämlich von Noahs drei Söhnen und ihren Nachkommen berichtet und am Ende heißt es jeweils: Das sind die Söhne Japheths [bzw. Hams, Sems] nach ihren Geschlechtern, Sprachen, Ländern und Völkern.
Sprachenvielfalt
Führen wir uns diese ›natürliche Sprachenvielfalt‹ etwas genauer vor Augen und legen wir zunächst die biblische Darstellung zugrunde. |2◄ ►3| Gott zerstreute also die Menschen über die ganze Erde, indem er ihre Sprache verwirrte, also die Sprachverschiedenheit und Sprachenvielfalt einführte. Sprachenvielfalt ist nun etwas, was seit den frühesten historischen Zeugnissen der Menschheitsgeschichte das Übliche ist. Was aber haben die Menschen in diesem Sprachenwirrwarr gemacht? Keine Türme mehr gebaut, die bis an den Himmel reichen? Die Skyline von New York lässt uns daran zweifeln. Haben zumindest die in verschiedene Erdteile zerstreuten Menschen aufgehört, miteinander zu sprechen? Keineswegs, sie haben zum Beispiel die Telekommunikation erfunden und können sich heute auch miteinander unterhalten, wenn sie sich an ganz verschiedenen Orten dieser Welt befinden. Für solche Projekte, die u.a. die Erfindung, Installierung und den Gebrauch von Satelliten voraussetzen, bedarf es internationaler Kooperation. Das heißt aber nichts anderes, als dass die Menschen all dies unter den Bedingungen realer Sprachenvielfalt zustande gebracht haben. Das Mindeste, was man angesichts dessen sagen muss: Die babylonische Sprachverwirrung war offenbar kein sehr effizientes Mittel, den Menschen ihren Übermut auszutreiben!
Führen wir uns einmal vor Augen, was tatsächlich geschieht, wenn Menschen sich in einer Situation des Sprachenwirrwarrs befinden und keiner den anderen versteht. In dieser Situation gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder die Sprecher verschiedener Sprachen bringen sich gegenseitig ihre Sprachen bei und lernen also mehrere. Oder – die menschliche Gesellschaft zeichnet sich ja durch Arbeitsteilung aus – sie beauftragen einige ihrer Mitglieder damit, andere Sprachen zu lernen und lassen sich alles übersetzen. Wenn sie für beides keine Zeit oder kein Geld haben, können sie schlimmstenfalls auch noch etwas anderes tun: Wenn es nämlich keine gemeinsame Sprache gibt, dann kann man sich zur Not eine erfinden.
Pidgins und Kreolsprachen
Tatsächlich haben wir historische Beispiele für Verhältnisse, die denen von Babel zum Verwechseln ähnlich sind, Situationen nämlich, in denen Sprecher unterschiedlichster Sprachgemeinschaften zusammentreffen und miteinander kommunizieren wollen oder müssen. Dies gilt z.B. für die Kolonialländer. Gewiss: Oft haben die Mächtigen einfach ihre Sprache durchgesetzt und die Urbevölkerung ausgerottet oder zum Erlernen der eigenen Sprache gezwungen. In anderen Fällen aber ist tatsächlich eine neue Sprache, eine Mischsprache entstanden, zu der sehr viele Einzelsprachen und Dialekte beigetragen haben. Solche Sprachen nennt man Pidgins. Dieser Ausdruck geht wahrscheinlich auf eine chinesisch gefärbte Aussprache des englischen Wortes business zurück, und business war in der Tat die Grundlage für diese Sprachmischungen. Sie entstanden in den Handels- und Verwaltungszentren der Kolonisatoren, in denen eine Vielzahl von Einheimischen aus der näheren und weiteren Umgebung zusammenkamen, die weder untereinander|3◄ ►4| über ein gemeinsames Kommunikationsmittel verfügten noch die Sprache der Kolonisatoren beherrschten, aber gezwungen waren, sich mit diesen und untereinander wenigstens rudimentär zu verständigen. Und offenbar ermöglichte ihre angeborene Sprachfähigkeit es ihnen, die Lücke zu füllen und eine Mischsprache auszubilden. Sie weist zwar einen stark reduzierten Wortschatz und vereinfachte lautliche und grammatische Strukturen auf, reicht aber aus, um die für das business notwendige Verständigung zu gewährleisten. Im weiteren Verlauf, nämlich dann, wenn spätere Generationen Pidgins als gängige (erste) Sprache hören, können dann diese rudimentären Systeme sogar zu voll funktionsfähigen, nicht auf bestimmte Kommunikationsbereiche beschränkten und formal nicht mehr defizienten Sprachen ausgebaut werden. Kinder von Pidginsprechern können nämlich – wiederum auf Grund ihrer angeborenen Sprachfähigkeit – eine neue Sprache kreieren. In diesem Fall spricht man von Kreolsprache.
Die Existenz von Pidgin- und Kreolsprachen macht die Geschichte von Babel so unwahrscheinlich. Solche Sprachen entstehen nämlich gerade unter der Bedingung, dass man ein gemeinsames Projekt hat und deswegen eine gemeinsame Sprache braucht. Und ein solches Projekt hatte man ja in Babel. Der Mythos stellt so gesehen die Dinge gewissermaßen auf den Kopf: Weil die Menschen verschiedene Sprachen hatten, wurden sie in alle Welt verstreut … Im Allgemeinen ist aber die geografische Distanz nicht eine Folge, sondern im Gegenteil eine ursächliche Bedingung für Sprachverschiedenheit. Wenn man einander nicht (mehr) trifft und keine Kommunikationsabsichten hat, besteht nicht der geringste Grund, eine gemeinsame Sprache zu erhalten oder zu entwickeln. Wenn man aber miteinander reden will oder muss, dann wird man dafür auch ein Mittel finden oder eben schaffen.
In den vorangegangenen Ausführungen wurde sehr oft das Wort Sprache benutzt, damit aber zum Teil Verschiedenes gemeint. Einerseits war von der spezifisch menschlichen Fähigkeit zur Spracherlernung und -entwicklung die Rede (Adam), dann von den verschiedenen Einzelsprachen, die die Geschichte von Babel illustriert. Schließlich war auch von Kommunikation die Rede, die aus dem Bedürfnis und der Notwendigkeit entsteht, einander etwas mitzuteilen. Denn es ist ja nicht so interessant, dass der Mensch eine oder mehrere Sprachen ›besitzt‹, sie sprechen kann, sondern dass er auch tatsächlich spricht. Wenn er dies tut, kommt wieder Sprache heraus, diesmal im Sinne von Gesprächen und Texten.
Ferdinand de Saussure langage, langue, parole
Für die Unterscheidungen, um die es hier geht, hat der Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857 – 1913) terminologische Unterscheidungen getroffen, die allgemeinen Eingang in die Sprachwissenschaft gefunden haben. Dabei griff er auf die französische Sprache zurück, die selbst schon mehrere Ausdrücke für ›Sprache‹ hat. |4◄ ►5| Um die menschliche Sprachfähigkeit zu bezeichnen, hat er den Ausdruck langage gewählt, die verschiedenen Einzelsprachen heißen langues. Die Verwendung solcher Einzelsprachen schließlich, den konkreten Gebrauch einer langue in Äußerungen, bezeichnet er als parole. Wir sprechen im Weiteren von Äußerungen als Parole-Akten.
Einzelsprachen
Die langage ist allen Menschen gemeinsam. Nur lässt sie sich als solche gar nicht konkret verwenden. Wer immer seine Sprachfähigkeit praktisch einsetzen will, muss dabei auf eine bestimmte Einzelsprache (langue) zurückgreifen. Einzelsprachen sind z.B. Deutsch, Französisch, Afrikaans, Bhili, Chinesisch, Duru, Kurdisch, Lateinisch, Maledivisch, Nanai, Persisch, Quechua, Rätoromanisch, Suyá, Thai, Usbekisch, Yupik, Zulu und so weiter und so fort. Eine naheliegende Frage ist nun, wie weit dieses »und so weiter und so fort« geht: Wie viele Sprachen gibt es in der Welt?
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