Kitabı oku: «Mord im Wendland», sayfa 5
»Ein Schäfer, nehme ich an. Wer?«, sagte Sabine.
Hohmann schwieg.
»Okay. Sie haben den Wolf also tatsächlich gestellt.«
»Ja. Nicht weit von diesem Haus. Auf der anderen Seite des Waldes war eine Schafweide mit ein paar Schafen, davon wurde der Wolf angelockt. Das war so geplant. Ich hatte ihn vor der Flinte, dann hat er uns wohl bemerkt und ist abgehauen. Ich habe noch geschossen, aber nicht getroffen.«
»Und das Kind?«
»Im Mündungsfeuer habe ich eine Gestalt gesehen. Ein Mensch, ganz sicher. Er war nicht groß. Eher so.« Er hielt seine Hand ungefähr 120 Zentimeter über den Boden.
»Und dieser Mensch ist mit dem Wolf weggerannt?«
»Ja, so wirkte es.«
»Können Sie sich vorstellen, was ein Wolf mit einem kleinen Kind macht? Die laufen doch nicht Hand in Hand zusammen weg«, sagte Sabine. Hohmann zuckte mit den Schultern. Sie wusste es selbst nicht. Sie hatte gelesen und im Fernsehen gesehen, dass Wölfe, entgegen der üblichen Vorurteile, keine brutalen Menschenfresser waren. Aber ob ein hungriger Wolf einen Unterschied zwischen einem Kind und einem Schaf machte?
Sabine atmete tief durch. Das Gespräch war anstrengender als erwartet, womöglich auch ergiebiger. Sie war sich da noch nicht sicher. »Herr Hohmann, ich glaube Ihnen. Ich glaube Ihnen, dass Sie einen Wolf gesehen haben, und ich glaube Ihnen auch, dass Sie ein Kind gesehen haben. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass Sie beide zusammen gesehen haben. Spielt Ihnen Ihre Erinnerung da einen Streich?«
»Nein, sicher nicht«, sagte Hohmann und fragte nach einer kurzen Pause: »Und wie geht es jetzt weiter?«
»Folgendermaßen«, sagte Sabine. »Sie geben Fingerabdrücke und DNA-Probe ab und unterschreiben Ihre Aussage. Dann spreche ich mit Kiste«, sie lächelte, »und anschließend können Sie abhauen. Das Gewehr behalten wir hier. Das wird Folgen haben, wegen der fehlenden Besitzkarte. Den gejagten Wolf will ich Ihnen nicht anhängen. Seien Sie froh, dass Sie ihn nicht getroffen haben. Auf das Auto müssen Sie sicher noch eine Zeit warten.«
Hohmann sagte: »Danke.« Er war sichtlich erleichtert. Das Kind ging Sabine nicht aus dem Kopf. Dieser Kiste, Karsten Koslowski, bestritt in der anschließenden Vernehmung energisch, dass da ein Kind gewesen sei, und meinte, dass sein Freund sich das nur einbilde.
Am Mittag fuhr Sabine mit dem Fahrrad nach Hause. Das dauerte keine fünf Minuten. Wenn ihr Papa gut drauf war, kochte er mittags gerne eine Kleinigkeit. Andernfalls hatte Sabine immer etwas in der Tiefkühltruhe, was sie in der Mikrowelle für ihren Vater und sich auftauen konnte.
Als sie in das kleine Haus trat, das sie so liebte und an dem so viele Erinnerungen hingen, duftete es nach Essen. Bratwurst, Sauerkraut und Kartoffelpüree standen fertig auf dem Herd. Was hatte sie für ein Glück, einen der wenigen Männer seiner Generation zum Vater zu haben, die kochen konnten. Als sie am Morgen das Haus verlassen hatte, schlief Papa noch, sodass sie ihn nicht über die spektakulären Ereignisse der Nacht hatte informieren können. Im Radio waren aber offenbar bereits einige rudimentäre Meldungen gesendet worden.
»Schön, dass du da bist«, rief er ihr aus der Küche entgegen, »du bekommst nur was zu essen, wenn du mir alles ganz genau und haarklein erzählst.«
Sie gab ihm einen Kuss und half ihm, Teller und Töpfe auf die Terrasse zu tragen.
»Für alle Details habe ich keine Zeit, aber einen groben Überblick kann ich dir geben.«
An ihre Schweigepflicht als Polizeibeamtin fühlte sich Sabine bei ihrem Vater nicht gebunden. Er war selbst Polizist gewesen, er wusste, wie das lief, er würde nie etwas ausplaudern.
Sabine kam kaum dazu, das gute Essen zu genießen, so löcherte sie der alte Mann mit Fragen. Er war der ewige Polizist. Einer seiner zahlreichen Freunde hatte mal gesagt, der Hannes würde noch auf dem Sterbebett einen Verbrecher überführen.
Der Fall, den Sabine ihrem Vater in knappen Worten schilderte, berührte ihn sehr. Ein solches Verbrechen mit fünf Toten hatte er in 40 Dienstjahren in seinem Zuständigkeitsbereich nicht erlebt.
»Fünf Menschen, Sabine, das ist ja grauenhaft. Wer tut so was?«
»Wir vermuten im Moment, dass es einer der Bewohner war. Erweiterter Suizid. Aber sicher ist es nicht.«
»Erweiterter Suizid«, sagte der Alte verächtlich, »das ist eine blöde Formulierung. Das klingt so harmlos. In Wirklichkeit ist es ein vierfacher Mord und ein Selbstmord. Nennt es auch so.«
»Ja, Papa. – Was waren das für Leute, wer hat auf diesem Hof gelebt? Ich kenne keinen von denen.«
Der Alte senkte den dichten schneeweißen Haarschopf und legte die Hand an die Stirn. Das tat er seit ein paar Jahren, wenn er nachdachte, vor allem, wenn er versuchte, sich an etwas zu erinnern. Sein Gehirn sei stark wie immer, sagte Sabine gerne, wenn er sich Sorgen um seine geistige Gesundheit machte, es sei halt nicht mehr ganz so schnell.
»Das war der Hof vom Bauer Kurze, Heinrich Kurze«, sagte der Alte schließlich. »Der hatte nur noch eine kleine Landwirtschaft. Das meiste verpachtet. Irgendwann, ich glaube, das war Ende der 70er, gab es dann diesen schrecklichen Unfall.«
»Was für einen Unfall, Papa?«
»Er ist mit seinem PKW nachts in einen Traktor gerast, der unbeleuchtet vom Feld kam. Ich war vor Ort. Ein schrecklicher Anblick. Heinrich und seine Frau Greta waren sofort tot. Heinrich hatte natürlich ordentlich getankt. Das war damals noch völlig normal.«
»Und was geschah danach mit dem Hof?«
»Heinrich hatte einen Sohn. Ich weiß nicht mehr, wie der hieß. Muss so um die 20 gewesen sein. Der hat den Hof bestimmt geerbt. Aber, Kind, das ist alles so lange her. Ich weiß nicht, was der mit dem Hof gemacht hat. Viel wert war er sicher nicht. Ich glaube, da haben eine Zeitlang Hippies gehaust. Hat manchmal Ärger gegeben.«
»Hat dieser Sohn lange auf dem Hof gelebt oder lebte er da vielleicht bis heute?«
»Ich sag doch, ich weiß es nicht genau. Ich muss mal in meine Akten gucken, vielleicht finde ich da was. Ich meine, der war später auch bei diesen Anti-Atomkraft-Leuten dabei gewesen. Republik Freies Wendland. Aber welcher junge Mensch war das nicht zu der Zeit.«
Sabine räumte den Tisch ab, und Papa versuchte sie daran zu hindern. Das war fast ein Ritual.
Papa hatte während seiner Dienstjahrzehnte alle interessanten Vorgänge aufgehoben. Akten, die auf der Dienststelle niemanden mehr interessierten, hatte er nach Hause geschleppt und archiviert. Der Keller des kleinen Hauses war voll mit Papas Schätzen, die tatsächlich gut sortiert waren. Häufiger hatten jüngere Leute aus dem Dorf dem Sheriff von Gartow, wie er in seiner Stammkneipe respektvoll genannt wurde, angeboten, den Kram zu digitalisieren, Datenbanken und Verzeichnisse anzulegen. Aber das war nicht Papas Ding. Sabine war froh, dass er inzwischen wenigstens ein Smartphone benutzte. Das wichtigste Werkzeug ist das, sagte er immer und tippte sich an die Stirn.
Als Sabine wieder in der Polizeistation eintraf, wurde sie von Melanie Gierke ungeduldig erwartet. Metzger war nicht da. Mittagsschlaf. Daran konnten ihn auch fünf Tote und die halbe Kripo Niedersachsens nicht hindern.
»Schöne Mittagspause gehabt?«, fragte die Gierke schnippisch.
»Ja, danke. Mein Vater ist ein guter Koch. Wenn Sie noch länger in der Gegend bleiben, nehme ich Sie gerne mittags mal mit.«
Die Gierke reagierte nicht auf diese Einladung, die Sabine durchaus ernst meinte, und kam gleich zur Sache.
»Hat die Vernehmung Ihrer Wilderer irgendwelche neuen Erkenntnisse gebracht?« Sie saß gegenüber von Sabines Schreibtisch, hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte mit einem Fuß, der von einer schönen Ledersandale bekleidet war.
»Nur so viel, dass sie nicht Wilderer im engeren Sinne sind.«
»Wie meinen Sie das?«
Sabine erzählte die Wolfgeschichte. Melanie Gierke schien mäßig beeindruckt.
»Und was noch?«, fragte sie und schien zu spüren, dass das nicht alles war.
»Die Männer haben im Wald ein Kind gesehen, jedenfalls behauptet das einer von ihnen.«
»Ein Kind«, sagte die Gierke, und es klang weder wie eine Frage noch verwundert. Sie machte eine kurze Pause. »Das Kind, nach dem Sie in dem Haus gesucht haben.«
Sabine nickte.
»Scheiße«, rief die Gierke und sprang auf. »Soll das heißen, dass da draußen im Wald tatsächlich ein Kind herumirrt und vielleicht sogar ein Wolf?«
»Na ja, das sagt halt einer der beiden. Und besonders glaubwürdig ist der nicht. Das sind Alkoholiker, Frau Gierke.« Sabine hatte schlagartig ein schlechtes Gewissen, dass sie so viel Zeit hatte verstreichen lassen, ohne etwas zu unternehmen.
Melanie Gierke drehte sich wortlos weg, nahm ihr Handy, tippte auf einen Kontakt und feuerte eine Salve an Anweisungen durch die Leitung. Es kamen Worte wie »Hundertschaft«, »Hundestaffel« und »Hubschrauber« darin vor. Wenigstens musste die Gierke nun insgeheim eingestehen, dass Sabines Suche nach einem Kind in der Nacht kein Unfug gewesen war. Als die Gierke ihre Einsatzbefehle abgespult hatte, wandte sie sich wieder an Sabine.
»Ihr überaus engagierter junger Kollege Attila hat nicht nur die Turnhalle der Grundschule für unser Hauptquartier beschlagnahmt und Gästezimmer buchen können, sondern auch den Besitzer des Hofes ermittelt.«
»Und?«, fragte Sabine.
Die Gierke las etwas von ihrem Handy ab. »Heinrich und Greta Kurze sind als Eigentümer eingetragen. Keine Grundschuld.«
Sabine musste grinsen. War es wichtig, dass die Bruchbude abbezahlt war? Sie konnte es sich nicht verkneifen, den Informationsvorsprung, den Papa ihr verschafft hatte, genüsslich zu inszenieren. »Wie schön, dass Heinrich und Greta für den Fall ihrer Wiedergeburt eine irdische Bleibe haben. Die beiden sind nämlich seit 40 Jahren tot.«
»Ups«, machte Melanie Gierke und sie wirkte nicht beleidigt, »dann hat der gute Attila die Recherche wohl mittendrin abgebrochen.«
»Er lernt ja noch«, sagte Sabine und grinste zu Attila hinüber, der an seinem Schreibtisch saß und dem Gespräch der beiden Frauen aufmerksam folgte. Er schaute verlegen.
»Sabine, echt, das steht so im Grundbuch, ich habe mir den Auszug aus Dannenberg faxen lassen.« Attila hielt ein Blatt hoch.
»Ihr faxt noch?«, fragte die Gierke überheblich.
»Wir nicht«, entgegnete Sabine, »Dannenberg faxt.«
»Ohne Quatsch jetzt, Frau Langkafel, wem gehört der Hof, wenn nicht dem toten Heinrich und der toten Greta, und wieso stehen die bis heute im Grundbuch?«
»Die Erklärung ist vermutlich einfacher, als Sie denken«, ertönte Metzgers Stimme, der frisch und ausgeruht in der Tür stand. »Der Erbe muss mit dem Erbschein zum Amtsgericht gehen und das Grundstück umtragen lassen. Tut er das nicht, passiert gar nichts.«
»Also wohnt der Sohn da?«, fragte Sabine.
»Nein«, antwortete Metzger, »muss ja nicht. Er hat das Grundbuch nicht ändern lassen. Also hat er die Immobilie nie verkauft. Das ist alles. Es sagt uns nichts darüber, wer dort wohnt. Das sagt uns höchstens das Melderegister.«
»Nee«, schaltete sich Attila ein, »laut Melderegister wohnt da niemand.«
Kapitel 10
Der Wolf hatte nicht lange in dem Gebüsch gelegen. Der Anblick von Fremden machte ihm bestimmt genauso große Angst wie Sahas. Schon bald war er davongeschlichen und Sahas gebückt hinterher. War es schon Abend? Nein. Der Himmel über den Bäumen war noch hell. Wo wollte der Wolf hin? Er lief so schnell. Bald würde Sahas ihm nicht mehr folgen können.
Jetzt blieb der Wolf stehen und drehte sich um. »Wartest du auf mich, Wolf?« Als Sahas näher kam, setzte der Wolf sich in Bewegung. Der Wald war endlos. Irgendwo hinter dem Wald musste doch die Welt beginnen. So hatten es ihm die anderen erzählt. Die Welt, die so böse und so gefährlich war und vor der ihn alle beschützten.
Der Wolf kroch in ein niedriges Gebüsch hinein. Er war nicht mehr zu sehen. Nach kurzer Zeit kam er wieder heraus und blickte Sahas an. Der Junge bemerkte, dass die Schnauze des Wolfes nass war und Wasser von seiner Nase tropfte. Er hatte getrunken. Nun robbte Sahas in das Gebüsch und stieß auf einen kleinen Tümpel. Er war nicht mal halb so groß wie Sahas Bett, aber es war Wasser. Schwarzes, leicht modrig riechendes Wasser. Sahas kniete sich hin und schöpfte mit der Hand Wasser, das er gierig schlürfte. Es schmeckte nicht so modrig, wie es roch. Wenn der Wolf dieses Wasser trinken konnte, dann war es auch gut für Sahas. Als er keinen Durst mehr hatte, kehrte er zum Wolf zurück.
Das Tier stand nun in einiger Entfernung zum Gebüsch und lauschte. Sahas hörte nichts. Plötzlich lief der Wolf geduckt ein Stück weiter und Sahas folgte ihm. Er war inzwischen geschickter, stolperte nicht mehr so viel. Lernte er von dem Wolf, wie man sich im Wald am besten bewegte? Und war es einfacher, mit vier Beinen zu gehen als mit zwei, oder schwerer?
Sie erreichten einen umgefallenen Baum. Dessen dicker Stamm, er war viel höher als Sahas, lag zwischen den anderen Bäumen wie tot. Am Ende des Baums hing ein riesiger Dreckklumpen, der von dünnen Ästen durchzogen war. Das musste die Wurzel sein. Sahas hatte Wurzeln im Garten bei viel kleineren Bäumen gesehen. Diese Wurzel war hier bestimmt so hoch wie der Schuppen, in dem Oms Auto stand. Der Wolf huschte unter die Wurzel. Er lief immer hin und her, den Blick auf Sahas gerichtet. Was wollte er?
Jetzt hörte Sahas, was der Wolf vermutlich schon lange wahrgenommen hatte: Hundegebell und Stimmen. Da näherten sich Fremde, viele Fremde, so laut, wie es war. Wollte der Wolf, dass sich Sahas hier versteckte? Er ging zu der Wurzel. Darunter hatte sich ein großes, klaffendes Loch gebildet. Ein tolles Versteck. Sahas hatte im Haus mehrere Verstecke, ein ganz besonders gutes. Es war lustig, wenn die anderen ihn suchten und nicht fanden. Aber dieses Versteck hier war nicht lustig. Es war dunkel und dreckig. Sahas kroch trotzdem hinein. Das Loch war nicht so gefährlich wie die Fremden, die sich da mit Hunden näherten.
Es war kühl und ein wenig feucht in dem Loch unter der Wurzel, aber der Sand war schön weich. Sahas dachte, der Wolf würde sich auch dort verstecken, doch er drehte sich um und trat mit den Hinterbeinen Sand in das Loch. Ganz schnell schaufelte er sehr viel hinein. Sahas musste den Kopf wegdrehen und die Augen schließen, um nicht die kleinen Körner ins Gesicht zu bekommen.
Nun war es fast dunkel in der Höhle. Nur durch ein winziges Loch drang etwas Sonnenlicht. Sahas wagte kaum, sich zu bewegen. Der Sandwall, den der Wolf aufgeschüttet hatte, würde sonst abrutschen. Sahas atmete flach und lauschte. Das Hundegebell kam näher. Er hörte viele Schritte auf dem trockenen Waldboden, Stimmen. Aber er verstand nicht, was die Fremden sagten.
Plötzlich wurde das Loch im Sandwall dunkel. Stand da jemand vor der Wurzel? Es klang, als würde ein Hund schnüffeln. Sahas’ Herz schlug schnell. Ob der Hund das auch hörte? Sahas kroch so tief unter die Wurzel, wie es nur ging. Er wusste, wie man sich versteckte, und er wusste auch, wie man leise war. Aber wie konnte man verhindern, dass man roch? Sahas schnupperte an seinen Fingern und an seinem Schlafanzugoberteil. Der Geruch war nur sehr schwach, aber Hunde hatten viel bessere Nasen, das hatte Kamini ihm erklärt. Sie wusste so viel, sie war eine weise Frau. Alles, was Sahas wusste, hatte er von ihr gelernt. Sogar Lesen brachte sie ihm bei. Er konnte es schon ganz gut. Bald würde er die Sachen lesen können, die Kamini abends in ein Heft schrieb. Und Sahas würde bald schreiben lernen, wenn Kamini noch bei ihm war. War sie noch bei ihm? Sahas hatte vergessen, was mit Kamini passiert war.
Das Loch im Sandwall ließ wieder mehr Licht durch. Er hörte, wie die Fremden und die Hunde weiterzogen.
Er würde diese kalte Höhle noch lange nicht verlassen. Das war zu gefährlich. Die Fremden konnten wiederkommen. Durch das Loch drang immer weniger Licht. Es wurde dunkel. Die Nacht brach an. Sollte er besser bis zum nächsten Morgen in dieser Höhle bleiben? Das war zu kalt, und er hatte jetzt schrecklichen Hunger. Unter seinen Händen spürte er das Kribbeln der kleinen Tiere, die unter der Wurzel wohnten.
Wo war der Wolf? Hatte er seinen Freund hier im Versteck vergessen? Oder hatten die Fremden den Wolf entdeckt? Dann hätte Sahas einen Schuss gehört. Er durfte sich keine Sorgen machen, dem Wolf ging es gut. Ganz bestimmt.
Kapitel 11
Die halbe Nacht hatte eine Hundertschaft und eine Hundestaffel den Wald rund um den Tatort durchkämmt und weder einen Wolf noch ein Kind gefunden. Schließlich brachen sie ab. Der Hubschrauber wurde schon zu Beginn der Suche zurückgeschickt. Durch den dichten Wald konnte man aus der Luft sowieso nichts erkennen. Selbst Wärmebildkameras halfen in diesem Fall nicht weiter. Melanie Gierke machte keinen Hehl daraus, dass sie nun nicht mehr an die Geschichte von »Peter und dem Wolf« glaubte, wie sie es nannte, doch Sabine war da noch nicht so sicher. Sie hätte die Suche bei Sonnenaufgang gerne wieder aufgenommen, die Gierke versagte ihre Zustimmung dazu.
Die Kommissarin aus Lüneburg hatte in diesem Fall immer noch die Leitung. Das LKA in Hannover ließ sich zwar fast im Stundentakt über den Stand der Ermittlungen informieren, schickte aber keine Leute. Die Theorie vom erweiterten Selbstmord verfestigte sich, ein flüchtiger Mörder galt als unwahrscheinlich, und so sah man keine Notwendigkeit, von höherer Stelle in die Ermittlungen einzugreifen.
Der Plan war nun, möglichst schnell die Identität der Toten festzustellen. Bisher wusste man nicht mal genau, wem der Hof überhaupt gehörte. Wenigstens hatten die Ermittlungen inzwischen ergeben, dass der Sohn des im Grundbuch eingetragenen und vor fast 40 Jahren verstorbenen Heinrich Kurze mit Vornamen Rainer hieß. Wo er sich aufhielt, war jedoch unbekannt. Im Landkreis Lüchow-Dannenberg und in den angrenzenden Landkreisen Uelzen und Lüneburg war er jedenfalls nicht gemeldet und irgendwelche Verwandten der Kurzes hatten sie nicht auftreiben können.
Sabine hatte sich am Vormittag noch mal im Haus umgesehen und festgestellt, dass es auch kein fließend Wasser gab. Es waren zwar Leitungen vorhanden, aber die waren tot. Das Licht, das sie in der Nacht im Haus gesehen hatte, stammte von einer Gaslaterne. Deren Kartusche war inzwischen leer. Kühlschrank und Herd in der spartanisch ausgestatteten und ziemlich verdreckten Küche wurden mit Gas aus großen Flaschen betrieben.
Hinter dem Haus entdeckte Sabine eine altertümliche Handpumpe. Sie betätigte den Schwengel ein paarmal und schon floss klares, kühles Wasser aus dem Rohr. Es konnte nicht lange in der Leitung gestanden haben.
In einem Bretterverschlag, der von außen ans Haus gezimmert war, befand sich ein Dieselgenerator, der laut Typenschild 20 Jahre auf dem Buckel hatte. Einige Kanister mit Diesel standen daneben und legten die Vermutung nahe, dass mit diesem Aggregat gelegentlich Strom erzeugt wurde.
Der kleine Bauernhof lag mitten in einem dichten Waldstück, von allen Seiten vor Blicken geschützt. Das Grundstück maß vielleicht 100 mal 100 Meter, also einen Hektar. Hinter dem Haus erstreckte sich eine vertrocknete Rasenfläche, auf der ein schwach aufgepumptes Kinderplanschbecken mit schmutzigem Wasser stand. Ein Mann von der Spurensicherung fotografierte das Planschbecken, maß die Wassertemperatur und entnahm eine Wasserprobe. Sabine beobachtete ihn.
»Können Sie feststellen, ob da vor Kurzem einer drin geplantscht hat?«, fragte sie den Kollegen. Der zuckte mit den Schultern.
»Wenn es ein Kind war«, sagte er und lächelte sie freundlich an, »dann hat es bestimmt reingepinkelt. Das lässt sich herausfinden, aber wann das war, ist nicht genau zu bestimmen.« Er sah abschätzend auf das Planschbecken. »Lange kann das Wasser nicht drin sein. Das Becken ist fast voll und bei der Hitze wäre nach ein paar Tagen die Hälfte verdunstet. Und Regenwasser kann es ja auch nicht sein. Es hat schließlich seit vier Wochen nicht geregnet.«
»Danke«, sagte Sabine und lief durch den großen Nutzgarten, der hinter der Rasenfläche begann. Ein typischer Selbstversorgergarten, wie ihn auch Papa bis vor wenigen Jahren hinter seinem Haus bewirtschaftet hatte. Wer sich gut darum kümmerte, könnte seine Familie mit diesem Garten zu einem großen Teil aus eigenem Anbau ernähren. Die meisten Pflanzen – Tomaten, Bohnen, Erdbeeren – sahen jedoch recht armselig aus. Überreife Tomaten lagen verschrumpelt auf dem Boden, die Bohnen ließen die Blätter hängen, die Erdbeerstauden waren gelb. Die Trockenheit der letzten Wochen war gnadenlos, und es hatte sich wohl niemand der Bewohner die Mühe gemacht, die Pflanzen ausreichend zu wässern. Ein Schlauch und ein Anschluss für die Wasserpumpe waren vorhanden.
Sabine ging langsam durch den Garten. Am Rand standen alte Obstbäume: Kirschen, ein prächtiger Apfelbaum, ein Pflaumenbaum. Am Ende der Nutzfläche war eine Reihe von Bohnenstangen aufgestellt, wie eine Wand, die etwas Dahinterliegendes schützen soll. Die Bohnenranken hatten nur wenige Blätter, sodass sie als Sichtschutz nicht taugten. Und hinter den Bohnen erstreckte sich, rechteckig eingerahmt von bewachsenen Bohnenstangen auf allen Seiten, ein Feld mit einer Nutzpflanze, die nicht zur Ernährung gedacht war: Cannabis.
Sabine zwängte sich durch die Bohnen auf die Fläche. Der Kollege, der gerade am Planschbecken gearbeitet hatte, stand nun hinter ihr.
»Da hat der Bauer vor Kurzem geerntet. Hier steht nur noch der schäbige Rest vom Schützenfest«, sagte er.
»Muss man das Zeug nach der Ernte nicht trocknen?«, fragte Sabine.
»Ja. Und auf der anderen Seite vom Haus ist ein kleines Gewächshaus, in dem ein paar Pflanzen hängen. Aber es sind nur sehr wenige. Die Menge, die hier geerntet wurde, haben wir nirgendwo gefunden.«
»Also haben die Bewohner das alles schnell weggekifft?«, hakte Sabine nach und musste über ihre dumme Frage lachen.
»Eher nicht. Es ist zu viel für den Eigenbedarf, das ist eine kommerzielle Produktion, würde ich mal vermuten.«
»Na ja«, sagte Sabine, »von irgendwas mussten die Bewohner hier ja leben. Felder haben sie wohl keine. Aber wenn die ihr Zeug in der Gegend im großen Stil vertickt hätten, hätten wir was davon mitbekommen, da bin ich sicher.«
Sabine unterstützte in der folgenden Stunde die Kollegen beim Abtransport von zahlreichen Beweisstücken aus dem Haus. Dazu gehörte es, die Räume zu fotografieren, bevor die Sachen in Kisten gepackt und in Transporter verladen wurden. Kleidung, eine große Anzahl Bücher und andere Gegenstände, die das Potenzial hatten, mehr über die Bewohner zu erzählen, sollten intensiv untersucht werden. Das ging an einem neutralen Ort besser als in diesem recht chaotischen Haus, in dem die Luft mehr Staub als Sauerstoff enthielt. Die Leichen waren längst abgeholt worden und wurden in der Rechtsmedizin in Hannover untersucht. Von dort gab es 36 Stunden nach dem Auffinden noch keine Erkenntnisse.
In der Turnhalle der Grundschule in Gartow, wo Melanie Gierke mit ihrem Team ihr Hauptquartier bezogen hatte, waren Tische aufgebaut, auf denen die Plastikkisten aus dem Haus gestapelt und ausgepackt wurden.
Als Sabine in der Turnhalle ankam, sprach die Gierke gerade mit einem sehr großen, dünnen Mann. Es war der Schulleiter Klaus-Dieter Mannstein, den Sabine gut kannte. Es war gleich zu erkennen, dass die beiden stritten. Sabine ging vorsichtig auf sie zu. Melanie Gierke gab ihr ein Zeichen, dass sie kurz warten solle.
»Zwei bis drei Wochen, sagen Sie«, maulte Mannstein die Kommissarin gerade an. »Das geht doch nicht, die Kinder müssen Sport machen, die drehen mir sonst durch. Ach, hätte ich mich bloß nicht breitschlagen lassen.«
»In einer Woche sind sowieso Ferien, und bis dahin können sie auf den Sportplatz gehen, das Wetter ist schön«, verteidigte die Gierke ihr Hauptquartier, und Sabine sah ihr an, dass sie überhaupt keine Lust auf diese Auseinandersetzung hatte.
»Schön?«, empörte sich Mannstein. »Es sind 30 Grad. Da schicke ich niemanden auf den Sportplatz. Und wenn Sie mit Ihrer Truppe in den Ferien immer noch hier sind, muss ich dem Hausmeister den Urlaub streichen.«
»Es tut mir leid«, sagte die Gierke genervt. »Es geht nicht anders. Sie wissen ja, was passiert ist, und Sie werden verstehen, dass wir hier jede Minute und jede Energie brauchen.«
»Klaus«, mischte sich nun Sabine ein, der Mann grüßte sie wortlos, »geht doch mit den Kindern schwimmen. Das ist auch Sport, und der See liegt vor der Haustür.«
»Ach, Sabine, wenn das alles so einfach wäre, ihr habt ja keine Ahnung«, sagte der Schulleiter und zog grummelnd ab.
»Danke«, sagte die Gierke zu Sabine und es klang sarkastisch, »ohne Sie müsste ich jetzt bestimmt nachsitzen. – Was führt Sie zu mir?«
»Ich führe etwas zu Ihnen«, sagte Sabine und zeigte auf weitere Kisten, die die Beamten gerade in einer Ecke der Turnhalle stapelten, weil auf den Tischen kein Platz mehr war. »Das sind Sachen aus dem Haus, die uns vielleicht weiterbringen.«
»Uns?«, fragte die Kommissarin mit hochgezogenen Augenbrauen und ging gefolgt von Sabine auf die verschlossenen und gestapelten Plastikboxen zu. Melanie Gierke betrachtete die Sachen skeptisch. Sie dachte nach. Dann hatte sie offenbar einen Plan. »Okay, wir machen es so: Alles, was uns Hoffnung auf DNA-Spuren gibt, schicken Sie direkt nach Lüneburg ins Labor …«
Sabine unterbrach sie. »Das ist alles getrennt. Ungewaschene Kleidung, Zahnbürsten, Handtücher, Bettlaken, Abfälle, benutztes Geschirr aus der Küche und diesem Bunker im Keller, herumliegender Müll und solche Sachen sind hier schon gar nicht mehr dabei. Sie sind bereits auf dem Weg nach Lüneburg.«
Die Gierke nickte anerkennend und Sabine konnte sich gegen ein Gefühl des Stolzes nicht wehren.
»Gut, haben Sie Zeit?«, fragte die Gierke.
»Ich habe zufällig gerade keine weiteren Mordfälle auf meinem Schreibtisch. Ist ein ruhiger Tag.«
Die Gierke lächelte. »Dann schauen Sie sich das ganze Zeug doch mal an. Vielleicht finden Sie etwas, das uns weiterbringt. Ich komme später dazu. Jetzt habe ich erst mal eine Videokonferenz mit der Rechtsmedizin in Hannover.«
Sabine machte sich umgehend an die Arbeit. Es gefiel ihr, nun Teil des Teams zu sein. Sie sah sich Innenaufnahmen des Hauses an, die ausgedruckt an einer Stellwand hingen. In jedem Raum hatten Bilder von indischen Gottheiten und Tempeln an den Wänden gehangen. Es gab auch kleine Figuren aus Gips oder Ton, die sicher ebenfalls irgendwelche Gottheiten darstellten. In fast jedem Zimmer hatten sie außerdem ein Foto von diesem bärtigen Guru gefunden.
Was auffiel: Die Bilder, Poster und Figuren waren alle alt, die Farben verblichen. An manchen Skulpturen waren Teile abgebrochen. Viele der Poster waren an den Ecken eingerissen und offenbar mit zahllosen Klebestreifen immer wieder fixiert worden. In mehreren Zimmern waren die Bilder von der Wand gefallen und lagen eingestaubt auf dem Boden. Die Spiritualität schien in diesem Haus keine so große Rolle mehr gespielt zu haben.
In der ersten Kiste, die Sabine sich vornahm, waren Dinge aus dem Kinderzimmer. Wie es aussah, gab es kein weiteres Kinderzimmer im Haus. Es waren noch mehr Bücher in der Kiste. Schulbücher. Eine Fibel, Rechenbücher für verschiedene Klassen, ein Lesebuch und noch zahlreiche andere. Sie waren alle für die Grundschule und, das war besonders bemerkenswert, sehr alt. Sabine suchte in einigen nach den Jahreszahlen ihres Erscheinens. 1977, 1981, das neueste Buch war von 1983. Es hatte einen Stempel der Kreisbibliothek Dannenberg sowie eine Ausleihkarte darin und hätte am 22. September 1986 zurückgegeben werden müssen.
Vielleicht lag Melanie Gierke mit ihrer Annahme nicht falsch, dass das Kind vor langer Zeit ausgezogen war. Vielleicht war es aber auch unter den Opfern. Wer in den 80ern in der Grundschule war, musste heute um die 40 sein. Könnte passen. Das erklärte allerdings immer noch nicht die Gummistiefel. Die würde niemand über 30 Jahre lang ungenutzt an der Garderobe stehen lassen.
Eine weitere Kiste enthielt die CDs und VHS-Kassetten, die Sabine im Arbeitszimmer aufgefallen waren. Ein paar Familienfilme aus den 80ern, viele Naturdokus. Dieses Material würde sie später genauer durchgehen. Doch jetzt zog ein alter Aktenkoffer ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die durchsuchenden Beamten hatten ihn eher zufällig hinter einem Kleiderschrank in einem der Schlafzimmer gefunden. Er war schwarz, hatte eine Metalleinfassung und war mit einem Zahlenschloss gesichert. Auch der Aktenkoffer schien aus einer anderen Zeit zu stammen. Sabine hatte so ein Ding bisher nur in alten Agentenfilmen gesehen, wo diese Koffer gerne mit Handschellen an ihren Boten gekettet waren. Sie spielte an dem Schloss herum, aber um eine vierstellige Kombination durch Probieren herauszufinden, würde sie ewig brauchen. Sie winkte den beiden Beamten zu, die gerade schwitzend die letzten Kisten in die Turnhalle trugen, und hielt ihnen den Koffer hin. »Hey, bekommt ihr das Teil auf? Ich habe die Nummer vergessen.«
Die Männer, ungefähr in Sabines Alter, setzten sofort die Kisten ab und liefen zu ihr.
»Klar, kein Ding«, sagte einer von ihnen großspurig, nahm ein Universalwerkzeug vom Gürtel und machte sich an den Verschlüssen des Koffers zu schaffen. Er rutschte ständig ab, verkratzte den Koffer ordentlich, kam aber nicht weiter. Dann übernahm der Kollege. Er holte aus einer Werkzeugkiste einen großen Schraubenzieher, mit dem er ähnlich wenig ausrichten konnte. Sabine beobachtete sie grinsend. Es war ihnen offensichtlich peinlich, dass sie unter ihren Augen an der einfachen Aufgabe scheiterten.
»Wartet mal«, sagte einer von ihnen schließlich. »Ich habe eine Idee.« Er verließ die Halle und kam kurze Zeit später mit einem Winkelschleifer wieder. Nachdem er eine Steckdose gefunden hatte, machte er sich mit dem Gerät an den Schlössern zu schaffen. Funken schossen in Strahlen durch die Halle, es roch nach verbranntem Plastik.
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