Kitabı oku: «Alles schick in Kreuzberg», sayfa 3
Scheiß Rechtsstaat
Ich liebe die Notaufnahme im Urban-Krankenhaus. Wenn man dort ist, geht es einem schon gleich besser. Nicht wirklich natürlich, aber im Vergleich zu den anderen, die auch in der Notaufnahme des Urban-Krankenhauses liegen. So schlecht, dass ich ununterbrochen ein schluchzendes Heulen in höherer und einen durchaus zum Abtöten von Nerven geeigneten Ton von mir geben würde, geht es mir jedenfalls nicht. Still liege ich auf der Pritsche und warte auf den Arzt. Das tun alle hier.
In der Nähe sitzt ein Mann auf dem Bett. Neben ihm ein Sanitäter, der ihn hierher gebracht hat. Der Sanitäter sagt: »Nu leng Se sich mal hinne und sitzen Se nicht wie ‘n Schluck Wasser in der Kurve. Wer weiß, wann Se wieder so’n bequemes Bett kriegen.« Der Arzt kommt. Nicht zu mir, sondern zum Schluck Wasser in der Kurve.
Der Arzt sagt: »Haben Sie getrunken?«
Der Schluck Wasser in der Kurve sagt: »Ob ich jetrunken habe? Na sicha hab ick jetrunken. Seit zwee Wochen schon. Is doch scheißkalt draußen.«
Der Arzt nickt. Kälte ist ein guter Grund zu trinken.
Im Zimmer nebenan schreit ein Mann: »Das Arschloch hat mich angespuckt. Der hat Aids. Sie müssen mir sofort Blut abnehmen. Und dem Arschloch auch.«
»Wir können dem anderen kein Blut abnehmen«, sagt eine Arztstimme.
»Wieso nicht? Hat doch Aids!«
Die Arztstimme wieder: »Wir können nicht einfach jemandem Blut abnehmen, wir leben in einem Rechtsstaat.«
»Scheiß Rechtsstaat«, sagt die aufgebrachte Stimme. »Dem muss Blut abgenommen werden. Hat mich angespuckt.«
Der Arzt sagt nichts mehr. Die aufgebrachte Stimme aber ramentert weiter. Nach einer Viertelstunde verliert der Arzt die Contenance. Er sagt: »Jetzt halten Sie endlich die Klappe. Ich musste gerade jemanden einen Finger amputieren. Der ist viel schlimmer dran als Sie.«
Besser als das Urban war da nur die Notaufnahme in Harlem. Da wurden Leute mit Schusswunden eingeliefert. Ein amputierter Finger war da eine Lappalie.
Versuchte Vergewaltigung
Vor dem »Pavillon Prisma« an der Kottbusser Brücke esse ich eine Teigtasche mit Käse und Ei und lese zum Nachtisch ein Manuskript, aber ich komme über die ersten zwei Seiten nicht hinaus, weil sich ganz in der Nähe eine dicke Frau mit stufig geschnittenen blondierten Strähnen niederlässt. Naja, deswegen eigentlich weniger, aber sie hat einen dünnen glatzköpfigen Mann im Schlepptau. Er ist Pokerspieler. Ich dachte, die würden schweigen und ein Pokerface aufsetzen, aber der redet ununterbrochen auf sie ein.
»... sacht die, dass se in nem Bio-Laden arbeitet. Da musste ick wieder lachen. In nem Bio-Laden! Wenn se in ner Bäckerei gearbeitet hätte, hätt ick ja normal jefunden, aber Bio-Laden! Sacht die zu mir, wir könnt’n ja zusamm mit nem Taxi heimfahren, aber Geld hätt se keens. Sach ick, is jut, wa, aber ick loof ma lieber. Hab’s ja ooch nicht so dicke. Ick also los. Zwee Ecken weiter kommt ‘n Auto neben mir zu stehen. Janz normales Auto. Ick denk mir erstma nix dabei. Spring zwee Zivis raus, ziehn ihre Knarren, stelln mir an die Wand, Beine breit, wa, Handschellen, det janze Programm. Geben se durch ‘n Funk: Wir ham ihn. ›Was ’n jetzt los?‹, frag ick. Sacht der eene zu mir: ›Versuchte Vergewaltigung.‹ Sach ich: ›Wat? Ick soll der Frau an die Wäsche jegangen sein? Das is ja wohl der Witz des Monats.‹ Kommt ‘n Bullenwagen mit der Frau anjerauscht. ›Ja, das isser‹, sacht die. ›Wenn ick dir hätte verjewaltigen wollen, hätt ick dir ja wohl nicht meene Adresse gegeben.‹ Weeßte ja, Steglitzer Damm neben Drospa. ›Und außerdem könnt ihr doch selber gucken, is doch alles uff’m Video vonner U-Bahn drauf. Seien se mir nicht böse, wa, aber Sie sind nicht nach meem Jeschmack.‹ Sacht die wieder: ›Aber der roocht Haschisch.‹ Ich sach: ›Jetzt hör doch ma uff.‹ Die Bullen kieken sie an, kieken mich an. Sacht der eine: ›Na, dann is ja alles Bestens, dann könn’ Se jetzt ja nach Hause gehen.‹ Sach ich: ›Moment ma! Sie fahrn mich jetzt mal schön nach Hause. Ick bin jetzt fix und alle nach der Uffregung.‹ Sacht die Alte: ›Och, da fahr ick doch mit.‹ Denk ick, jetzt werd ick die Alte schon wieder nicht los. Die Bullen fahrn mich also nach Hause, halten an, sacht die Alte: ›Och, da steig ick doch auch gleich mit aus.‹ Ne, denk ick, det darf ja jetzt wohl nicht wahr sein. Uff der Straße sacht se: ›Jetzt bleim Se doch ma stehn. Ick möchte mir nämlich janz herzlich bei Ihn entschuldijen. Ick hab zu Hause noch ne Flasche Wein. Wolln se nicht mitkomm?‹ ›Nene‹, sach ich, ›muss morgen früh raus.‹ Zwee Stunden später klingelt’s an der Tür, steht se da mit ner Torte und nem Blumenstrauß. Platzt mir der Kragen. Sach ick: ›Jetzt is aber mal jut, ick komm mit dicken und fetten Menschen nicht klar, die stinken mir zu sehr.‹«
Die dicke Frau mit den blondierten Strähnen zieht an einer Zigarette und nickt verständnisvoll.
Ein bisschen mehr Distanz
Oh Gott, ich bin alleinerziehend! Für einen Tag. Nur?, werden einige müde lächeln, aber auch ein Tag muss erstmal rumgebracht werden. Fup will mit seinem »Morad« raus, das heißt übersetzt Motorrad, ist aber nur ein Laufrad. Bitte schön. Raus ist immer gut. Nur mit der Richtungsangabe gibt es in der Regel kleine Differenzen, denn wenn ich sage: »Da lang«, dann sagt Fup grundsätzlich: »Nein, da lang.« Mein »da lang« und sein »da lang« hören sich zwar gleich an, bezeichnen aber unterschiedliche Richtungen.
Da ich nichts vorhabe, sage ich nicht »da lang«, sondern: »Du bist der Bestimmer. Wohin willst du?« Fup hat da eine ganz bestimmte Vorstellung. Ich bin gespannt, wohin er mich führt. Er führt mich stracks zum Kottbusser Tor. Einmal rund um den Platz, bis er den Aufgang zur Hochbahn entdeckt. Er will U-Bahn fahren. Nein, U-Bahn ist nicht drin. Na gut, dann weigert er sich eben, überhaupt weiterzugehen.
Also stehen wir vor der Ampel. Die Leute um uns herum gehen bei grün über die Straße. Bei rot natürlich auch. Wir aber bleiben stehen wie zwei kleine Felsen in der Menschenbrandung. Dann fährt Fup unter der Hochbahn entlang, wo das Pflaster flächendeckend mit Taubenscheiße bedeckt ist. Er fährt weiter auf die Verkehrsinsel, inspiziert einen Sandhaufen und radelt dann weiter zu Kaiser’s durch die offene Tür zum Tresen der Backwarenabteilung, wo er sich von seinem Erziehungsbeauftragten eine Salzstange kaufen lässt.
Vor dem Eingang von Kaiser’s bleibt er stehen und isst. Direkt vor den Alkis. Zwei schreien sich an. Der eine sieht sehr derangiert aus, mit Bart, Augen auf Halbmast und einer verranzten Jacke. Der andere hat zu große Jeans an, und sein Gesicht befindet sich sehr nah vor dem Gesicht des anderen.
»Schon mal was von Distanz gehört? Ein bisschen mehr Distanz! Das ist ja wohl nicht zuviel verlangt«, sagt der bärtige Mann sehr sehr laut.
Der andere schreit zurück: »Scheiß Distanz, du weißt doch gar nicht, was das ist!«
Ein dritter stürzt herbei: »Jetzt seid doch mal nicht so laut.«
Fup guckt und mümmelt an seiner Salzstange. Der Schlichter gesellt sich zu einem Schwarzen mit Bierdose. Dann kommt er zurück und sagt: »Das Arschloch will mir sein Handy nicht geben. Ick muss ne ganz wichtige SMS verschicken. Is echt wichtig.« Und zu dem Schwarzen, der Biernachschub holt: »Fick doch deine Weiber.«
Fup guckt, isst und steht den Leuten im Weg. Ich auch. Wieder schreien sich die ersten beiden Alkis an. Es geht um das beschissene Leben im Allgemeinen. Der Schwarze ist wieder zurück. Der eine Schreihals schleicht sich von hinten an ihn ran und bewegt sein Becken vor und zurück.
Fup hat genug. Er fährt wieder nach Hause. Mit einer Hand. In der anderen hält er immer noch seine Salzstange.
Trotzki im gentrifizierten Bezirk
»Nein, da lang«, sagt Fup, und dagegen ist nichts zu machen. Dann eben da lang. Er läuft mit seinem Laufrad zur Admiralbrücke zu einer bestimmten Ecke. Dort ist ein Tapeziertisch aufgestellt, der mit einem roten Tuch geschmückt ist. Darauf steht schwarz »RSO«. Man sieht sofort, dass es sich um was Revolutionäres handelt, wegen der fetten Futuraschrift.
Hinter dem Tisch sitzen auf der Brückenmauer sechs junge Frauen unter zwanzig. Ein paar stehen daneben. Sie tragen, was junge Frauen in diesem Alter so tragen, und da es ein warmer Tag ist, nicht übermäßig viel. Die Garderobe ist bunt. Einige haben eine Sonnenbrille auf. Sie unterhalten sich. Niemand nimmt von mir Notiz. Oder von Fup.
Auf dem Tisch liegen Flugblätter mit einem roten Stern, auf denen »Gemeinsam kämpfen« steht. Es geht über die Berlinwahl 2011. 2011? Ist das nicht schon ein bisschen her? Hier werden also ein Jahr alte Flugblätter angeboten. Und Broschüren, die wahrscheinlich noch älter sind und »Kapitalistisches Elend und sozialistische Antworten« und »Grundsätze der RSO« heißen. Aber was heißt eigentlich RSO? Ich rate: »Revolutionäre Sozialistische Organisation«. Treffer. Na gut, war jetzt auch nicht wirklich schwer.
Die RSO steht, wie ich einem Faltblatt entnehmen kann, »in der Tradition der um Leo Trotzki formierten ›Linken Opposition‹ gegen den Stalinismus« und bezieht sich »positiv auf die russische Oktoberrevolution von 1917«, die »mit der stalinistischen Degeneration in den zwanziger Jahren gescheitert« ist.
Ich bin beeindruckt. Ein Hauch von hundert Jahre alter Geschichte umweht mich in einem fast vollständig durchgentrifizierten Bezirk mitten unter den Touristen, die alle ungefähr im gleichen Alter sind wie die Frauen hinter dem Tapetentisch, und die glücklich und zufrieden auf dem Pflaster der Brücke liegen und Pizza aus Pappschachteln essen.
Fup fährt den Kanal weiter an der Synagoge vorbei. Ein Ausflugsschiff kommt und Fup winkt. Die Leute auf dem Schiff winken zurück. Der Ausflugsschiffmoderator sagt gerade: »Und hier sehen sie einige Häuser, die abgerissen werden sollten. In den achtziger Jahren wurden sie dann besetzt und von den Besetzern instandgesetzt. Vielleicht war es ja ganz gut, dass es die Besetzer gab.« Die Besetzer gibt es nicht mehr, aber die Revolutionäre Sozialistische Organisation gibt es noch. Irgendetwas hat das bestimmt zu bedeuten, aber ich komme nicht drauf, was.
Bierflaschenverbot in Kreuzberg
1. Mai. Es ist schwül. Das ruft offenbar sehr widersprüchliche Gefühle hervor. Fup trifft eine Freundin, die gerade getauft worden ist. Gut, dass Fup nicht weiß, wovon die Rede ist, sonst würde er das auch wollen. Obwohl, wenn man ihm sagen würde, dass er da Wasser über den Kopf gekippt kriegt, wäre diese Sache schnell vom Tisch. Die Eltern wollen schnell nach Hause, um nicht in die Krawalle zu geraten.
Welche Krawalle? Das muss erforscht werden. Fups Freund Vico will auch mit, um »ein paar Steine zu schmeißen«. Sagt die Mutter, aber dann schläft er ein, und wir müssen allein losziehen.
In der Admiralstraße sagt ein Mann: »Das ist ja verantwortungslos mit dem kleinen Kind.«
»Ist es schon so schlimm?«, frage ich. Aber der Mann ist schon weiter.
Wir gehen die Skalitzer Straße lang. Hinter einem stabilen Eisengitter hat es sich eine türkische Familie auf Campingstühlen bequem gemacht, grillt und guckt das Spektakel, das ein wenig spannender ist als die Nachrichten heute, in denen fünf Minuten lang Leute zum Wetter auf Langeroog befragt wurden. Und fünf Minuten können sich ganz schön ziehen. Da ist man dann schon froh, wenn man wenigstens 1. Mai gucken kann.
Unter der Linie 1 paradieren viel zu warm angezogene Polizisten, während ihnen eine düsenjägerlaute Rockband im Weg steht. Nadja sagt jede Minute einmal: »Was für eine Freak-Show.« Manchmal auch öfter. Sehr viele junge Menschen sind unterwegs, in sehr unterschiedlicher Garderobe, mit proletarischem Schick, aber alle haben ein iPhone am Ohr und brüllen hinein, dass die Oranienstraße voll sei und dass sie gerade da sind, wo sie sind.

Auf der Wade einer dicken Frau bewundere ich ein Pin-Up-Tattoo. Immerhin mal ein Tattoo mit klaren Konturen. Meistens kriegt man gar nicht mehr raus, was das Tattoo überhaupt darstellen soll.
Alle tanken Bier aus Plastikbechern, denn es wurde ein Bierflaschenverbot über Kreuzberg verhängt, wie mir ein türkischer Bierverkäufer sagt, der mich ständig mit »Mein Herr« anredet.
In der Lausitzer Straße kommt uns eine Frau in einem langen schwarzen, sehr eleganten Abendkleid entgegen. Sie geht Richtung Reichenberger Straße. Sollte sie zur revolutionären 1. Mai-Demo gehen wollen, trägt sie jedenfalls nicht die vorgeschriebene Garderobe, denke ich.
Nach Einbruch der Dunkelheit um 22 Uhr 30 inspiziere ich noch einmal die Sachlage im ehemaligen Kreuzberg 36. Am Kottbusser Tor gegenüber vom »Südblock« steht eine Gruppe von zwanzig Polizisten in Kampfpanzern und in Schildkrötenformation. Sie stellen eine kleine Insel dar in einem Meer aus ziellos umherstreunenden Touristen, Partygängern, Schaulustigen wie ich, Großstadtnomaden und türkischen Familien. Die Türken bestaunen das Volk, wie man eben schräge Vögel bestaunt, die man sonst nur aus irgendwelchen TV-Dschungelcamps kennt. Auch die Polizisten in Schildkrötenformation werden bestaunt, aber da sie sich kaum bewegen, werden sie schnell uninteressant.
Vor dem »Südblock« sitzen die Leute und lassen es sich gutgehen. Und auch der türkische Imbiss mit Tischen davor ist bis auf den letzten Platz besetzt, also die Tische natürlich, nicht der Imbiss. Umzingelt von lauter eher gut gelaunten Menschen, könnte ich mir vorstellen, dass es den Polizisten mit der Zeit schwerfällt, den Feind zu identifizieren, oder an ihn ganz fest zu glauben. Kommt er heute noch? Oder ist er wo ganz woanders, der steinewerfende Chaot? Ich beneide die Polizisten nicht.
Am Görlitzer Bahnhof, wo vor 25 Jahren Bolle brannte und heute eine Moschee ein eher unauffälliges Dasein fristet, steht vor »Angry Chicken« ein Bus, aus dem Techno wummert. Davor klumpt eine Menschenmenge zusammen.
Orte, wo es laut ist und Platznot herrscht, scheinen eine besondere Anziehungskraft auf junge Menschen auszuüben. Ein Phänomen, das ich nicht verstehe, aber das irgendwas mit dem Todestrieb zu tun haben muss, denn wie es aussieht, wollen alle noch einmal an den Erfolg der Duisburger Love Parade anknüpfen. Dazu fehlt jedoch der nötige Tunnel.
Da ich kein intelligentes Leben entdecken kann, verlasse ich die Partymeile und suche in der Ohlauer Straße mein Lieblingscafé auf. Hier sind die Stimmen und die Musik gedämpft. Black Swan singen passend zu meiner Stimmung leise düstere Songs, die sich nach Nick Cave anhören. Leute sitzen vor der Tür. Ich hocke auf einem Barhocker allein am Tresen und schaue nach draußen. Gegenüber im ersten Stock brennt noch Licht. Ein großes Fenster gewährt großzügig Einblick. Der Raum scheint leer zu sein, es sind keine Möbel zu sehen, und die Wände sind weiß und kahl. Nur ein Mann hüpft durch das Zimmer mit einem Tuch, mit dem er Jagd auf eine Fliege macht. Jedenfalls nehme ich das mal zu seinen Gunsten an.
Occupy und Biennale
Die Biennale hat eröffnet. Da muss ich als Kunstsachverständiger, der wir ja alle irgendwie sind, unbedingt hin. Aber der Weg ist beschwerlich. Die U8 bleibt vor der Jannowitz-Brücke stecken. Ich sehe besorgt hoch. Vor mir sitzt eine Frau. Ihr apathischer Gesichtsausdruck beruhigt mich. Dann geht auch noch das Licht aus. Die Frau nimmt das gar nicht zur Kenntnis. Der U-Bahnfahrer gibt durch: »Keene Panik. Geht gleich weiter.« Stimmt sogar. Trotzdem gut, dass ich keine Fahrkarte habe. Zwei Euro dreißig wären für diesen Service jedenfalls überbezahlt.
In der Auguststraße verdichtet sich das Volk der Künstler. Die Gehsteige sind mit Fahrrädern vollgestellt, so dass man als Fußgänger die Straße benutzen muss. Ein Palästinenser, den ich als Palästinenser identifizieren kann, weil er sich ein Palästinensertuch um den Kopf geschlungen hat und unrasiert ist, steht in der Straßenmitte und lässt ein Erinnerungsfoto von sich machen.
Vor dem Tor der »Kunstwerken« herrscht Großauflauf, und ich stecke mittendrin. Ein Mann mit Glatze und nicht ganz so groß wie das Brandenburger Tor, aber ungefähr so breit, sagt: »Moment mal«, und schneist sich durch die Leute, die sich wie Grashalme nach links und rechts biegen. Security, denke ich, aber auf was will der Mann aufpassen? Auf Occupy?
Die hat sich in einem großen Raum niedergelassen. Geht man von dem mit Kunstsachverständigen vollgestellten Hinterhof ins Gebäude, kommt man auf eine Brüstung, von der aus man nach unten auf Occupy gucken kann. Eine schöne Aussicht.
»Sieht ein bisschen so aus wie früher im Büro eines linken Asta«, sagt ein Kunstkurator aus Frankfurt zu mir. Er fürchtet, dass er zu alt ist, um das zu verstehen. Das ist auch gar nicht so einfach, denn der Raum ist ja nicht besetzt, sondern zur Verfügung gestellt. Man tut also nur so. Vielleicht besteht darin ja die Kunst? Occupy als Performance und mit Erlaubnis des Kurators. Es steht sogar ein großes Zelt da, aber dass es hier regnen wird, ist sehr unwahrscheinlich. Es sitzen zwei Leute drin und gucken raus.
An einem großen Tisch mit vielen Flugblättern, Plakaten und sonstigem Papier, auf dem meistens was gemalt ist, und zwar Parolen wie »Occupy« oder »Revolution«, ist eine Frau mit roter Steppjacke sehr beschäftigt, unter anderem mit dem Verrücken von Regalen, in dem sich außer bedrucktes und beschriftetes Papier auch T-Shirts befinden. Sie sieht sehr ernst aus und hat einen verhärmten Gesichtsausdruck. Früher war sie sehr berüchtigt. Wenn sie mit ihrer weinerlichen Stimme auf politischen Veranstaltungen der Autonomen das Wort ergriff, wurde das meistens als Zeichen gewertet, jetzt mal so langsam aufzubrechen und ein Bier trinken zu gehen. Ich schätze, dass sie einen sehr unnachgiebigen und harschen Antiimperialismus vertreten hat, aber um das beurteilen zu können, habe ich ihr zu wenig zugehört.
Ein oder zwei gefühlte Jahrzehnte später traf ich sie wieder, auf einer Diskussionsveranstaltung im »Tempodrom«, wo Henryk M. Broder und Wolfgang Pohrt diskutierten. Sie verteilte vor dem »Tempodrom« Flugblätter, und als sie mich sah, sagte sie, ich sei vom Verfassungsschutz und daran würde man ja sehen, was das für eine Veranstaltung sei, nämlich eine vom Verfassungsschutz unterwanderte, wenn nicht sogar finanzierte Veranstaltung.
Es rührt mich ein wenig, sie hier wieder anzutreffen und sie verfassungsschutzmäßig zu beobachten, wie sie geschäftig die Inszenierung von Occupy betreibt. Sie erkennt mich nicht wieder. Ihr Sensorium für Verfassungsschützler scheint nachgelassen zu haben. Schade eigentlich.
Die Kunstsachverständigen und Künstler, mit denen der Hinterhof vollgestellt ist, trinken Bier und rauchen. Das tue ich auch. Überall wird englisch geredet. Auch ich mache das, dabei verstehe ich immer nur die Hälfte. Also nicht von dem, was ich sage, sondern von dem, was ich höre.
Ich stehe mit einer Frauenkünstlergruppe zusammen, die sich »Der Strich« nennt. Das ist symbolisch, lasse ich mir erklären. Das Verhältnis zwischen Freier, Hure und Zuhälter sei das gleiche wie zwischen Künstler, Sammler und Aussteller. Das gibt mir zu denken, aber nicht viel.
Dann gesellt sich eine ganz kleine Künstlerin zu uns, die mir ungefähr bis zum Bauchnabel geht. Sie malt ganz kleine Bilder, Miniaturen, nicht größer als eine Briefmarke, sagt sie auf Englisch. »That fits good«, kalauere ich in einem unkontrollierten Moment vor mich hin, aber die kleine Künstlerin versteht mein schlechtes Englisch nicht. Sie wahrscheinlich auch nicht, weshalb ich mal besser die Übersetzung mitliefere: »Das passt doch gut.«
Ich gehe dann mal lieber nach Hause.
Murakami und Cem Özdemir
In der Dieffenbachbachstraße hat ein Möbeldesignladen aufgemacht und schräg gegenüber, wo ganz früher Edeka drin war und später ein Weinladen, den die rotnasigen Betreiber ganz allein ausgetrunken haben, wird schon seit geraumer Zeit renoviert. Auf einem dezenten Schild steht »Hidari Zingaro Berlin«. Sagt mir natürlich nichts, aber ein Kunstkurator aus Frankfurt weiß sofort Bescheid. »Murakami« flüstert er schwer beeindruckt. Und tonlos wie Robert de Niro. Murakami sagt mir aber auch nichts. Der Kunstkurator erklärt mir: »Das ist eine japanische Gelddruckmaschine.« Wenn der sich hier mal nicht verirrt hat, denke ich.
Aber die Gentrifizierung macht nicht nur in Video, sie joggt auch, und zwar in Form junger Frauen mit Speck und ohne, und in Form von Müntefering, der keinen hat. Sein Heroismus rührt mich, und ich schaue ihm bewundernd hinterher, wie er sich schon früh am Morgen schleichend über das Pflaster quält.
Ein weiteres Mosaiksteinchen im Gentrifizierungstableau heißt Cem Özdemir, aber der schleicht nicht übers Pflaster, sondern über den Spielplatzsand. Dort telefoniert er hinter vorgehaltener Hand, was sehr verschwörerisch aussieht, und wer weiß, vielleicht erkundigt er sich nach dem Stand seiner Freiflugkilometer und muss darauf achten, dass eventuell anwesende Lippenleser nicht alles mitkriegen und dann ausplaudern. Wenn er sein Handy nicht ans Ohr hält, dann sieht er es verliebt an. Manche Leute suchen sich merkwürdige Orte aus, um mal so richtig ausgiebig zu telefonieren.
Ich gehe nach Hause und gucke aus dem Fenster. Auf dem Gehweg hat sich eine Gruppe von sechs Elfjährigen zusammengerottet. Einer hält eine Zigarette in der hohlen Hand, zieht verstohlen daran, und gibt sie dann weiter. Der nächste macht es genauso. Dabei kichern sie, knuffen die anderen und gucken sich verschwörerisch um. Fast so wie Cem Özdemir.
Als sie merken, dass sie beobachtet werden, streckt mir einer den Mittelfinger entgegen. Dann ziehen sie weiter. An der Zigarette. Aber auch Richtung Eisdiele. Von denen wird sich keiner einen Murakami angucken. Und Cem Özdemir halten sie wahrscheinlich für eine neue Döner-Sorte.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.