Kitabı oku: «Klaus Mann - Das literarische Werk», sayfa 60
Seit einem Jahr flehte sie ihn an, er solle arbeiten. Sie litt unter seiner Erstarrung, sie ertrug nicht seine verzweifelt grübelnde Tatenlosigkeit. Sie bewunderte ihn, sie hielt ihn für den Größten unter den Lebenden, sie wollte ihn nicht am Rande der Geschehnisse sehen, sondern in ihrem Zentrum: wirkend, eingreifend, die Welt zur Besinnung rufend, alarmierend. Aber er antwortete ihr:
»Was soll ich noch schreiben? Ich habe alles gesagt. Ich habe alles vorausgewußt. Ich habe den Schwindel entlarvt. Ich habe die Fäulnis gerochen. Wenn du ahntest, mein Kind, wie schwer erträglich es ist, so furchtbar recht zu behalten. Meine Bücher sind so vergessen, als seien sie nie geschrieben worden. Meine gesammelten Werke hat man verbrannt. Meine ungeheuren Prophetien scheinen im Wind verhallt – und doch ist alles, was heute geschieht, der ganze unsägliche Jammer, nichts als ein geringes Nachspiel, ein Satyrspiel zu meinem prophetischen Werk. In meinem Werk steht schon alles, in ihm ist alles vorweggenommen, auch das, was sich erst noch zutragen wird – das Schlimmste, die finale Katastrophe. Ich habe es schon durchlitten, ich habe es schon geformt. Was soll ich denn jetzt noch schreiben? Ich trage das Leid der Welt. In meinem Herzen spielen alle Zusammenbrüche sich ab, die gegenwärtigen wie die zukünftigen. Ich – ich – ich …« Über diesen drei Buchstaben, über diesem »Ich«, in dem sein halb verwirrter Geist sich verfing wie in einer Falle, verstummte er. Sein Haupt, das die furchtbaren Leiden verschönt hatten – es schien jetzt feiner, zarter und strenger gebildet; genauer durchgearbeitet als ehemals – sank ihm nach vorne. Theophil war plötzlich eingeschlafen.
Nicoletta trat ins Haus zurück. Sie blieb in dem dunklen und kühlen Vorplatz stehen. Langsam hob sie die Arme und legte sich die beiden Hände vors Gesicht. Sie wollte schluchzen, aber es kamen keine Tränen; sie hatte zuviel geweint. In ihre Hände hinein flüsterte Nicoletta: »Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich muß weg von hier. Ich halte es nicht mehr aus.«
Über die Länder verstreut, in vielen Städten lebten die Menschen, die Hendrik seine Freunde genannt hatte. Einigen von ihnen ging es gut, der »Professor« zum Beispiel hatte nicht zu klagen, ein Weltruhm wie der seine verbraucht sich nicht, er konnte wohl damit rechnen, daß er bis zu seinem Lebensende in Schlössern mit Barockmöbeln und Gobelins oder in den fürstlichen Appartements der ersten internationalen Hotels wohnen würde. Man wollte ihn in Berlin nicht mehr inszenieren lassen, weil er Jude war? Gut – oder vielmehr: um so schlimmer für die Berliner. Der Professor bewegte die Zunge majestätisch in seinen Backen, knarrte und knurrte ein paar Tage lang verärgert, und fand schließlich, er habe ohnedies in letzter Zeit etwas reichlich zu tun gehabt, mochten die Berliner sich also ihr Theater allein machen, sollte doch »dieser Höfgen« seinem »Führer« Komödie vorspielen – er, der Professor, hatte während dieser Saison noch eine große Operette in Paris, zwei Shakespearische Lustspiele in Rom und Venedig und eine Art von religiöser Revue in London zu inszenieren. Außerdem gab es eine Tournee mit »Kabale und Liebe« und der »Fledermaus« durch Holland und Skandinavien zu erledigen, und im Frühling mußte er in Hollywood sein, denn er hatte einen großen Filmvertrag unterschrieben.
Seine beiden Theater in Wien verwalteten Fräulein Bernhard und Herr Katz: Um diese beiden brauchte man sich keine Sorgen zu machen. Manchmal dachte Herr Katz mit Wehmut an die lustigen Zeiten, als er die Berliner mit seinem abgründigen Drama »Die Schuld« hereingelegt und sich als den spanischen Nervenarzt ausgegeben hatte. »Das sind doch noch Scherze von Format gewesen!« sagte er und spielte mit der Zunge im Mund, fast genauso majestätisch wie sein Herr und Meister. Jetzt war nichts mehr mit der Dostojewski-Seele anzufangen, und Herr Katz war endgültig verbannt in die niedrige geschäftliche Sphäre. – Wehmütig wurde auch Fräulein Bernhard, wenn sie an den Kurfürstendamm, besonders aber, wenn sie an Höfgen dachte. »Was für herrlich böse Augen er hat!« erinnerte sie sich träumerisch. »Meinen Hendrik – den gönne ich den Nazis am allerwenigsten, so was Schönes verdienen die wirklich nicht.« Übrigens ließ sie sich jetzt von einem jungen Wiener Bonvivant, der zwar nicht so dämonisch war wie Höfgen, dafür aber galanter und anspruchsloser als dieser, »Rose« nennen und am Kinn kraulen.
Einen zweiten Aufstieg, einen neuen Triumph, der alle ihre Berliner Erfolge übertraf und in den Schatten stellte, erlebte Dora Martin in London und New York. Sie hatte Englisch gelernt mit dem Eifer eines ehrgeizigen Schulkindes oder eines Abenteurers, welcher sich ein fremdes Land erobern will. Nun konnte sie sich, in der neuen Sprache, alle jene eigenwilligen Extravaganzen leisten, mit denen sie früher Berlin bezaubert und überrascht hatte. Sie zerdehnte die Vokale, sie girrte, klagte, kicherte, jubelte, sang. Sie war scheu und ungelenk wie ein dreizehnjähriger Junge, schwerelos und federleicht wie eine Elfe. Sie schien nachlässig und kapriziös zu improvisieren; in Wahrheit berechnete ihre große Intelligenz jede der Nuancen der kleinen, aber sorgfältig verteilten Effekte, mit denen sie ihr gebanntes Publikum zum Lächeln oder zum Schluchzen brachte. Sie war schlau, sie wußte, was die Angelsachsen lieben. Mit genauer Absicht war sie um eine Note sentimentaler, um eine Spur weiblicher und sanfter geworden, als sie es in Deutschland gewesen war. Sie erlaubte sich nun seltener die rauhen und heiseren Töne; dafür rührte sie häufiger mit dem unschuldig kindlichen, hilflosen, weit geöffneten Blick. »Ich habe meinen Typ ein ganz klein bißchen verändert«, stellte sie fest, wobei sie den Kopf kokett zwischen die Schultern steckte. »Nur gerade so viel, wie es nötig war, damit ich den Engländern und Amerikanern gefalle.« Sie reiste zwischen London und New York hin und her, in jeder der beiden Städte spielte sie dasselbe Stück Hunderte von Malen hintereinander. Tags filmte sie. Es war erstaunlich, was sie physisch leistete und aushielt. Ihr schmaler, kindlicher Körper schien unermüdlich, als wäre er besessen von einer dämonischen Kraft. Die amerikanischen und englischen Zeitungen priesen sie als die größte Bühnenkünstlerin der Erde. Wenn sie nach der Vorstellung für eine Viertelstunde im Hotel Savoy erschien, schmetterte die Kapelle einen Tusch, und alle Anwesenden erhoben sich ihr zu Ehren. Der jüdischen Schauspielerin, die man aus Berlin vertrieben hatte, huldigte die Gesellschaft der beiden angelsächsischen Kapitalen. Sie wurde von der englischen Königin empfangen, der Prince of Wales schickte ihr Rosen in die Garderobe, junge amerikanische Dichter schrieben Stücke für sie. Manchmal fragten Journalisten, die aus Wien oder aus Budapest herbeigereist kamen, um sie zu interviewen, ob sie nicht Lust hätte, einmal wieder in deutscher Sprache zu spielen. Sie erwiderte: »Nein. Ich habe keine Lust mehr dazu. Ich bin keine deutsche Schauspielerin mehr.« Aber zuweilen dachte sie doch: ›Was man wohl in Berlin zu meinen neuen Erfolgen sagt? Ob man von ihnen erfährt? Natürlich erfährt man von ihnen. Ich darf hoffen, daß man sich ein wenig ärgert. Denn freuen wird sich dort niemand über meine Siege. Diese hunderttausend Menschen, die mit mir angegeben haben, als ob sie mich glühend liebten: ärgern sollen sie sich doch jetzt wenigstens über mich, damit sie mich nicht ganz und gar vergessen.‹
Ein großer englischer Film, in dem sie die Hauptrolle spielte, wurde in Berlin vorgeführt. Aber nur ein paar Tage lang, dann gab es Krach. Der Propagandaminister befahl »spontane Empörung«. SA-Leute wurden in Zivil gesteckt und ins Kino geschickt. Als das Gesicht der Dora Martin in Großaufnahme auf der Leinwand erschien, begannen die Burschen, die man im ganzen Saale verteilt hatte, zu pfeifen, zu johlen und mit Stinkbomben zu werfen. »Wir wollen keine verdammten Jüdinnen mehr in einem deutschen Kino«, brüllten die als Publikum verkleideten Rowdys. Das Licht mußte angedreht und die Vorstellung abgebrochen werden. In panischem Schrecken verließen die Neugierigen und Verwegenen, die sich zu der suspekten Darbietung eingefunden hatten, das Haus. Wer von den Fliehenden jüdisch wirkte – und es waren ziemlich viele Juden gekommen, um Dora Martin zu sehen – wurde festgehalten und verprügelt. Das Propagandaministerium ließ in London die Nachricht verbreiten, die liberal gesinnte deutsche Regierung hätte den Film passieren lassen, das Berliner Publikum aber dulde dergleichen nicht mehr. Die öffentliche Entrüstung sei unmittelbar, heftig und übrigens sehr begreiflich gewesen. Von nun ab müsse jeder Film, in dem die Schauspielerin Martin auftrete, verboten werden. Da sie erfuhr, daß man um ihretwillen – oder doch anläßlich ihres bewegten Schattenbildes – Juden mißhandelt hatte, krümmte sich Dora Martin vor Ekel, als wäre ihr übel von einer vergifteten Speise. »Diese Schufte«, murmelte sie, und aus ihren Augen schlugen die schwarzen Flammen eines großen Zornes. »Diese gemeinen, niederträchtigen Schufte!« Und wie sie die Fäuste schüttelte, glich sie – das Gesicht von der rötlichen Mähne umweht – einer jener heroischen Frauengestalten ihres Volkes, die zur Rache rufen.
In vielen Städten lebten sie, in vielen Ländern suchten sie Zuflucht: Oskar H. Kroge, zum Beispiel, hatte sich vorläufig in Prag niedergelassen. Er war kein Jude und kein Kommunist, aber ein alter Vorkämpfer der Literatur: er glaubte an das Theater als moralische Anstalt und an die ewigen Ideale der Gerechtigkeit und der Freiheit, so vielen Enttäuschungen zum Trotz wollte er nicht lassen von seinem naiven und zuversichtlichen Pathos – für ihn war kein Platz gewesen im neuen Deutschland. Entschlossen, an die edlen Traditionen seiner guten Frankfurter Zeit wieder anzuknüpfen, machte er sich in Prag sofort auf die Suche nach Menschen, die für seinen Enthusiasmus Verständnis hatten und ihm ein paar tausend Tschechenkronen zur Verfügung stellten; denn er wollte in einem Vorstadtkeller eine literarische Bühne eröffnen. Er fand die Geldgeber – sie gaben wenig genug; er fand den Keller und ein paar junge Schauspieler und ein Stück, in dem sehr viel von der »Menschheit« und von der »Morgenröte einer besseren Zeit« die Rede war, und er arbeitete mit den jungen Schauspielern, und das Stück kam heraus. Schmitz, der seinem Freunde treu geblieben war, hatte sich um das Finanzielle zu kümmern, während Kroge – hartnäckiger Idealist, eigensinniger Schwärmer für das Höchste und Schönste – unbehelligt in der reinen Sphäre der Kunst bleiben wollte. Ach, nicht immer durfte Schmitz ihn dort oben lassen. Es fehlte am Nötigsten, niemals hätte Kroge – bürgerlicher alter Bohemien, der wohl Geldschwierigkeiten, aber nie die wirkliche Armut gekannt hatte – es für möglich gehalten, daß man mit so lächerlich geringen Summen auch nur das bescheidenste Theater halten könnte. Es ging – vorläufig ging es noch, obwohl zu den ökonomischen Schwierigkeiten auch noch politische kamen; denn die deutsche Gesandtschaft in Prag intrigierte bei den Behörden gegen den emigrierten Hamburger Theaterdirektor, dessen pazifistische Verstiegenheiten ihr lästig waren. Kroge und Schmitz wehrten sich, waren standhaft, gaben nicht nach. Dabei fielen beide vom Fleische und alterten. Schmitz sah gar nicht mehr rosig aus, und Kroge bekam immer stärkere Falten auf der sorgenvollen Stirn und um den Katermund.
In vielen Städten und in vielen Ländern …
Juliette Martens, genannt Prinzessin Tebab, die Königstochter vom Kongo, hatte in einem kleinen Kabarett am Montmartre Stellung gefunden: zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens durfte sie den Amerikanern – die in Paris immer seltener wurden, seitdem der Dollar gesunken war – ein paar angeheiterten Herren aus der französischen Provinz und einigen Zuhältern ihren schönen Körper und ihre kunstvollen Steps zeigen. Sie trat beinahe nackt auf, angetan nur mit einem kleinen Büstenhalter aus grünen Glasperlen, einem knappen dreieckigen Badehöschen aus grünem Atlas und mit sehr viel grünen Straußenfedern am Hinterteil. Auf diese Federnpracht anspielend behauptete sie, daß sie ein Vögelchen sei. Sie wiederholte es mehrfach: Ich bin ein Vögelchen und über den Ozean herbeigeflogen, um mir hier, am Montmartre, ein Nest zu bauen. In Wahrheit hatte sie kaum Ähnlichkeit mit einem Vögelchen. Ihr trauriges Zimmer in der Rue des Martyres erinnerte auch keineswegs an ein Nest. Es war finster und hatte den Blick auf einen engen, schmutzigen Hof. Der einzige Schmuck an den kahlen, fleckigen Wänden war eine Photographie des Schauspielers Hendrik Höfgen: Juliette hatte sie einst, während eines Zornes- und Schmerzensanfalls, zerrissen, aber dann hatte sie die Fetzen sorgfältig wieder aneinandergeklebt – Hendriks Mund saß nun ein wenig schief und gab seinem Gesicht einen hämischen Ausdruck; quer über seine Stirn lief ein Streifen von Leim wie eine Narbe; aber sonst war seine Schönheit ziemlich tadellos wiederhergestellt.
An jedem Monatsersten holte sich Juliette beim Portier eines Hauses, dessen Inhaber sie nicht kannte, die kleine Geldsumme ab, welche Hendrik ihr zukommen ließ. Die Gage vom Montmartre-Kabarett und die Unterstützung aus Berlin machten zusammen gerade soviel aus, daß Juliette leben konnte, ohne auf den Strich gehen zu müssen. Sie sah wenig Menschen, einen Geliebten hatte sie nicht. Über ihre Berliner Abenteuer sprach sie mit niemandem: teils aus Angst, ihr Leben oder doch mindestens die kleine Monatsrente zu verlieren; teils um Hendrik keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Denn ihr Herz hing an ihm.
Sie hatte nichts vergessen und nichts verziehen. Täglich mindestens einmal erinnerte sie sich mit Haß und Grauen der halbdunklen Zelle, in der sie so viel gelitten hatte. Sie dachte an Rache, aber es sollte eine Rache von großer und süßer Art sein, keine schäbige und mesquine. Lange Stunden des langen Tages ruhte Prinzessin Tebab auf ihrem schmutzigen Bett und träumte. Sie würde nach Afrika zurückkehren, alle Schwarzen um sich sammeln, die Königin und kriegerische Fürstin aller Schwarzen werden – um ihr Volk zum großen Aufstand, zum großen Krieg gegen Europa zu führen. Der weiße Erdteil war reif zum Untergang: seitdem Juliette die Beamten der Berliner Geheimen Staatspolizei bei sich empfangen hatte, wußte sie es ganz sicher und ganz genau. Der weiße Erdteil mußte zugrunde gehen, mit ihren dunklen Brüdern wollte Prinzessin Tebab den Siegeszug antreten durch die Hauptstädte Europas. Ein Blutbad ohnegleichen sollte die Schande wegwaschen, mit welcher der weiße Erdteil sich bedeckt hatte. Die frechen Herren mußten Sklaven werden. Als ihren Lieblingssklaven sah die träumende Königstochter Hendrik zu ihren Füßen. Ach, wie würde sie ihn quälen! Ach, wie würde sie ihn verwöhnen! Die kahle Stirn wollte sie ihm mit Blumen bekränzen, aber den Kranz hatte er kniend zu tragen. Gedemütigt und geschmückt, als das kostbarste Beutestück, sollte der Niederträchtige, der Geliebte, in ihrem Gefolge schreiten.
So träumte die Schwarze Venus, und ihre kraftvollen, rauhen Finger spielten mit der roten Peitsche aus geflochtenem Leder.
Einmal, als sie ihre abendliche Promenade machte, sah Juliette in dem Strom von Menschen, der sich von der Madeleine zur Place de la Concorde bewegte, Barbara an sich vorübergehen. Hendriks Gattin, die so lange der Gegenstand von Juliettes eifersüchtigen oder mitleidigen Betrachtungen gewesen war, schritt eilig und in Gedanken vertieft. Juliette berührte ganz leicht mit den Fingerspitzen ihren Ärmel und sagte mit ihrer tiefen, rauhen Stimme: »Bonsoir, Madame.« Dabei neigte sie ein wenig das Haupt. Als die Angeredete verwundert aufblickte, war die Negerin schon vorüber. Barbara sah nur noch ihren breiten Rücken, und auch der wurde schnell durch andere Rücken, andere Leiber zugedeckt.
In vielen Städten und in vielen Ländern …
Manche lebten in Dänemark, manche in Holland, manche in London oder in Barcelona oder in Florenz. Andere waren nach Argentinien oder nach China verschlagen worden.
Nicoletta von Niebuhr aber, Nicoletta Marder, fand sich eines Tages wieder in Berlin ein. Mit ihren roten Hutkoffern, die recht rissig und brüchig geworden waren, erschien sie in Hendrik Höfgens Wohnung am Reichskanzlerplatz. »Hier bin ich«, sagte sie und versuchte, ihre Augen so blank zu machen, wie es nur irgend ging. »Ich konnte es nicht mehr aushalten, dort unten. Theophil ist wunderbar, ein Genie, ich liebe ihn mehr denn je. Aber er hat sich außerhalb der Zeit und ihrer realen Gegebenheiten gestellt. Er ist ein Träumer geworden, ein Parsifal – ich ertrage das nicht. Verstehst du es, Hendrik, daß ich das nicht ertrage?«
Hendrik verstand es. Er war ganz und gar gegen Träumer und besaß seinerseits durchaus den notwendigen Kontakt zu der Zeit und ihren Gegebenheiten. »Diese ganze Emigration ist eine Angelegenheit für Schwächlinge«, erklärte er streng. »Diese Leute in ihren südfranzösischen Badeorten kommen sich wie Märtyrer vor, sind aber nur Deserteure. Wir hier stehen an der Front, die dort draußen drücken sich in die Etappe.«
»Ich will unbedingt wieder Theater spielen«, sprach Nicoletta, die ihren Gatten verlassen hatte.
Hendrik meinte, das werde ohne gar zuviel Schwierigkeiten einzurichten sein. »Am Staatstheater kann ich ziemlich alles durchsetzen, wozu ich Lust habe. Cäsar von Muck – nun ja, er ist noch der Intendant. Aber der Ministerpräsident mag ihn nicht, und der Propagandaminister deckt ihn nur noch aus Prestigegründen. Es hat sich herumgesprochen, daß unser Cäsar ein miserabler Theaterleiter ist. Er macht ein langweiliges Repertoire, am liebsten möchte er immer nur seine eigenen Stücke aufführen lassen. Von Schauspielern versteht er auch nichts. Das einzige, was er kann, ist ein enormes Defizit machen.«
Die wiedergekehrte Nicoletta durfte damit rechnen, am Staatstheater ein Engagement zu bekommen. Zunächst aber wollte Hendrik in Hamburg mit ihr gastieren, und zwar in dem Stück, das nur zwei Personen hatte und mit dem die beiden auf Tournee in den Ostsee-Badeorten gewesen waren, unmittelbar vor der Hochzeit Höfgens mit Barbara Bruckner. Das Hamburger Künstlertheater war stolz, sein ehemaliges Mitglied, das inzwischen so berühmt und ein Freund der Macht geworden war, nun als Gast bei sich zu empfangen. Der neue Leiter des Institutes, Kroges Nachfolger, ein Herr namens Baldur von Totenbach, erwartete Höfgen und seine Begleiterin auf dem Bahnhof. Herr von Totenbach war aktiver Offizier gewesen, hatte viele Schmisse im Gesicht und stahlblaue Augen wie Herr von Muck, sprach auch sächsisch wie dieser. Er rief: »Willkommen, Kamerad Höfgen!« – als ob auch Hendrik die ehrenwerte Vergangenheit eines Offiziers hätte, anstatt die verdächtige eines Kulturbolschewisten. »Willkommen!« riefen auch verschiedene andere Menschen, die mit Herrn von Totenbach zur Bahn geeilt waren, um den Kollegen Höfgen zu begrüßen. Unter ihnen war die Motz, sie umarmte Hendrik und hatte Tränen echter Ergriffenheit in den Augen. »Wieviel Zeit vergangen ist!« rief die wackere Frau und ließ Gold im Innern des Mundes funkeln. »Und was wir alles erlebt haben!« Sie ihrerseits hatte ein Kind bekommen, Nicoletta und Hendrik erfuhren es bald: ein kleines Mädchen; späte, eigentlich schon etwas überraschende Frucht ihrer langjährigen Beziehung zum Väterspieler Petersen. »Ein deutsches Mädchen«, sagte sie, »wir haben es Walpurga genannt.«
Petersen hatte sich gar nicht verändert. Sein Gesicht wirkte immer noch etwas nackt, da ihm der Schifferbart fehlte. Seinem unternehmungslustigen Wesen war anzumerken, daß er es sich keineswegs abgewöhnt hatte, das sauer verdiente Geld zu verschwenden und den jungen Mädchen nachzusteigen. Wahrscheinlich liebte ihn die Motz immer noch mehr als er sie. – Der schöne Bonetti erschien in schwarzer SS-Uniform und sah blendend aus: es ließ sich verstehen, daß er nun noch zahlreichere Liebesbriefe aus dem Publikum erhielt als früher. – Die Mohrenwitz war nicht mehr beim Theater. »Sie hat ja jüdisches Blut«, zischelte die Motz hinter der vorgehaltenen Hand und wurde dann von einem lasterhaften kleinen Lachen geschüttelt, als hätte sie etwas Obszönes geäußert. Rolf Bonetti machte ein sehr angewidertes Gesicht – vielleicht weil er an all die Rassenschande dachte, die er einst mit Rahel getrieben hatte. Das dämonische junge Mädchen – so viel wurde Hendrik noch mitgeteilt – hatte einen Selbstmordversuch gemacht, als die Unreinheit ihres Blutes bekannt geworden war, und schließlich einen tschechoslowakischen Schuhfabrikanten geheiratet. »Was das Materielle betrifft, wird es ihr wohl ganz gut gehen, da drüben – im Ausland …« vermutete die Motz mit dem Akzent der Verachtung, und ihr Daumen deutete nach hinten, über die Schulter, als läge dort, in irgendeiner häßlichen Ferne, »das Ausland«.
Die neuen Mitglieder des Ensembles – blonde, etwas ungeschlachte Burschen und Mädel, die eine derbe Lustigkeit mit straffer militärischer Disziplin wacker vereinigten – ließen sich dem großen Höfgen vorstellen und bezeigten ihm jede nur denkbare Devotion. Er war der Märchenprinz, der schöne Verzauberte, der Neid und Bewunderung einsteckt als den Tribut, der ihm zukommt. Ja, er war herniedergestiegen, für eine kleine Weile zurückgekehrt zu der niedrigen Stätte, von welcher er ausgegangen. Übrigens zeigte er sich leutselig und ließ sich dazu herbei, der Motz den Arm um die Schulter zu legen. »Ach, du bist doch ganz der alte geblieben«, schwärmte sie und preßte seine Hand. Petersen ließ sich vernehmen: »Hendrik war immer ein famoser Kamerad.« Herr von Totenbach erklärte abschließend, nicht ohne eine gewisse Strenge: »Im neuen Deutschland gibt es nur Kameraden, auf welchem Platz sie auch immer stehen mögen.«
Hendrik äußerte den Wunsch, Herrn Knurr zu begrüßen – eben jenen Bühnenportier, der immer schon das Hakenkreuz unter dem Rockaufschlag versteckt getragen hatte und an dessen Loge Höfgen, der »Kulturbolschewist«, so ungern und mit so schlechtem Gewissen vorübergegangen war. Würde das alte Parteimitglied nicht vor Freude beben, wenn es nun dem Freund und Favoriten des Ministerpräsidenten die Hand schütteln durfte? Zu seiner Überraschung wurde Höfgen von Herrn Knurr ziemlich kühl empfangen. In der Portiersloge war kein Führerbild zu entdecken, obwohl es doch nun statthaft und sogar erwünscht gewesen wäre. Als Hendrik sich bei Herrn Knurr nach seinem Befinden erkundigte, murmelte dieser etwas zwischen den Zähnen, was unfreundlichen Klang hatte, und der Blick, den er auf Höfgen richtete, schien voll Gift. Es war deutlich: Herr Knurr war im tiefsten enttäuscht von seinem Führer-Erlöser und der ganzen herrlichen nationalen Bewegung – in all seinen Hoffnungen bitterlich betrogen, wie so viele. Für Höfgen, Freund des Fliegergenerals, bedeutete es also eine Peinlichkeit, wie eh und je, an der Portiersloge vorbeizugehen: sein Verhältnis zu Herrn Knurr hatte sich nicht gebessert.
Eine Erleichterung empfand Hendrik, als er feststellen durfte, daß von den kommunistischen Bühnenarbeitern, denen er früher gern mit geballter Faust und dem Rot-Front-Gruß begegnet war, sich keiner mehr im Theater befand. Er wagte es nicht, sich nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Vielleicht waren sie erschlagen, vielleicht eingesperrt, vielleicht in der Emigration …
Abends war das Haus ausverkauft, die Hamburger jubelten ihrem alten Liebling zu, der in Berlin so gewaltig Karriere gemacht hatte: erst unter dem Professor, dann unter dem dicken Ministerpräsidenten. Von Nicoletta war man allgemein enttäuscht. Man fand sie starr, unnatürlich und sogar etwas unheimlich. Wirklich hatte sie das Theaterspielen ziemlich verlernt. Ihre Haltung war steif geworden, und ihre Stimme hatte einen merkwürdig hohlen, klagenden Klang bekommen. Es war, als ob etwas in ihr zugleich erfroren und zerbrochen wäre. Übrigens nahm das Publikum jetzt auch an ihrer großen Nase Anstoß. »Ob sie nicht doch etwas jüdisches Blut hat?« flüsterte man im Parkett. Aber nein, sagten andere – dann würde doch Höfgen sich nicht öffentlich mit ihr zeigen!
Am nächsten Morgen hatte Hendrik die kuriose Idee, Frau Konsul Mönkeberg einen Besuch abzustatten. Auch sie sollte ihn in seinem Glanz sehen – gerade sie, die ihn jahrelang gedemütigt hatte durch ihr vornehm patrizisches Wesen. Barbara, die Geheimratstochter, war gleich von ihr zum Tee in den ersten Stock geladen worden. Ihn aber hatte man nur fein und spöttisch angelächelt. Jetzt wollte er im Mercedeswagen bei der alten Dame vorfahren. Zu seiner Enttäuschung mußte er in der Villa von einem fremden Hausmeister erfahren, daß Frau Konsul Mönkeberg gestorben war. Das sah ihr ähnlich! Einer Begegnung, die peinlich für sie gewesen wäre, entzog sie sich durch die Flucht. Diese Bürger vornehmen alten Stils – diese Patrizier ohne Geld, aber mit nobler Vergangenheit und mit zarten, vergeistigten Gesichtern – blieben sie denn unerreichbar, waren sie nie zu treffen? Sollte es dem mephistophelisch gewordenen Kleinbürger, der mit der blutigen Macht paktierte, niemals vergönnt sein, seine Triumphe über sie zu genießen?
Hendrik ärgerte sich. Ein Coup war ihm mißglückt, von dem er sich viel Spaß versprochen hatte. Im übrigen war er recht zufrieden mit seiner Hamburger Visite. Herr von Totenbach hatte zum Abschied gesagt: »Ich und meine ganze Spielgemeinschaft – wir sind stolz darauf, daß Sie bei uns gewesen sind, Kamerad Höfgen!« Und die Motz hatte ihm ihre kleine Walpurga gereicht, mit der dringlichen Bitte, er müsse das schreiende Geschöpf segnen. »Segne sie, Hendrik!« forderte die Motz. »Dann wird etwas Rechtes aus ihr werden! Segne meine Walpurga!« Auch Petersen war sehr dafür gewesen.
Als Hendrik von seinem Ausflug zurückkam, berichtete ihm Lotte Lindenthal, daß um seine Person in den höchsten Kreisen heftige Debatten im Gang seien. Der Ministerpräsident – »mein Bräutigam«, sagte Lotte jetzt schon von ihm – war unzufrieden mit Cäsar von Muck; das wußte jeder. Noch nicht so allgemein bekannt war, wen der Fliegergeneral als Nachfolger für den Intendanten der Preußischen Staatstheater ausersehen hatte: es war Hendrik Höfgen. Hiergegen sträubten sich der Propagandaminister und mit ihm alle jene hohen Würdenträger der Partei, die von »radikaler Gesinnung«, »hundertprozentige Nationalsozialisten« und jedem Kompromiß, besonders in kulturellen Dingen, unerbittlich abgeneigt waren.
»Es geht nicht an, auf einen derart prominenten, repräsentativen Posten einen Mann zu setzen, der nicht zur Partei gehört und die ärgste kulturbolschewistische Vergangenheit hat«, erklärte der Propagandaminister.
»Es ist mir gleichgültig, ob ein Künstler Parteimitglied ist oder nicht. Die Hauptsache ist, daß er etwas kann«, erwiderte der Ministerpräsident, der sich, in seiner großen Macht und Herrlichkeit, oft erschreckend liberale Launen gönnte. »Unter Höfgen werden die Preußischen Staatstheater Kasse machen. Die Intendanz des Herrn von Muck ist ein zu großer Luxus für unsere Steuerzahler.« Wenn es um die Karriere seines Protégés und Lieblings ging, dachte der General sogar an die Steuerzahler, was sonst selten geschah.
Der Propagandaminister wandte ein, Cäsar von Muck sei ein Freund des Führers, ein altbewährter Mitkämpfer; es sei unmöglich, ihn einfach vor die Tür zu setzen. Der Fliegergeneral schlug munter vor, man solle den Autor des »Tannenberg«-Dramas zum Präsidenten der Dichterakademie machen – »dort stört er niemanden« – und ihn zunächst auf eine schöne Reise schicken.
Der Propagandaminister verlangte telefonisch vom Führer, der zur Erholung in den bayrischen Bergen weilte, er müsse ein Machtwort sprechen und es verhindern, daß man einen zwar talentierten und routinierten, moralisch aber denkbar schlecht qualifizierten Komödianten wie Höfgen zum ersten Theatermann des Reiches erhebe. – Der Ministerpräsident hatte schon zwei Tage vorher einen Boten in die bayrischen Alpen geschickt. Der Führer, der Entscheidungen gerne auswich, ließ antworten: Ihn interessiere der Fall nicht, er habe größere und bedeutungsvollere Dinge im Kopf, die Herren Kameraden möchten das gefälligst unter sich ausmachen.
Die Götter zankten sich. Aus der ganzen Angelegenheit war eine Macht- und Prestigefrage zwischen dem Propagandaminister und dem Ministerpräsidenten, zwischen dem Hinkenden und dem Dicken geworden. Hendrik wartete ab – und wußte kaum, welchen Ausgang er dem Götterstreit wünschen sollte. Einerseits reizte die Aussicht auf die Intendanz gewaltig seine Eitelkeit und Wirkungssucht; auf der anderen Seite gab es Bedenken. Wenn er einen hohen öffentlichen Posten in diesem Staate bekleidete, identifizierte er sich ganz und für immer mit dem Regime: auf Gedeih und Verderben verband er das eigene Schicksal mit dem der blutbefleckten Abenteurer. Wollte er das? War dies seine Absicht gewesen? Gab es nicht Stimmen in seinem Herzen, die ihn vor solchem Schritt warnten? Die Stimmen des schlechten Gewissens, und mit ihnen die Stimmen der Angst …?
Die Götter kämpften, die Entscheidung fiel: der Dicke hatte gesiegt. Er befahl Höfgen zu sich und trug ihm in aller Form die Intendanz der Staatstheater an. Da der Schauspieler mehr verwirrt als entzückt schien und fast Bestürzung anstatt Enthusiasmus zeigte, wurde der Ministerpräsident zornig.
»Ich habe meinen ganzen Einfluß für Sie eingesetzt! Machen Sie jetzt keine Geschichten, Mensch! Übrigens ist auch der Führer sehr dafür, daß Sie Intendant werden«, log der General.
Hendrik zögerte immer noch, teils wegen der inneren Stimmen, die nicht schweigen wollten, teils weil er es genoß, sich bitten zu lassen von der blutbefleckten Macht. ›Sie brauchen mich‹, jubelte es in ihm. ›Beinah war ich schon Emigrant, und jetzt bettelt der Gewaltige, ich solle ihm seine Theater vor der Pleite retten!‹
Er bat sich vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit aus. Der Dicke entließ ihn murrend.
Nachts besprach Hendrik sich mit Nicoletta.
»Ich weiß nicht«, klagte er und schickte unter halbgesenkten Lidern kokette Juwelenblicke ins Leere. »Soll ich – soll ich nicht …? Es ist alles so gräßlich schwierig …« Er ließ den Kopf in den Nacken sinken und hielt das edle, überanstrengte Gesicht der Decke zugewandt.