Kitabı oku: «Stiefelschritt und süßes Leben», sayfa 2
Herbstmanöver
Im September fand das alljährliche Herbstmanöver statt. Das AR 9 war jetzt mit seinem veralteten Kriegsgerät mehrere Wochen lang im Militärbezirk 5 der Warschauer Vertragsstaaten auf allen dortigen Truppenübungsplätzen unterwegs. Dieser Militärbezirk 5 umfasste die heutigen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin und den Norden des Bezirkes Magdeburg mit der Altmark und der Letzlinger Heide.
In den ersten Tagen fuhr auf unserem LKW, der auch die Haubitze zog, ein Reserveoffizier mit; ich habe ihn sofort als Stasi-Spitzel erkannt, obwohl er sich als Oberschullehrer ausgab. Er versuchte ständig, mit banalsten Fragen die Soldaten über Lebensumstände und -haltungen auszuhorchen. Irgendwie kam die Rede auf hohe Lottogewinne und deren Verwendung. Ich saß bisher schweigend dabei, nun platzte ich aber heraus: „Ich würde die 300.000 Mark dem Staat schenken und mir die Freiheit erkaufen!“ – „Wie meinen Sie das, Genosse!?“ – „Mit Freiheit, meine ich nur, weg von der NVA!“, sagte ich in festem Ton. Der Mann war völlig verdattert, sagte kein Wort mehr. Er wechselte beim nächsten Halt auf einen anderen LKW unserer Batterie.
Es erschienen im Manövergelände in der Letzlinger Heide auch einige Zivilisten, offensichtlich SED-Bonzen von der Bezirksleitung Magdeburg, die sich martialisch angehost hatten. Sie trugen Schaftstiefel und Reithosen zu Ziviljackets, die allerdings mit Orden behängt waren. Diese Leute gaben in der Tat ein kurioses Bild ab … Bei dem Manöver wurde möglichst realistisch Krieg gespielt. Andernorts drohte der Kalte Krieg heiß zu werden. – Der Vietnam-Krieg eskalierte nach dem Tonking-Zwischenfall, was im Feldoffizierscourps des AR 9 zu freudiger Aufregung führte. Noch höre ich die aufgeregte Stimme von Unterleutnant Karpow, der es kaum noch erwarten konnte: „Genossen, jede Menge Karl-Heinze (damit waren die Sowjetsoldaten gemeint) haben sich freiwillig gemeldet. Vielleicht können wir uns auch bald in die Freiwilligenlisten eintragen lassen!“
In der Letzlinger Heide, dem größten und westlichsten Truppenübungsplatz der DDR, lagen plötzlich Flugblätter herum: bunte Reklamebilder aus der Konsumwelt des Westens, primitive Elogen von Deserteuren der Grenztruppen über ihre Mallorca-Aufenthalte, Pin-up-Girls, aber auch seriöse Auflistungen vom Statistischen Bundesamt, den hohen Lebensstandard der Arbeiterklasse in der BRD betreffend.
Sofort brüllten die Batterieoffiziere: „Feindliche Flugblätter, liegen lassen, nicht lesen!“ Jeder nahm sie natürlich in die Hand und überflog sie, mancher steckte sich auch eines ein. Nach einem eiligen Stellungswechsel trat der Batteriechef vor seine Truppe und sprach: „Wer trotz des Verbots ein Flugblatt eingesteckt hat, bekommt nun die Möglichkeit, es straflos abzugeben. Wer danach noch mit einem dieser Flugblätter erwischt wird, kommt wegen Wehrkraftzersetzung vor den Militärstaatsanwalt!“
Der Unterleutnant Mölschareck, genannt „Mölli“, schmierte sich dann an mich heran und sagte: „Die Weiber in den Casinos waren toll, was?“ – „Habe ich übersehen“, war meine Antwort. „Aber ich habe eine hochinteressante Publikation vom Statistischen Bundesamt gefunden, natürlich sofort wieder weggeschmissen. Die Zahlen sind aber nun leider in meinem Kellnergehirn gespeichert.“
Es gab aber auch hoffnungsvolle Erlebnisse bei diesem Herbstmanöver. Wir waren nicht nur per LKW unterwegs, es wurden auch die Verladung und der Transport per Schiene geübt. Beim Entladen in der märkischen Kleinstadt Rathenow machte ein Ehepaar mit seinen zwei Söhnen einen Abendspaziergang. Von den Knaben war der eine etwa fünf, der andere um die 14 Jahre alt. Der kleinere, am Straßenrand gehend, winkte den Soldaten fröhlich zu, wie er es im Kindergarten gelernt hatte, doch der größere Junge drückte die Hand seines kleinen Bruders nach unten und zog ihn zwischen sich und die Eltern. Eine harmlose Widerstandsgeste gegen den Militarismus, die mir aber durch die Geistesverbundenheit, die sie ausdrückte, ein Gefühl der Zuversicht und des Trostes gab.
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Nach dem Herbstmanöver, in den ersten Oktobertagen, kamen ein paar Neue in das AR 9, einer auch in unsere Batterie. Sie alle hatten die ersten Monate ihrer Dienstzeit bei den Grenztruppen absolviert und waren bei der Überprüfung zum eigentlichen Grenzstreifendienst als unzuverlässig eingestuft und zu den Feldtruppen versetzt worden, wo sie nun das letzte Jahr des Grundwehrdienstes vertrödeln mussten. Unser Neuer hatte einfach seinen Dienst leger und ohne Engagement ausgeführt, ja in harmlosen Gesten und Worten Unlust durchblicken lassen. Er ließ sich durch Drohungen auch nicht zu einer lustvolleren Dienstdurchführung drängen. Hierbei war allerdings auch Vorsicht geboten, denn wer in dem, was er sagte, Feindschaft gegenüber den bewaffneten Organen erkennen ließ, wurde auch als Feind behandelt. Um ihn kümmerte sich der Militärstaatsanwalt. Es war aber, wie ich bald merkte, relativ einfach, von den Grenztruppen wegzukommen.
Ernteeinsatz
Wenige Tage später begann für unsere Batterie der Ernteeinsatz; „Ernteschlacht“ hieß es im SED-Jargon. Auf den Ladeflächen unserer H5 fuhren wir in Richtung Westen, nach Bodin, zu einer alten Junkerklitsche mit verrottetem Herrenhaus, Katenreihen und zahlreichen Vorwerken. Die Gemeinde nahm fast die gesamte Fläche zwischen den mecklenburgischen Kleinstädten Gnoien und Teterow ein.
Wir wurden alle in einer Schulbaracke einquartiert. Das Dorf machte einen äußerst traurigen Eindruck, war aber erstaunlicherweise von einer Vielzahl hübscher Mädchen bevölkert, während die jungen Männer ziemlich dumpfe Typen waren. Das Dorf hatte also eine Blutauffrischung dringend nötig.
Die Feldarbeit machte wenig Mühe, wurde von uns auch nicht mit sonderlicher Vehemenz betrieben, da die Vergütung geradezu lächerlich war. Die Verpflegung war aber gut, so dass für die Abende mit den jungen Frauen viel Zeit, Kraft und Muße vorhanden war.
Ich hatte in dieser galanten Frage besonders Glück, traf in Groß Lunow, einem der vielen Vorwerke der Gemeinde, auf Gisela, die bei ihren Eltern eine Auszeit von ihrer unglücklichen Ehe im brandenburgischen Havelberg nahm und besonderer Tröstung bedurfte. Wir beide erkannten uns sofort als passende Partner, hatten jeweils geraume Zeit Abstinenz in der Liebe geübt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Gisela gehörte nicht nur zu den Hübschesten im Dorfe, sie war mit Abstand die Erfahrenste in der Liebe hier. Wir hatten zwar die NVA-Ausgehuniform bei uns, mussten sie aber nach der Feldarbeit nicht tragen, waren vielmehr in dem eher martialischen, an Arbeitskleidung erinnernden Drillich unterwegs, was unser Wohlgefühl, jedenfalls meines, erheblich steigerte.
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Die richtig widerlichen Unteroffiziere, die man oft in Nazi- und Antikriegsfilmen sieht und die es, wie ich erfahren habe, auch in anderen NVA-Einheiten gab, hatten wir in unserer Batterie nicht. Von den drei Offizieren der Batterie waren zwei jedoch ausgesprochene Widerlinge. Der eine, der Mecklenburger Ultn. Karpow, war das geringere Problem wegen seiner Dummheit. Eine zackige Meldung unter lautem Gebrüll, ganz gleich, was man brüllte, konnte seiner Bosheit relativ leicht die Spitze nehmen. Anders der Ultn. „Mölli“, der eine pfiffige Dresdner Vorstadtpflanze war, den einige Dresdner Rekruten aus anderen Batterien, noch von früher als „Rummelplatz-Stenz“ kannten. Diesem Widerling war mein Techtelmechtel in den Heuschobern des Vorwerks Groß Lunow selbstverständlich nicht verborgen geblieben. Neid und Niedertracht veranlassten diesen Menschen, an Wochenenden und bei Dorffesten mit Vorliebe, ja eigentlich ausschließlich, mich zum Wachdienst einzuteilen. Ich musste dann mit zwei anderen im Vier-Stunden-Rhythmus das Kriegsgerät mit den Fahrzeugen und die Baracke, mit 30 Schuss in meiner Kalaschnikow, bewachen.
Ich hatte von 0.00 Uhr bis 4.00 Uhr Wachdienst. Die Oktobernacht war lau, der Wind säuselte im Laub der Bäume. In der Ferne lärmten die Zecher vorm Dorfkrug und kreischten die Mädchen.
Wer kam gegen 1.00 Uhr, als der Lärm schon etwas abgeebbt war, von Bier und Schnaps schwankend, mit einer Dörflerin im Arm, heran? Es war der Ultn. „Mölli“. Ich hatte die Kalaschnikow in der Hüfte in Anschlag, der Trageriemen spannte sich straff über der Schulter. Mölli steuerte auf den ersten unserer LKWs zu. Ich sagte laut: „Halt, wer da?!“
„Kanonier Müller, machen Sie sich aus dem Weg!“, schnauzte Mölli. „Sie sind betrunken, Genosse Unterleutnant“, sagte ich in moderatem Ton und blieb stehen. „Aus dem Weg, sag’ ich!“, geiferte Mölli mit einem Griff zur Pistolentasche. Ich hatte bei der Eskalation des Dialogs mit Mölli die Knarre schon entsichert, nun rasselte ich mit dem Ladehebel. Das wiederum ist ein so bedrohliches Geräusch, dass selbst kühne Revolutionäre schon zur Besinnung gekommen sind.
Mölli nahm sofort die Hand von der Pistole, wurde ganz klein und verhandlungsbereit, stotterte Unverständliches. Ich ging bis auf Flüsterdistanz auf ihn zu und sagte leise: „Genosse Unterleutnant, von mir aus fahren Sie los, ich will Ihnen den Abend nicht verderben, aber Sie wissen ja, Befehl ist Befehl, und ein Wachtvergehen führt schnell nach Torgelow, Sie drohen ja ständig damit.“ Sodann ging ich beiseite. Mölli und seine verängstigte Braut kletterten in das Führerhaus des H5 (Vorläufer des sowjetischen Militär-LKWs Ural); er fand mühselig das Zündschloss, dann fuhr er los.
Nach kurzer Zeit, kaum eine halbe Stunde war vergangen, da war Mölli mit dem H5 wieder da. Der Suff, oder der Schreck, den ich ihm eingejagt hatte, ließen bei ihm ein intensives Schäferstündchen wohl nicht zu. Mölli kam ängstlich auf mich zu, fragte furchtsam: „Haben Sie die Waffe schon wieder entladen? Wenn das Magazin beim Wachwechsel nicht vollzählig ist, haben wir ein Vorkommnis in der Batterie, da wird vielleicht sogar der Einsatz in Bodin abgebrochen.“ Das aber wollten wir beide nicht. Ich sagte leutselig: „Genosse Unterleutnant, ich bin doch ein Virtuose auf dieser Balalaika, hatte nicht ganz durchgezogen, als Sie zur Pistole griffen und gleich wieder losließen.“
Mölli salutierte und sprach: „Na dann ist es ja gut. Gute Nacht, und vergessen Sie’s!“ Er verschwand, kaum noch torkelnd, in seiner Barackenunterkunft.
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Wieder auf dem Feld, ereilte uns wenige Tage später die Nachricht vom Sturz Chrustschows. Wir waren sehr erstaunt, begriffen jedoch nicht die Dramatik der Ereignisse im Kreml, hatten auch anderes zu tun. Die Mädels waren uns zugetan, und Gisela freute sich ganz besonders, als ich, mit einem Abend Unterbrechung, wieder zum Tête-à-tête in unserem vertrauten Heuschober eintraf.
Da mir Bruni, die nun schon im siebten Monat schwanger war, auf meine sehnsuchtsvollen Liebesbeteuerungen nichts Besseres mitzuteilen wusste, als dass sie sich mit einem Jugendfreund, den sie wiedergetroffen hatte, zusammengetan habe und ich sie nicht mehr besuchen solle, betrachtete ich Gisela in Groß Lunow in noch günstigerem Lichte. Sie war in meinem tristen Zwangsrekrutendasein ein strahlender Stern der Sinnlichkeit. Aber Gisela war wie alle Weiber, treibt sich mit mir 14 Tage lang in der Fremde im Heu herum, wälzt sich von einem Orgasmus in den nächsten, teilt mir Wochen auf meine Rendezvousgesuche lapidar mit, sie habe sich wieder mit ihrem Mann versöhnt.
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Bei der NVA gab es damals 21 Tage Urlaub während der ersten 18 Monate Grundwehrdienst. Diese sollten alle sechs Monate zu je sieben Tagen genommen werden. Für brave Soldaten gab es noch jede Menge Sonderurlaube und Ausgänge über Nacht und Wochenendurlaube, jedoch immer in dieser schrecklichen Ausgehuniform. In der dritten Oktoberdekade bekam ich meinen Halbjahresurlaub von sieben Tagen.
Ich nahm am ersten Urlaubstag den Mittagszug (die anderen Urlauber waren schon am Vortag nach Dienstschluss gegen 20.00 Uhr gefahren), weil der um 22.06 Uhr in Dresden ankommen würde und ich mich dann, ungesehen von den Dresdnern, durch den Großen Garten in die Winterbergstraße schleichen konnte.
Zu Hause – sofort die Uniform vom Leibe gerissen und zivile Klamotten aus dem Schrank geholt. Das war zwar verboten, da es aber alle so taten, war es kaum zu kontrollieren und ergo auch nicht zu verfolgen.
Natürlich besuchte ich am nächsten Tag sofort Bruni auf ihrer Arbeitsstelle, wo sie die letzten Tage noch im Büro tätig war. Sie hatte aber eine Lebensentscheidung getroffen; alle meine Beteuerungen verfehlten ihre Wirkung. Ich brachte sie noch nach Hause, in das bescheidene Häuschen ihrer Eltern. Viele Frauen werden in der Schwangerschaft unförmig, anders Bruni, sie wurde immer schöner – wie eine Madonna.
Letztmalig umarmten wir uns und vergossen zwei oder drei Tränen.
Um nicht in Gruna gesehen zu werden, trieb ich mich in den nächsten fünf Tagen in der Umgebung Dresdens herum oder ging an der Peripherie der Stadt ins Kino. Vater hatte nämlich jedem, der nach mir fragte, gesagt: „Der sitzt.“ Im Knast sitzen galt bei vielen Arbeitern, von denen einige schon zwei Kriege miterlebt hatten, als ehrenvoller denn in dieser Armee zu dienen.
Am Sonntagmorgen vor 4.00 Uhr schlich ich mich wieder in meiner NVA-Uniform aus dem Haus, die Winterbergstraße entlang, durch den Großen Garten und nahm den ersten Zug in Richtung Norden. Als ich am späten Nachmittag in der Kaserne eintraf, herrschte Staunen am Kontrollpunkt; die anderen erschienen erst am nächsten Tag gegen 7.00 Uhr zum Dienstantritt.
Regimentsbibliothekar
Der trübe November war nun da, die Neuen, „Spritzer“ genannt, trafen in der Kaserne ein. Der Stumpfsinn sollte für mich noch ein ganzes Jahr währen. Ich besuchte daher oft die Regimentsbibliothek, die neben Agitationsliteratur in Sachbuch- und belletristischer Form auch eine Fülle von Klassikern, in- und ausländische Autoren in ihren Regalen stehen hatte. Ebenfalls standen Lexika und Sachbücher militärischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Inhalts dort zur Einsicht und Ausleihe bereit.
Eines Tages, Anfang November, sprach mich der Politoffizier des AR 9 ebendort an: „Genosse Kanonier, ich sehe Sie oft hier, trauen Sie sich zu, die Bibliothek zu leiten?“ – „Natürlich kann ich das!“ Er griff ins Regal und holte ein Buch heraus mit dem Titel „Der Tod heißt Engelchen.“ Er fragte: „Haben Sie das gelesen?“ Ich sagte: „Ja, natürlich!“ „Es heißt: Ja, Genosse Oberstleutnant!“, verbesserte er mich. Ich hatte das Machwerk freilich nicht gelesen, aber die Verfilmung gesehen. Dann ließ er mich eine knappe Inhaltsangabe machen und sprach: „Gut, ich werde mit Ihrem Batteriechef reden, wenn der nichts dagegen hat, sind Sie ab übermorgen hier Regimentsbibliothekar!“
Die meisten Soldaten hielten es nicht für möglich, doch der Stabschef, Major Kaspar, hatte sich mit seiner unförmigen Gattin, die sonst hier Bibliothekarin war, geschlechtlich vereinigt und sie dabei geschwängert, so dass sie für die nächste Zeit pausieren musste.
Zwei Tage später schritt ich nach Frühsport und Frühstück in die Regimentsbibliothek. Hier übergab mir die Gattin des Stabschefs die Schlüssel für die Räume; ich übernahm die Leser- und die Bücherkartei sowie eine Kiste mit den geheimen Gefechts-Dienstvorschriften, die ich bei jedem Gefechtsalarm zum Führungsfahrzeug des Regiments zu tragen hatte. Deren Verwahrung und Übergabe bei Alarm war nun meine einzige militärische Aufgabe.
Vergeblich versuchte ich an der Frau des Majors die Schwangerschaft zu entdecken, musste einfach glauben, was mir gesagt worden war. Den gesegneten Leib, mit dem Bruni mein Kind unter dem Herzen trug, vermisste ich bei der Stabschefsgattin gänzlich.
Nachdem ich die Leser-Karteikästen in eine alphabetische Ordnung gebracht hatte, worüber der Vormittag vergangen war, kamen zur Mittagspause die ersten Leser, brachten Bücher zurück und wählten neue aus. Hin und wieder holte ein Leser meinen Rat ein. Nach Dienstschluss füllte sich der Raum, so dass ich richtig zu tun bekam.
Zwischendurch machte ich mich daran, die zahllosen noch nicht erfassten Bücher, die meine Vorgängerin noch nicht einmal ausgepackt hatte, und die in hohen Stapeln in einem Nebenraum lagerten, aufzunehmen und in die Bücherkartei einzutragen. Nachdem ich den Ausleihzettel in den Vorsatz geklebt hatte, ordnete ich die Bücher in die Regale ein. Es war eine angenehme und leichte Arbeit, die ich durch meine pfiffige Antwort an den Politnik ergattert hatte. Zudem interessant – viele Karten der Leserkartei gingen zurück bis ins Gründungsjahr der Schule der Kasernierten Volkspolizei in Eggesin im Jahre 1951. Auf den Karten waren Name, Geburtsdatum, Dienstgrad, Einheit und Beruf angegeben. Es erstaunte mich schon sehr, dass bei den meisten Offizieren als Bezeichnung des Berufs „ohne“ stand. Erst die jüngeren Offiziere waren angehalten worden, „Offizier der NVA“ als Berufsbezeichnung anzugeben.
Bis kurz vor Weihnachten benötigte ich, um die druckfrisch gelieferten Bücher zu erfassen und Ordnung in die Bibliothek zu bringen.
Es war Anweisung, die Hauptwerke des Marxismus-Leninismus alle zehn Jahre zu erneuern, also die Exemplare auszuwechseln. Das waren: Marx/Engels „Gesammelte Werke in 18 Bänden“ und W. I. Lenin „Werke in 24 Bänden“. Die neuen Exemplare auszupacken, hatte meine Vorgängerin mir überlassen, aber auch, die alten zu entsorgen.
Alt? Laut eingeklebter Leihzettel hatte seit 1951 noch nicht einer diese herrlichen, in blauem und braunem Leder gebundenen und mit Goldschrift versehenen Bände in der Hand gehabt, die sollten nun ins Altpapier!
Heute sind diese Bände ein Vermögen wert, mancher Bourgeois schmückte gern für viel Geld damit sein Arbeitszimmer, quasi als Trophäe. Allerdings wiegen alle 42 Bände knapp zwei Zentner; solche Lasten kann man nicht einfach mit der Feldpost nach Hause schicken.
Ich schaute aber doch in meinen Mußestunden in die Marx-Engels-Bände, besonders das Frühwerk, intensiv hinein. Hochinteressant waren vor allem Marxens Gedanken zum Krimkrieg und zur Olmützer Vereinbarung, die für den historisch Interessierten eine wahre Fundgrube darstellten.
Die alten Bände wanderten ins Altpapier, und die neue Ausgabe von 1962 stand in den Regalen; ich verwaltete nun tatsächlich eine ordentliche Bücherei.
Nach wie vor aber sah ich meinen Dienst bei der NVA als Strafe des Schicksals an. Vor Weihnachten fragte mich der Spieß, ob ich über die Feiertage oder über den Jahreswechsel in Urlaub fahren wolle. „Ich fahre nicht in Urlaub!“, entgegnete ich.
Irgendwann hat der Spieß das wohl dem Batteriechef erzählt, und der sprach mich eines Tages unter vier Augen darauf an. Ich muss nochmal erwähnen, dass von den drei Offizieren der Batterie nur die beiden Unterleutnants Widerlinge waren; Oberleutnant Strohbusch war ein 28-jähriger, stuckiger Mann, der auf seine Art um Gerechtigkeit und Harmonie bemüht war. Er ertränkte aber die Tristesse seines Daseins oft im Alkohol, wie man sagte und wie ich nach meiner heutigen Kenntnis, wenn ich mir seine Physiognomie ins Gedächtnis rufe, auch sagen würde.
Er fragte mich nun, fast sanft, warum ich nicht mal raus wolle. Ich dachte: ‚Dem sagst du’s.‘ – „Ich schäme mich, Genosse Oberleutnant; wir sind eine alte Arbeiterfamilie, waren immer gegen’s Militär. Mein Vater erzählt jedem, der nach mir fragt, ich wäre im Knast. Da kann ich nicht einfach in Uniform aufkreuzen.“
Der Batteriechef hätte nun mit der „Armee der bewaffneten Arbeiter und Bauern“, die die NVA ja sein sollte, argumentieren können. Er sagte aber nur: „Ja, wenn das so ist, dann bleiben Sie eben da!“
Es wurde ein trauriges Weihnachten, so richtig für einen gemacht, der seine Feindschaft gegen das System schärfen will. Obendrein war es gesund: Ohne fettes Geflügel und ohne Alkohol, der für mich immer Genuss bedeutete, kein Mittel war, um Tiefpunkte zu verdrängen. Allerdings habe ich in dieser Zeit meine erste Zigarette geraucht.
An diesen Weihnachtstagen sah ich natürlich oft im Gemeinschaftsraum der Kaserne, in Traurigkeit und Vereinsamung, das DDR-Fernsehen. Die Programmgestalter aus Adlershof hatten sich am Nachmittag des Heiligabends etwas besonders Weihnachtliches ausgedacht. Man strahlte einen sowjetischen Propagandafilm aus, der die Stärke und Zerstörungskraft der Nuklearwaffen der Sowjetarmee zeigte. Hier verbrannten angepflockte Tiere in Sekundenschnelle zu Asche, und Nuklearstürme fegten ganze Landstriche mit Bäumen, Gebäuden und Fahrzeugen hinweg. Nie wieder in der Zeit des „Kalten Krieges“ zeigte man solche schrecklichen Bilder wie an diesem Weihnachten des Jahres 1964.
In den ersten Januartagen des Jahres 1965 teilte mir das Dresdner Jugendamt mit, dass Bruni am 21. Dezember 1964 mit einem Knaben niedergekommen war. Nebenbei hatte sich die NVA verpflichtet, die fälligen Alimente von 40 Mark monatlich für den wehrpflichtigen Vater des Kindes zu übernehmen.