Kitabı oku: «... und hinter uns die Heimat», sayfa 4
Trotzdem hatte sie schon nach wenigen Schultagen ihre ersten Pappenheimer erkannt, die entweder den Unterricht störten, in den Pausen Blödsinn machten oder ihre Hausaufgaben nicht erledigten. Es waren ausnahmslos Schüler der höheren Klassenstufe. Zudem hatte die junge Lehrerin das Gefühl, als wollten einige Schüler sie mit ihren Fragen auf die Probe stellen, doch Katharina wollte sich nicht so leicht geschlagen geben und paukte zu Hause in zahlreichen Fachbüchern.
Eines bereitete ihr aber doch ernste Sorgen. Täglich fehlten einige Schüler unentschuldigt. Es lag einfach daran, dass die Kinder ihren Müttern und Großeltern bei der Landwirtschaft oder im Haushalt helfen mussten, weil die Väter an der Front waren. Katharina nahm sich vor, mit den Müttern zu sprechen, bei deren Kindern dies besonders häufig vorkam.
Zunehmend richteten sich die Streiche einiger Laukse direkt gegen die neue Lehrerin, die abends sogar manchmal ein paar Tränen vergoss. Marie Schimkus bemerkte die Veränderung der jungen Frau und bot ihr an, sich bei ihr auszusprechen. Katharina wollte ihre Sorgen eigentlich für sich behalten, doch nach dem Angebot ihrer Wirtin war sie froh, ihr Herz ausschütten zu dürfen.
Die Witwe riet ihr, erst einmal die nahen Herbstferien abzuwarten und dann ihre Vorgehensweise zu entscheiden und sollte sich bis dahin kein Ergebnis einstellen, würde sie dann nach dem Sonntagsgottesdienst einmal mit dem Pfarrer sprechen. Er hatte auf die Frauen im Dorf einen gewissen Einfluss und würde ihnen dann schon eine »Predigt« halten. Außerdem könnte sie selbst ebenfalls mit den Müttern der größten Lorbasse reden, doch Katharina entschied sich, das Problem allein zu lösen.
Auch ihr Lehrerkollege nahm die mentalen Veränderungen seiner jungen Kollegin war und sprach sie eines Tages darauf an. Zunächst zögerte Katharina, ihrem Kollegen von ihren Sorgen zu berichten, doch schließlich fasste sie sich ein Herz.
Herr Graudenz fragte Katharina, wie denn die Bestrafungen der Übeltäter aussahen, die seine junge Kollegin durchführte.
»Na ja, so die allgemeinen Strafen halt«, antwortete Katharina zögernd, »Sonderaufgaben oder Nachsitzen. Aber die Strafaufgaben werden von den Schwerenötern so gut wie nie erledigt, und dem Nachsitzen entzogen sie sich oftmals durch Flucht.«
»Wissen Sie, liebe Kollegin, die Kinder haben einfach nicht genügend Respekt vor Ihnen. So lange Sie keinen Rohrstock auf ihren Hosenböden tanzen lassen, werden Sie die Rabauken nicht in den Griff bekommen. Ich sage es nicht gern, aber bei manchen Burschen hilft wirklich nur der Penter, das schreckt auch andere potentielle Missetäter ab, glauben sie es mir!«
Katharina konnte sich trotz dieses Ratschlages nicht dazu entschließen, sich so einen Rohrstock zu besorgen.
Ihr widerstrebte es, ihre Autorität mit Prügel durchzusetzen, doch nach immer derberen Streichen einiger besonders wilder Schüler war sie froh, als die Herbstferien begannen und ihr ein wenig Ruhe brachten.
Kurzfristig entschloss sie sich, ihre Eltern in Köln zu besuchen, und sie lud ihre Wirtin ein, sie zu begleiten. Nach kurzer Überlegung stimmte Frau Schimkus tatsächlich zu.
Ein paar Tage vor der geplanten Reise erreichte Katharina ein Brief vom Schulamt in Königsberg. Darin wurde ihr mitgeteilt, dass sie zu einem Lehrerkongress in Heiligenbeil eingeladen war. Bei jener Lehrerkonferenz sollten die Lehrer aus den anderen Landesteilen Deutschlands die Gelegenheit bekommen, sich gegenseitig kennenzulernen und mit der Unterrichtsweise in den ostpreußischen Schulen vertraut zu machen. Außerdem sollte der Arbeitsplan für die einzelnen Klassenstufen besprochen werden. Die Lehrerin freute sich auf diese Tagung, denn sie versprach sich von ihr Anregungen für ihre Arbeit.
Tatsächlich schloss sie einige interessante Bekanntschaften, tauschte Adressen mit Kolleginnen aus und war mit dem Ausgang dieser Tagung recht zufrieden. Katharina war erstaunt, wie viele Lehrer aus dem westlichen Teil Deutschlands dem Aufruf gefolgt waren, die Lücke der fehlenden Lehrkräfte in Ostpreußen zu schließen.
Bereits am ersten Tag versuchte ein junger Mann, mit Katharina anzubändeln, doch sie verstand es geschickt, den plumpen Annäherungsversuchen auszuweichen.
Da freundete sie sich lieber mit anderen Leuten an.
Da war zum Beispiel der schlaksige jungen Mann aus Westfalen, der einen viel zu weiten Anzug trug, aber unentwegt Witze erzählen konnte. Oder die kleine kesse Blondine aus Berlin, die heimlich auf der Toilette rauchte, oder der Hamburger, der abends beim Bier in dem kleinen Lokal am Markt am Klavier Seemannslieder sang, aber am nächsten Tag während des Kongresses immerzu einnickte. Oder aber auch die beiden Freundinnen aus München, die mit ihrem lustigen Dialekt die ganze Runde unterhielten und die Katharina im Flur der Gaststätte überraschte, als sie sich innig küssten, doch von ihr hatte niemand etwas darüber erfahren. Warum sollte eine Frau nicht eine andere Frau lieben, nur öffentlich zeigen durften sie es nicht, sonst drohte eine Anklage wegen Rassenschande.
Eines missfiel ihr allerdings und das war die Aufforderung, dass sich jeder Lehrer außerhalb seiner Dienstpflicht zusätzlich gesellschaftlich betätigen sollte.
Den jungen Lehrerinnen hatte man eine Mitgliedschaft beim BDM an das Herz gelegt, dort würden immer Führungskräfte in den Ortsgruppen gesucht. Nun musste sie versuchen, diese Klippe irgendwie zu umschiffen, denn politisch wollte sie sich auf keinen Fall betätigen. Wenn auch die Aktivitäten und Veranstaltungen im BDM vordergründig keine politischen Absichten erkennen ließen, Wandern, Handarbeit, Liederabende, Gymnastik zur Körperertüchtigung oder kleine Theateraufführungen waren ja sinnvolle Beschäftigungen, lief die Mitgliedschaft letztendlich darauf hinaus, die Mädchen in dieser Gemeinschaft ideologisch zu beeinflussen.
Wochenendschulungen und Heimabende mussten von den Gruppenleiterinnen organisiert beziehungsweise selbstständig durchgeführt werden, doch gerade die Wochenenden benötigte die Lehrerin für Vorbereitungsarbeiten auf den Lehrstoff der Schule und nicht zuletzt natürlich, um sich ein wenig zu erholen. Katharina hoffte auf den Wahrheitsgehalt des Sprichwortes, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde.
Ein paar Tage vor der Abreise der beiden Frauen nach Köln erreichte Frau Schimkus ein Brief, der verhinderte, dass sie Katharina nach Köln begleiten konnte.
Doch der Hinderungsgrund war für die Frau zugleich eine Riesenfreude. Endlich, nach unsäglichen Wochen des Zweifelns, Bangens und Hoffens, erhielt sie einen Brief von ihrem Sohn Wolfgang, der nach einer überstandenen Ruhr auf Genesungsurlaub kommen würde. Die Freude der Frau war grenzenlos und Katharina freute sich ebenfalls. Noch nie hatte sie ihre Wirtin so unbeschwert erlebt, nicht einmal bei ihren gemeinsamen Ausflügen. Da Frau Schimkus zu Hause blieb, bat Katharina sie, sich um ihren Gummibaum zu kümmern. Die Pflege der Pflanze hatte sie für die Zeit der Ferien eigentlich Herrn Graudenz zugedacht, doch der würde sicher nicht böse sein, wenn seine Kollegin ihn von dieser Bürde befreite. Kurzerhand eilte die Lehrerin in die Schule und holte dort ihren Gummibaum ab.
ZU BESUCH IN KÖLN
Bereits am ersten Ferientag stieg Katharina in den Zug, jedoch nicht, ohne sich ausgiebig von ihrer Wirtin verabschiedet und ihr unbekannterweise Grüße an deren Sohn ausgerichtet zu haben. Ihren Eltern hatte sie ein Telegramm mit der Mitteilung ihrer Ankunft gesendet.
Im Zug nach Heiligenbeil befanden sich viele Soldaten, die wohl alle dasselbe Ziel hatten, nämlich den Fliegerhorst.
Einer der Soldaten reichte der jungen Frau das Gepäck vom Bahnsteig durch ein Abteilfenster in den Zug, ein anderer Soldat nahm es drinnen ab. Nun musste sich Katharina noch durch die Massen quälen, ehe sie schließlich im Gang bei ihrem Gepäck anlangte. Zum Glück war die Fahrt bis Heiligenbeil nicht sehr weit.
Ihre Hoffnung, in Heiligenbeil einen Sitzplatz zu bekommen erfüllte sich leider nicht, denn in Königsberg schien die gesamte Garnison in den Zug Richtung Westen gestiegen zu sein. Irgendwann, als ihre Füße bereits furchtbar schmerzten, leerte sich das Abteil etwas, vor dem sie stand, doch sie musste ein wenig drängeln, um darin einen Platz zu bekommen. Sie saß nahe am Gang, doch ein älterer Herr bot ihr seinen Fensterplatz an. Katharina war ihm dankbar, denn sie war vom Stehen so müde, dass sie ihren Kopf gern an das Polster am Fenster gebettet hätte. Als sie jedoch aus dem Fenster schaute, war ihre Müdigkeit wie fortgeblasen.
Draußen schien die Landschaft an ihr vorüber zu sausen. Waren nicht erst ein paar Wochen vergangen, seit sie die Fahrt in die Gegenrichtung unternommen hatte? Ihr kam das Land bereits so vertraut vor, und sie konnte sich sogar vorstellen, in diesem Landstrich zu leben, obwohl sie auch immer wieder Heimweh nach Köln hatte.
Zweimal musste Katharina noch umsteigen, doch endlich fuhr der Zug in die Außenbezirke von Köln ein.
Kleingartenparzellen säumten die Gleise, aber schon bald tauchten die großen Mietshäuser der Stadt auf.
Der Zug durchfuhr den Stadtteil Deutz und erreichte pünktlich den Hauptbahnhof.
Ob sie wohl vom Bahnhof abgeholt werden würde? Katharina war aufgeregt, wie ein kleines Mädchen, das ihre erste Reise gemacht hatte.
Als sie aus dem Zug gestiegen war, reichte ihr ein Soldat, der seinen linken Arm in einem dicken Gipsverband trug, ihren Koffer herab auf den Bahnsteig. Das Mädchen bedankte sich freundlich und schaute sich auf dem Bahnsteig um. Da sah sie mitten in der Menge einen Mann auf sich zueilen, den sie unter Tausenden blind erkannt hätte- ihren Vater.
Beide fielen sich um den Hals und der jungen Frau schossen Tränen in die Augen. Sie war glücklich, ihren Vater zu sehen und zu wissen, dass ihre Eltern die schwere Zeit bisher unbeschadet überstanden hatten.
Auf dem Weg nach Hause stellte Katharina fest, dass ihre schöne Stadt sehr gelitten hatte. Rings um den Dom waren viele Häuser zerstört und es tat ihr weh. Hoffentlich nahm der Krieg bald ein Ende!
Das Wiedersehen mit der Mutter war ebenso emotional, wie das mit dem Vater. Elfriede Knieschitz erwartete ihre Tochter in der Küche mit einem frisch gebackenen Streuselkuchen. Unruhig ruckelte sie auf ihrem Stuhl hin und her, bis sie endlich Schritte auf der Treppe hörte. Nun hielt es die Frau natürlich nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie riss die Küchentüre auf und fiel ihrer Tochter noch auf der Treppe um den Hals. Frau Knieschitz schluchzte vor Rührung und über ihre Wangen kullerten riesige Freudentränen. Kaum dass ihre Tochter die Sachen abgelegt hatte, musste sie ihren Eltern ausführlich von ihrem Leben in Loditten erzählen.
Katharina schielte dabei immer auf den Kuchen, bis ihre Mutter bemerkte, dass sie ja noch gar keinen Kaffee gekocht hatte.
»Mein Gott, ich sitze hier in aller Ruhe und du hast sicher Appetit auf den Kuchen. Vater, gib doch mal den Kaffee aus dem Küchenschrank, aber den Guten!«
Hastig lief sie zum Herd, füllte heißes Wasser aus der Ofenpfanne in den Pfeifkessel, stellte ihn auf die heißen Ofenplatten und bereits zwei Minuten später kochte das Wasser darin. Nachdem sie den Bohnenkaffee gebrüht hatte saß die Familie um den Küchentisch herum und aß den Streuselkuchen. Und es war das erste Mal, dass Frau Knieschitz ihre Tochter nicht rügte, weil sie mit vollem Mund sprach.
Katharina wollte all ihre Erlebnisse erzählen, doch an einem Nachmittag war das gar nicht möglich. Zum Glück blieb sie zwei Wochen und da sollte es noch genügend Gelegenheit zum Klönen geben.
Außerdem wollte sie alle Freundinnen besuchen, mit ihren Eltern in den Zoo gehen und sie würde natürlich auch Tante Ida einen Besuch abstatten und auch Onkel Herbert.
Katharina fielen noch viele Dinge ein, die sie als Kind gern getan hatte und nun auch gern wieder tun würde. Sie wunderte sich ein wenig über sich selbst. Noch vor wenigen Wochen hatte sie die Gelegenheit, all das zu tun, ungenutzt verstreichen lassen, doch erst ein Aufenthalt, weit weg von zu Hause, hatte ihre Begehrlichkeiten geweckt und zahlreiche Erinnerungen an die Oberfläche gespült.
Zwei Wochen können so kurz sein! Katharina hatte mit ihren Eltern tatsächlich einen Besuch im Zoo machen können, sie hatte ein paar Freundinnen besucht und hatte sich gemeinsam mit ihrer Mutter im Kino einen lustigen Film mit Heinz Rühmann angesehen.
Für Stunden hatten sie den Krieg vergessen.
Nun saß die junge Frau bereits wieder im Zug nach Berlin.
Es war Freitagmorgen und am Montag begann wieder der Unterricht. Katharina hatte die Verabschiedung von ihren Eltern tapfer hinter sich gebracht und freute sich sogar ein bisschen auf Loditten, das sie bereits als ihre zweite Heimat ansah. Der nächste Urlaub würde erst wieder in den Weihnachtsferien anstehen, doch da in Köln immer wieder mit Fliegerangriffen zu rechnen war, hätte sie es gern gesehen, dass ihre Eltern sie in ihrer neuen Heimat besuchten.
Die Versorgung auf dem Land war ungleich besser als in der leidgeprüften Riesenstadt Köln und außerdem könnten ihre Eltern bei ihr ein paar friedliche Tage verleben.
Die Antwort der Mutter stand beim Abschied immer noch aus, sie konnte sich einfach nicht entschließen, eine so weite Zugreise zu unternehmen. Nun hoffte Katharina auf die Überredungskünste ihres Vaters.
Der Besuch bei Tante Ida war sehr schön, sie war vom Besuch ihrer Nichte völlig überrascht worden. Ebenso wie bei ihrer Schwester kullerten auch bei Tante Ida die Freudentränen über die Wangen. Für sie war ihre Nichte fast wie ein eigenes Kind, das ihr der liebe Gott leider nicht geschenkt hatte.
Darüber war auch ihre Ehe zerbrochen, denn ihr Mann hatte sich so sehr Kinder gewünscht. Nun wohnte er seit Jahren zwei Straßen neben seiner geschiedenen Frau, doch er würde gern wieder mit ihr zusammen leben, allein Tante Idas Verletztheit und ihr Stolz hatten das bisher verhindert.
Katharina hatte auch ihren Onkel Herbert besucht, der vor Freude darüber sogar ein paar Tränchen vergoss.
Bereits in der Vergangenheit hatte Katharina den einsamen Mann heimlich besucht, doch weder ihren Eltern noch Tante Ida erzählte sie davon. Tante Ida wollte von ihrer Nichte alles über Ostpreußen wissen, denn als jung vermähltes Ehepaar hatten sie und ihr Mann einmal Urlaub im masurischen Seenland gemacht und sie hatte diesen schönen Urlaub nie vergessen.
Bereitwillig erzählte Katharina ihrer Tante all das, was sie ihr in ihren Briefen längst geschrieben hatte. Sie berichtete von ihrer Arbeit, von den Menschen und sehr ausgiebig von der Schönheit dieses Landstriches und über Tante Idas Antlitz hatte sich ein seliger Gesichtsausdruck in Erinnerung ihrer eigenen Erlebnisse gelegt.
Inzwischen fuhr der Zug in den Bahnhof von Berlin-Spandau ein.
Katharina hatte bereits in ihrem Urlaub beschlossen, der Witwe Kleinschmidt einen Besuch abzustatten.
Als die junge Lehrerin das Bahnhofsgebäude verließ, pfiff ihr ein kühler Wind entgegen. Es regnete und auf den Pfützen bildeten sich große Blasen, ein Zeichen dafür, dass der Regen nicht gleich aufhören würde. Katharina schlug ihren Mantelkragen hoch und wartete auf ein Taxi.
Völlig durchgefroren saß sie ein paar Minuten später in einem Wagen, der sie zu Frau Kleinschmidt fuhr.
Ein wenig unsicher betätigte die junge Frau die Klingel an der Tür. Wie wird Frau Kleinschmidt auf den überfallartigen Besuch reagieren. Kam der Besuch ungelegen oder würde die ältere Dame sich freuen? Nach wenigen Sekunden hörte sie die kräftige Stimme der Witwe. »Momentchen, ick komme ja schon. Eene alte Frau ist ja schließlich keen D-Zug.«
Katharina musste lächeln. Genauso hatte sie Frau Kleinschmidt in Erinnerung, resolut, laut, aber herzlich.
Als die Witwe die Tür öffnete, starrte sie Katharina erst einmal ein paar Sekunden ungläubig an, doch dann brach es aus ihr heraus. »Na det is ja vielleicht ne Überraschung. Komm rin, meene Kleene. Bist ja janz nass und durchjefroren. Haste wieder zur ollen Kleinschmidten jefunden? Da freu ick mir aba, dass du mir nich vajessen hast.«
Ehe Katharina wusste, wie ihr geschah, nahm die Frau sie in die Arme und drückte sie an ihre gewaltige Brust. Die junge Frau war von der ehrlichen Freude gerührt. »Ick koch uns jleich Kaffe, ick hab noch eenen janz juten, direkt aus Holland. Jib mal deinen Koffa her.«
Katharina wusste, dass bei Frau Kleinschmidt Widerworte keinen Sinn hatten und überließ ihr den Koffer.
Als der Kaffee in den Tassen duftete, fragte die Pensionswirtin interessiert: »Wie lange kannste bleiben?«
»Eigentlich hätte ich direkt weiterfahren müssen, aber wenn ich morgen früh fahre, komme ich auch noch zurecht«, antwortete Katharina.
»Wann beginnt denn dein Unterricht?«, bohrte Frau Kleinschmidt weiter.
»Am Montag«, erwiderte die junge Frau kurz.
»Na siehste, da kannste am Sonntag mit dem Frühzug fahren und bist am Nachmittag da, und wir können uns zwee jemütliche Tage machen«, schlug die Frau vor.
»Hoffentlich klappt das mit dem Zug auch, ich möchte keinen Ärger bekommen«, gab Katharina zu bedenken.
»Ach wat, warum soll det nich klappen? Und wenn nich, ist det ooch keen Beenbruch. Du lässt dir dann eben die Zugverspätungen vom Bahnhofsvorsteher schriftlich bestätijen. Zur Not haben deine Rangen eenen Ferientag mehr. Außerdem ist die Bahn of der Strecke von Berlin nach Königsberg bisher immer pünktlich jewesen, meent meene Schwester wenigstens. Wat sachste nu dazu?«
Katharina überlegte einen Augenblick und erklärte sich schließlich einverstanden.
Sie baute einfach auf die Pünktlichkeit der Deutschen Reichsbahn. Außerdem musste sie diesmal nicht bis Königsberg reisen, sondern konnte gleich ab Heiligenbeil nach Zinten fahren. Allerdings müsste sie sich von dort ein Taxi nehmen, aber dieser kleine finanzielle Mehraufwand war ihr das Angebot der Witwe wert. Lächelnd sagte sie: »Also gut. Ich schaue mal in mein Kursbuch, wann von Heiligenbeil ein Zug nach Zinten fährt.«
Die junge Frau kramte ihr dünnes Kursbuch hervor, in dem alle Verbindungen auf den ostpreußischen Bahnstrecken, so wie die wichtigsten Fernverbindungen verzeichnet waren und verkündete nach einem Blick auf die Strecke Heiligenbeil – Preußisch Eylau: »Von Heiligenbeil nach Zinten fahren am Nachmittag zwei Züge. Einer um vierzehn Uhr fünfunddreißig, den werde ich wohl nicht schaffen, der zweite Zug fährt um achtzehn Uhr sieben und ist kurz vor neunzehn Uhr in Zinten, den schaffe ich aber. Wenn ich dann gleich ein Taxi bekomme, bin ich pünktlich genug zu Hause.«
»Prima, meene Kleene, da machen wir beede et uns bei mir so richtich jemütlich«, freute sich Frau Kleinschmidt ehrlich.
Sie war so in Katharina vernarrt und hätte sich die junge Frau als Nichte oder gar als Tochter vorstellen können.
Bei dem Gedanken daran dachte sie auch an ihre eigene Tochter, die seit langem keine Zeit mehr für ihre Mutter gefunden hatte und mit der sie nur ab und zu einmal telefonierte, und plötzlich traten Tränen in ihre Augen. Verlegen wandte sie sich ab, zog ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und schnäuzte sich.
Katharina bemerkte die Stimmungsveränderung der Frau, steckte aber ihr Näschen in die Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Sie wollte die Frau nicht noch verlegener machen, als sie ohnehin bereits war.
Nach wenigen Sekunden hatte sich Frau Kleinschmidt wieder beruhigt und sagte in ihrer unvergleichlichen Art:
»Ach, ick olle Doofe, ick habe so lieben Besuch und heule hier rum. Nu erzähle aber ma wat von dir.«
Katharina kam dem Wunsch sehr gern nach und die beiden Frauen verbrachten einen angenehmen Nachmittag. Am Abend machte Frau Kleinschmidt sogar eine Flasche Rotwein auf. Stunden später fiel Katharina nach einer Katzenwäsche schließlich todmüde und ein wenig beschwipst in ihr Bett.
Am Samstag kochten die beiden Frauen gemeinsam Berliner Buletten und Stampfkartoffeln mit Sauerkraut.
Frau Kleinschmidt hatte sich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt und Katharina gab sich alle Mühe der Frau so viel Arbeit wie möglich abzunehmen.
Auch der Samstag verging wie im Flug, und da die junge Frau am nächsten Tag den Frühzug nehmen wollte, wurde dieser Abend auch nicht so lang.
Der Abschied am nächsten Morgen war sehr emotional.
Frau Kleinschmidt nahm Katharina in ihre Arme und küsste sie auf beide Wangen. »Pass off dir uff, meene Kleene und bleib’ schön jesund. Vielleicht komm’ ick dir mal besuchen, wenn ick im Frühjahr zu meene Schwester nach Elbing fahre. Ick will doch ma sehen, wie du so lebst.«
»Da würde ich mich aber sehr freuen, Mutter Kleinschmidt«, antwortete Katharina begeistert. »Du wirst sehen, dass es in Loditten sehr schön ist und sehr ruhig.«
Das »Du« und die Anrede »Mutter Kleinschmidt« hatte die Witwe der jungen Frau am Abend angeboten und Katharina hatte das Angebot gerührt angenommen.
»Na ja, Ruhe werd’ ick lange jenuch haben, wenn ick doot bin«, sagte die großstadterprobte Frau. »Aba ma frische Landluft schnappen, würde ick schon jerne.«
»Ich freue mich schon darauf«, sagte Katharina ehrlich, umarmte die Frau noch einmal und stieg in das bestellte Taxi.
Auf der Zugfahrt nach Heiligenbeil hatte Katharina viel Zeit zum Nachdenken.
Sie dachte an ihre Eltern, an Frau Schimkus, die sie ja am Abend wiedersehen würde, und an Mutter Kleinschmidt, doch sie dachte auch an die Kinder in ihrer Klasse und an den unseligen Krieg, der schon so viel Leid über die Menschen gebracht hatte. Hoffentlich würden alle Menschen, die sie liebte diesen Krieg gesund überstehen.
Mit diesen Gedanken war die junge Lehrerin eingeschlafen und erwachte erst, als auf dem Bahnhof Schlobitten eine Durchsage die Reisenden zum unverzüglichen Einsteigen aufforderte. Der Lautsprecher befand sich unmittelbar neben dem Fenster, hinter dem die junge Frau mit ihrem Kopf an die Lehne ihrer Sitzbank gesunken war. Katharina war es ein wenig peinlich, eingeschlafen zu sein und von den Mitreisenden gemustert zu werden. Sie orientierte sich, auf welcher Station sie sich befand und erkannte, dass der Zug bis Heiligenbeil nur noch eine dreiviertel Stunde benötigte.
Sie schaute aus dem Fenster und konnte bereits den Herbst erkennen, der die Blätter der Bäume bunt färbte. Bald wird es kalt werden, dachte sie.
Der Winter soll in Ostpreußen härter sein als im Westen Deutschlands. Sie war darauf gespannt.
Vor dem Bahnhof in Zinten standen zwei Taxis. Eines davon konnte sich Katharina sichern. Bereits ein paar Minuten später hatte sie Loditten erreicht. Der jungen Frau war es zumute, als käme sie nach Hause.