Kitabı oku: «Am Abgrund», sayfa 3
TAG DREI
AM NÄCHSTEN MORGEN führten zwei Uniformierte Kaspar Michael Leiblein in ein Vernehmungszimmer.
Kappe hatte eine Stenographin beauftragt, die Vernehmung des Inhaftierten zu protokollieren. «Alles, was gesagt wird, soll vollständig notiert werden», hatte er erklärt. Er wollte kein Risiko eingehen.
Hinter dem untersetzten, breitschultrigen Leiblein bauten sich die beiden Polizisten auf.
«Gibt es einen Termin für den Mann beim Untersuchungsrichter?», erkundigte sich Kappe.
«Unseres Wissens nicht», erwiderte einer der beiden.
Kappe grummelte. Das fing ja gut an. Er schaute sich den Häftling genauer an. Ein fleischiges Gesicht, beherrscht von dicken Augenbrauen. Vom früheren Vollbart des Mannes war ein Knebelbärtlein übrig geblieben. Graue Augen schauten sich ruhig um, aber Kappe wurde rasch klar, dass Leiblein nur unter Aufbietung aller Kräfte gelassen wirkte. Neben dem linken Auge klebte ein Pflaster. Auf dem linken Ohr ebenfalls. Die Haut unter dem rechten Auge hatte sich bläulich verfärbt.
Kappe begann mit der Vernehmung. «Sagen Sie mir Ihren Namen. Wo Sie geboren sind. Familienstand. Aufenthaltsort in Berlin, Zweck des Aufenthalts und gegebenenfalls Freunde oder Bekannte in Berlin. Haben Sie sich verletzt?»
Leiblein beantwortete alle Fragen mit belegter, leiser Stimme. Er habe sich nicht verletzt, sondern sei geschlagen worden.
Kappe schaute die beiden Polizisten an.
Die zuckten nur mit den Schultern.
«Was soll das denn? Keiner weiß was darüber? Wollt ihr mich vergackeiern?» Und an Leiblein gewandt: «Wer hat Sie verletzt?»
«Ich … hatte Besuch in der Zelle. Zwei haben auf mich eingeschlagen, einer hat zugeschaut und mir danach gesagt, ich könne die Tat ruhig zugeben, dann könne man vielleicht etwas für mich tun.»
«Was waren das für Leute, und wo waren die Justizwachtmeister?»
Wieder zuckten die Polizisten mit den Schultern. Das alles ging sie nichts an. Der Kommissar sollte nicht so ein Geschiss wegen dieses Kerls machen.
«Hatten Sie Besuch von meinen Kollegen, von der Polizei?»
«Das war keiner von der Schmier», antwortete der Zimmerer.
«Schmier?»
«Der Schmier, der Polizei», entgegnete Leiblein.
Kappe lehnte sich zurück. Was war das für ein Saftladen! Da spazierte mittlerweile jeder in Moabit rein und raus.
«Für das Protokoll: Die beiden anwesenden Polizeibeamten geben an, nichts über die Verletzungen des Untersuchungshäftlings Leiblein zu wissen.»
Wieder nickten beide.
«Nicken gibt’s im Protokoll nicht.»
«Wie die Verletzungen entstanden sind, wissen wir nicht», antwortete einer der beiden. «Als wir ihn holten, sah er schon so aus.»
«Fürs Protokoll: Es müsste ein Bericht des Moabiter Gefängnisarztes oder eines Sanitäters existieren, aus dem die Verletzungen von Herrn Leiblein hervorgehen. Bitte der Mordakte hinzufügen.» Kappe dachte kurz nach, dann fügte er noch hinzu: «Ebenfalls für das Protokoll: Es fehlt immer noch der Beschluss über die Inhaftierung in Moabit.» Er wandte sich an Leiblein: «Hat man Sie medizinisch versorgt? Haben Sie noch Schmerzen?»
Der Zimmerer schüttelte den Kopf, blickte vielsagend auf seine Hände und die Handschellen.
«Nein, die kann ich Ihnen nicht abnehmen lassen», sagte Kappe. «Haben Sie Bekannte oder Freunde in Berlin?»
«Herr Kaufmann in der Linienstraße … «
Die Antwort ließ Kappe aufblicken. «Kaufmann … Ist der Jude?»
«Ja.»
«Woher kennen Sie diesen Herrn Kaufmann?», hakte Kappe nach.
«Aus meiner Heimat. Er ist mit seiner Familie 1920 nach Berlin gegangen. Als Metzgermeister konnte er daheim nicht viel verdienen. Hier hatte er es geschafft.»
«Wieso hatte?», fragte Kappe.
«Weil er und seine Familie diesen Sommer auswandern», antwortete Leiblein. Auf Kappes fragenden Blick fügte er hinzu: «Er hat Adolf Hitlers Mein Kampf gelesen.»
Kappe runzelte die Stirn. «Ist das nicht etwas zu rasch reagiert?»
«Kaufmann ist mein Freund. Wir haben in derselben Kompanie gedient. Ich habe ihm auf die Frage, was er tun solle, geraten, Mein Kampf zu lesen.»
«Sie kennen das Buch also?»
«Ja. Ich habe es von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Und nun wandern die Kaufmanns aus. Das ist alles.»
Kappe wollte aufbrausen, blieb dann aber bei der ruhigen Gangart. Offenbar war der Inhaftierte so nicht zu erschüttern. «Erzählen Sie mir von der Baustelle, auf der Sie gearbeitet haben», fuhr er fort.
Leiblein schaute zum Fenster hinaus. «Die Firma hat mich eingestellt, weil ich gute Zeugnisse habe. Ich bin auf die Arbeit angewiesen», antwortete er. «Aber die Bodenverhältnisse hier in Berlin sind sehr schwierig. Der märkische Sand … Da kann es zu Fließsand-Unfällen wie gestern kommen. Wer hineingerät, ist verloren. Ein grausamer Tod …»
Kappe unterbrach ihn. «Sie haben gesehen, wie die beiden Arbeiter im Sand starben?»
«So genau nicht. Der Fließsand hat sie blitzschnell mitgerissen. Nur die Köpfe waren noch ein, zwei Sekunden im Sandstrudel zu sehen …»
«Haben die beiden um Hilfe geschrien?»
«Sicher. Es war eine Art Heulen. Waren Sie an der Front?»
«Nein.»
«Dann kennen Sie es nicht … dieses Heulen von Menschen, wenn sie den Tod vor Augen haben.»
«Wer befand sich außerdem auf der Baustelle?», wollte Kappe wissen.
«Eine Reihe Kameraden.» Leiblein zögerte. «Dann der Polier. Außerdem gab es einige Leute, die nicht vom Bau sind, aber sich da herumgetrieben haben. Die sind der Grund, warum ich hin und wieder laut geworden bin. Die haben da nichts zu suchen! Die stören nur. So etwas erhöht die Risiken.» Leiblein hatte seine Hände zu Fäusten geballt. «Ich habe versucht, die armen Kerle zu retten, das müssen Sie mir glauben.»
«Sie haben die beiden Arbeiter wirklich nicht in den Tod geschickt?», fragte Kappe eindringlich.
«Ich habe diesen armen Teufeln nichts getan! Das kann ich gar nicht. Ich kann keinem Kollegen befehlen, auf die Baustelle zu gehen. Das können nur Vorgesetzte. Wir haben Vorarbeiter. Poliere. Einen Bauleiter. Und Ingenieure. Mein Pech ist, dass der Polier meiner Schicht eine Flasche ist, dass der nicht viel taugt.»
«Wie gut kennen Sie den?»
«Nicht gut. Aber ich habe bessere Poliere gesehen.» Leiblein zuckte mit den Schultern.
«Wissen Sie, wie er heißt?»
«Natürlich. Er heißt Gießwein.»
«Wissen Sie, wo er wohnt?»
«Nein.»
«Hatten Sie Streit mit ihm?»
«Was heißt Streit?»
«Sind Sie politisch tätig?»
«Nein.»
«Also, weshalb haben Sie sich mit dem Polier gestritten?»
«Der kümmert sich nicht um seine Leute, obwohl das seine Aufgabe wäre. Das geht auch zu Lasten der Sicherheit.» Leiblein hatte schneller und lauter gesprochen. Mit beiden Händen hielt er sich den Kopf.
«Wollen Sie eine Pause machen?», fragte Kappe.
Leiblein schüttelte den Kopf. «Die Kollegen kamen immer häufiger zu mir, um mich zu fragen, wie man Spundwände so setzt, dass sie stabil bleiben.» Auf Kappes fragenden Blick hin erklärte er: «Das ist eine Wand aus einzelnen Holzbohlen, die miteinander verklammert sind.» Leiblein hob beide Unterarme. Er ballte die Hände zu halben Fäusten, schob die Finger der linken Kralle in die gebogene Handfläche der Rechten. «So müssen Sie sich das vorstellen. Zieht man an den Händen, verkrallen sich beide fest miteinander. Die Kollegen fragten mich, weil ich viele Jahre unter ähnlichen Bedingungen gearbeitet habe, im Bergbau. Wo ich herkomme, ist viel Rotsand im Boden. Da gibt es häufig Wassereinbrüche.»
«Der Name Leiblein klingt für Berliner Ohren reichlich fremd», wechselte Kappe nun das Thema.
Der Zimmerer schaute ihn ein wenig spöttisch an. «Daher weht der Wind», entgegnete er. «Ich habe mich schon gefragt, wann Sie damit kommen.» Er erlaubte sich einen Anf lug von Lächeln.
«Die Frage nach dem Namen zielt darauf, dass man uns landläufig ‹weiße Zigeuner› schimpft, was? Herr Kommissar, ich bin Deutscher. Meine Eltern sind Deutsche. Und deren Eltern waren der preußischen Obrigkeit untertan. Richtig ist, dass mein Vater sein Geld als Scherenschleifer verdient hat. Und dessen Vater auch. Und richtig ist ebenfalls, dass daheim in der Familie sowie rings um mich herum Rotwelsch gesprochen wurde. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.»
«Das ist Ihre Sichtweise. Andere meinen, Deutscher ist man durch Abstammung, Sprache, Arbeit und Überzeugung.»
«Wenn das so wäre, könnten Sie alle Deutschen in einem Wagen der Berliner Straßenbahn unterbringen.»
«Haben Sie eine Erklärung dafür, dass man Sie auf der Baustelle nicht schätzt, sondern für eine Art Ausländer hält?»
«Natürlich habe ich dafür eine Erklärung. Ich bin ja nicht blöde. Ich bin schlechtgemacht worden. In einer Kolonne, die mittlerweile anderswo eingesetzt wird, arbeitete ein Landsmann aus meiner Heimat. Der kennt mich. Zwischen seinem Dorf und meinem Dorf gibt es seit Generationen Streit. Wegen Grenzsteinen, die angeblich widerrechtlich versetzt wurden. Wegen einiger Tiere, die von der einen Weide verschwanden und dann auf einer anderen Weide wiederauftauchten. Sie müssen wissen, dass man bei uns daheim nichts zu verschenken hat. Der Verlust einer Kuh ist ein Schlag. Es gab auch immer wieder Streit wegen Töchtern, die gegen den Willen der Eltern über die Dorfgrenzen hinweg heirateten. Jedenfalls hat dieser Kerl aus meiner Heimat behauptet, ich sei kein Deutscher, sondern ein Zigeuner. Außerdem ein Messerstecher, hinterhältig, unzuverlässig, ein Betrüger. Ich habe mich um dieses Geschwätz nicht gekümmert, sondern meine Arbeit getan. Das war vielleicht ein Fehler.»
Kappe griff sich einige Blatt Papier und einen Bleistift und reichte sie dem Zimmerer. «Ich möchte, dass Sie mir aufschreiben, was auf in der Baugrube geschehen ist. Wo genau Sie und die anderen gestanden haben. Auch die Namen will ich wissen. Ich stelle sicher, dass man Ihnen den Stift lässt. Brauchen Sie sonst noch etwas?»
«Meine Frau will nächste Woche nach Berlin kommen. Diese Nachricht wurde Gehrcke überbracht, bei dem ich zur Untermiete wohne. Ein anständiger Kerl. Der hält mir auch mein Zimmer frei. Das sind überhaupt anständige Leute dort am Michaelkirchplatz.» Leiblein verstummte erschöpft.
Nachdem Kappe ein Schreiben formuliert hatte, in dem er an- wies, dass der Verdächtige aus dem Gefängnis in Moabit in eine Zelle des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz verlegt werden solle, kehrte er in sein Büro zurück. Er bat Galgenberg, sich am nächsten Tag Leibleins Zimmer anzuschauen. Ludwig Werneburg bat er, sich in der Heimat des Häftlings bei der Polizei zu erkundigen, ob gegen den Zimmerer etwas vorläge. Beide versprachen, diese Aufträge schnellstmöglich zu erledigen.
Dann teilte Werneburg Kappe und Galgenberg mit, dass die Kripobeamten in zwei Tagen eine Pflichtveranstaltung beim Statistischen Amt der Stadt Berlin hätten. «Das hat von Sonnenberg angeordnet», erklärte er. «Wir sollen unser Wissen über die Stadt und ihre Bewohner und besonders über die Arbeitsbeschaffung aufpolieren.»
Kappe verließ das Präsidium, um eine Runde um den Alexanderplatz zu spazieren. Das war nicht ungewöhnlich für ihn. In unregelmäßigen Abständen machte er sich für eine Stunde oder mehr davon. Keine langen Strecken, denn stundenlanges Herumlaufen mochte er nicht. Er müsse schon in der Woche so lange durch die Stadt laufen, dass ihm die Socken qualmten, entgegnete er, wenn Klara den Wunsch äußerte, sonntags zum Wandern in die Mark zu fahren. Nein, das war nichts für Kappe. Aber sein Spaziergang hatte mit einer Wanderung auch nichts gemein.
Auf dem Alexanderplatz ließ er die Augen aufmerksam wandern. Genau schaute er sich seine Umgebung an. Er blickte in die Fensterscheiben der Geschäfte. Schaute auf Automobile, die an ihm vorbeisausten.
Wie jeder, der langjährig bei der Kripo beschäftigt war, hatte er seine Bekanntschaften in anderen Milieus. Zuträger, Zuflüsterer. In manchen Fällen hatte er Gesetzesbrecher durch ein gutes Wort bei der Anklage vor längerer Strafe bewahren können. Solche Gefälligkeiten holte Kappe sich zurück.
Es gab aber auch ganz andere Fälle seit dem Januar 1933. Seit dieser Zeit traf sich Kappe auch mit einigen Männern, die bei SA und SS nicht gut angeschrieben waren. Die ihren Dienst quittiert hatten, weil sie sonst brutal aus ihrer Arbeit gedrängt worden wären.
Der Mann, den Kappe nun suchte, gehörte beiden Gruppen an: Er hatte sich der Bestechung schuldig gemacht, und er war ein Opfer der politischen Umstände.
Kappe suchte einen bestimmten Taxifahrer, der häufig am Alex unterwegs war. In der Nähe der Georgenkirche fand er dessen Auto, einen zum Viersitzer umgebauten alten Wanderer. Der Chauffeur wartete auf Kundschaft.
«Immer noch die alte Kiste? Irgendwann brechen Sie mit einem Fahrgast durch den Boden», begrüßte Kappe den Mann.
«Ich kann mir keinen neuen Wagen leisten. Wohin soll es denn heute gehen, Herr Kommissar?» Der Fahrer war früher Polizist gewesen. Er hatte sich seine Papiere beim Pförtner abholen dürfen, nachdem im Präsidium bekanntgeworden war, dass der Mann schon mal beide Augen zudrückte, aber im Gegenzug eine Hand aufhielt. Kappe wusste, dass der Kollege in einer schlimmen Zwickmühle steckte. Er hatte für seinen Bruder gebürgt. Der war zu Beginn der Wirtschaftskrise mit einer Geschäftsidee auf die Nase gefallen, hatte die Koffer gepackt und sich via Lissabon in die Pampa abgesetzt. Der Bürge musste die Geschichte ausbaden, für den Lebensunterhalt der Familie sorgen und die Schulden abtragen. Beides zusammen gab das Polizistengehalt nicht her. Daher die aufgehaltene Hand.
Kappe hatte versucht, im Präsidium die Wogen zu glätten. Vergeblich, denn der Kollege hatte dem republikanischen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold angehört. Das war den Nationalsozialisten natürlich ein Dorn im Auge gewesen.
«Wie gehen die Geschäfte?»
«Ich kann nicht klagen», erwiderte der Fahrer. «Ich bringe meine Familie schon durch. Wohin wollen Sie denn?»
«Nach Spandau. Ich muss Karl Heinrich sprechen.»
«Nach Spandau! Wie originell. Und gleich Karl Heinrich sprechen. Das könnte schwierig werden. Er ist in den letzten Wochen viel unterwegs. Sie können von Glück sprechen, dass Sie mich getroffen haben. Eigentlich hätte ich heute mit ihm nach Potsdam fahren sollen.»
«Wir versuchen einfach unser Glück», erwiderte Kappe. Schweigend fuhren sie über die Spandauer und die Charlottenburger Chaussee nach Spandau.
Kappe kannte Polizeimajor Karl Heinrich, seit dieser 1929 nach Berlin versetzt worden war. Als Revierleiter Unter den Linden. Seine Aufgabe, die Bannmeile um den Reichstag zu schützen, führte er gewissenhaft und nicht ohne Härte aus. Den Namen «Knüppelheinrich» hatte ihm der NS-Gauleiter von Berlin, Goebbels, dafür angehängt.
Die Kommunisten hatten diesen Schimpfnamen übernommen, weil er nicht lange fackelte, sondern die Gegner der Republik niederknüppeln ließ, sobald deren Demonstrationszüge in die Bannmeile drängten, um ihren Hass und ihre Verachtung für die Vertreter des Volkes im Reichstag hinauszuschreien. Heinrich wollte die Republik notfalls mit Waffengewalt verteidigen – erst recht gegen die braune Pest, wie er sagte. Er war einer der Aktiven des republikanischen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Der gebürtige Münchener war zwar SPD-Mitglied, jedoch keines, an dem seine Parteiführung große Freude hatte. «Reden, reden, reden, nix als reden», waren seine erbosten Worte. «Die haben die Republik aus unseren Händen gleiten lassen. Dabei ist sie das bisher Beste gewesen, was wir in unserer Geschichte hatten.» Freilich wurden die Nationalsozialisten bald auf ihn aufmerksam: 1932 wurde er aus dem Amt gejagt, und seitdem war er auf der Flucht vor der SS. Er hatte Kappe während ihres letzten Treffens anvertraut, er werde das Gefühl nicht los, rund um die Uhr beschattet zu werden.
Das Taxi hielt in der Spandauer Wilhelmstraße. Der Fahrer suchte eine Kneipe auf, um zu telefonieren. Kappe stieg ebenfalls aus, um sich die Beine zu vertreten. Kollegen hatten erzählt, vor dem Polizeirevier neben dem Rathaus wimmle es von SA-Männern. Doch an diesem Nachmittag wirkte alles friedlich. Die Bürgersteige waren belebt, vor manchen Geschäften drängten sich Frauen. «Wir treffen Heinrich auf dem Königsdamm an der Jungfernheide», eröffnete ihm der Fahrer bei seiner Rückkehr.
Über den Schuckertdamm gelangten sie zum Königsdamm, dort mussten sie warten. Kein Karl Heinrich war in Sicht.
«Das kann ja lustig werden», maulte der Fahrer.
Nach einiger Zeit näherte sich dem Auto ein heruntergekommener Kerl. «Bräuchte mal eine ordentliche Wäsche, der Wagen», sagte er mit einer tiefen Stimme. Es war tatsächlich Heinrich! Er stieg ein, setzte die Soldatenmütze ab und schälte sich aus dem schäbigen Mantel. Dann riss er sich den Bart aus dem Gesicht. «Hier anhalten!», befahl er. «Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie ein solcher Bart im Gesicht juckt.»
Kappe hatte wortlos zugesehen, wie der frühere Polizeimajor die Tarnung ablegte.
«Leider ist das kein Räuberspiel, Kappe. Der SD ist gerissen. Also muss ich gerissener sein. Was kann ich für Sie tun?»
«Das ist doch kein Zustand», entgegnete Kappe. «Sie können sich nicht über Monate oder Jahre verkleiden und durch die Stadt jagen lassen. Irgendwann tappen Sie in eine Falle, und dann ist Schluss. Warum versuchen Sie nicht, ins Ausland zu gelangen?»
«Das ist einfach: Weil ich meine Leute nicht zurücklassen werde», erwiderte Heinrich mit Nachdruck. «Weil ich nicht glauben will, dass die Nationalsozialisten lange am Ruder bleiben. Also, was kann ich für Sie tun? Ich habe nicht viel Zeit.»
Kappe schilderte in wenigen Worten, was passiert war. Er wollte wissen, wie er Leiblein helfen könne.
«Damit kommen Sie ausgerechnet zu mir?»
«Ja, zu Ihnen. Wenn ich mich im Wald verstecken will, dann frage ich den Förster oder noch besser den Wilderer. Keiner kennt die Nationalsozialisten so gut wie Sie. Außerdem wollte ich schauen, wie es Ihnen geht.»
«Das ist eine vertrackte Geschichte», erwiderte Heinrich nachdenklich. Er legte seine Verkleidung wieder an und bedeutete Kappe auszusteigen.
Sie gingen einige Meter, um unter vier Augen zu sprechen. Kappe sah, dass der Fahrer versuchte, in ihren Mienen zu lesen, um was sich das Gespräch drehen könnte, dann aber mit den Schultern zuckte, sich zurücklehnte und wartete.
Kurze Zeit später kehrten die beiden zurück. Kappe bezahlte den Fahrer und umarmte den früheren Polizeimajor zum Abschied. Dann machte er sich auf den Weg zum S-Bahnhof Jungfernheide, wo er die Ringbahn bis Gesundbrunnen nahm, um dort in die U-Bahn Richtung Alexanderplatz zu wechseln.
Während er auf eine U-Bahn wartete, schaute er sich um. Hier hatten sich früher viele Berliner Familien von der harten Arbeit unter der Woche erholt. Mittlerweile waren die Spazierwege und grünen Flächen immer stärker geschrumpft.
Kappe grinste. Claire Waldoffs Liedzeilen gingen ihm durch den Kopf: Wat braucht der Berliner, um glücklich zu sein/’ne Laube, ’n Zaun und ’n Beet. Und während er in der U-Bahn saß, setzte sich das Liedchen in seinem Kopf fest, wurde zum Ohrwurm . … ’ne Laube, ’n Zaun und ’n Beet.
Als Kappe abends nach Hause in die Große Frankfurter Straße trabte, drückten ihn trübe Gedanken. Nach dem Treffen mit Heinrich hatte er lange in seinem Büro gesessen und nachgedacht. Über Leiblein, über Heinrich, über seine eigene Lage. Früher hätte er sich zugetraut, den Fall mit seiner gesamten Energie anzugehen. Aber in diesem vergifteten Klima, nach seiner entwürdigenden Rückstufung, hatte er zu wenig Kraft. Es war schon anstrengend genug, den alltäglichen Fußangeln und Fallen auszuweichen.
Vorsorglich hatte er Polensky und Zöllner verboten, auch nur eine einzige Schaufel Sand umsetzen zu lassen, denn am nächsten Tag wollte er sich persönlich den Tatort ansehen. Er hatte sich außerdem vergewissert, dass Leiblein ärztlich versorgt worden war.
Im Laufe des Nachmittags hatte Kappe dann versucht, sich im Polizeipräsidium Aufschluss darüber zu verschaffen, wie im Fall des Zimmerers Leiblein die Fronten verliefen. Wenn schon SA-Obertruppführer Einsicht in die Akten der Polizei hatten, dann war davon auszugehen, dass die Leitung der Kripo über diesen Fall gesprochen hatte. Und davon erfuhren die Vorzimmer und persönlichen Mitarbeiter zuerst. Waren die eingeweiht, dann dauerte es nicht mehr lange, bis sich eine Kaskade an Gerüchten über die Abteilungen ergoss. Doch diesmal schien es wie verhext. Einige seiner Vertrauensleute waren nicht erreichbar, andere schützten Arbeit vor. Niemand wollte ihm etwas zustecken. Eine böse Ahnung stieg in ihm auf: Wussten die anderen etwas, das ihm verborgen blieb? Es war sein Instinkt, der ihn aus seinen trüben Gedanken während des Heimwegs riss. Kappe fühlte einen Verfolger hinter sich und war von einer Sekunde zur anderen hellwach. Er bog gemächlich nach links um die nächste Ecke, rannte dann rasch über die Straße, um rechts um eine weitere Ecke zu verschwinden. Dort musste Kappe nicht lange warten: Ein ziemlich großer Unbekannter bog um die Ecke.
Kappe stellte sich ihm in den Weg und zückte die Marke.
«Den Ausweis, aber schnell! Sonst lass ich die Kollegen kommen, und Sie landen in der grünen Minna.»
«Nein, das brauchen Sie nicht.» Der Mann hob abwehrend beide Hände. Die Ärmel seiner Jacke waren zu kurz, der Kragen seines weißen Hemdes stand offen.
«Warum folgen Sie mir, was wollen Sie von mir?», fragte Kappes gereizt.
«Ich heiße Oskar Kaufmann und bin ein Freund Kaspar Leibleins aus der Eifel», begann der Fremde und lüftete kurz seinen Hut.
«Ich habe gehört, dass der Fall auf Ihrem Schreibtisch liegt. Im Präsidium hat mir ein Kollege von Ihnen gesagt, Sie wären schon auf dem Weg nach Hause, wenn ich mich beeilen würde, könnte ich Sie aber noch einholen. Als ich jedoch sah, wie abweisend Sie wirken, habe ich gezögert, Sie anzusprechen.»
«Sie haben mich verfolgt!» Kappe war empört.
«Ich will nichts Böses», versicherte Kaufmann schnell. «Ich möchte nur Kaspar helfen. Das ist ein guter Mann.»
«Wer hat Ihnen gesagt, wohin ich gehe und welchen Weg ich nehmen würde?», fragte Kappe scharf. Mit jüdischen Metzgermeistern kannte er sich nicht aus.
Kaufmann schüttelte den Kopf. «Machen Sie bitte keine Staatsaffäre aus dieser Sache. Es gibt auch im Polizeipräsidium noch Menschen, die ein Herz haben. Ich wollte Sie lediglich wegen Kaspar ansprechen, das ist doch kein Verbrechen. Kaspar ist ein guter Mensch und ein gewissenhafter Zimmermeister. Nie würde er das Leben seiner Kollegen aufs Spiel setzen. Der macht so etwas nicht! Verstehen Sie?»
Sie zogen die Alexanderstraße hinab in Richtung Spree. Vor der Jannowitzbrücke bogen sie links ab in die Holzmarktstraße. Von dort ging es weiter durch das Gewirr der Straßen zwischen Grünem Weg und Breslauer Straße. Kappe wählte einen Weg, der sie nicht zu nahe an die Große Frankfurter brachte, wo Klara und die Kinder in der gemütlichen Wohnung warteten, und steuerte mit dem Fremden schließlich eine Kneipe an.
Dort wurden sie misstrauisch gemustert. Hier war das Gebiet der Ringvereine und Ganovenklubs, wo man Unbekannte nicht mochte. Zumal Gesetzesbrecher rasch Kappes Beruf erahnten, als quelle der aus seinen Knopflöchern.
Sie setzten sich an einen Tisch. Tabakdunst waberte durch den Raum, und die Soleier im Glas auf dem Tresen leuchteten wie die Augäpfel der Kohlenträger auf der Breslauer Straße.
«Sie trinken ja Alkohol», bemerkte Kappe verwundert, nachdem sie dem Wirt ihre Bestellung zugerufen hatten.
«Warum nicht? Ich bin doch kein Muselman.»
«Ich dachte, Juden trinken keinen Tropfen.»
Kaufmann lachte. «Quatsch. Natürlich trinke ich Bier und Wein oder auch einen Schnaps. Ich bin gelernter Viehhändler. Bei denen geht kein Geschäft ohne einen Schnaps.»
«Ich habe gehört, sie seien Fleischer?»
«Stimmt. Ich bin auch Fleischermeister.» Kaufmann zog ein Zigarrenetui aus der Brusttasche und hielt es Kappe hin.
Der lehnte dankend ab.
Als zwei Bier und zwei Stamper auf dem Tisch standen, sagte Kaufmann: «Ich will Ihnen etwas über Leiblein erzählen. Wir dienten in derselben Kompanie, und er war der Zuverlässigste von allen, die Kameraden konnten immer auf ihn zählen. Nach Kriegsende kehrte er sofort zu seiner geliebten Anna zurück, aber die wollte nicht mehr – obwohl sie ihn auch noch liebte. Sie hatte nämlich ihrem Gott geschworen, sich um ihren Bruder Albert zu kümmern, der als Krüppel aus dem Krieg heimgekehrt war. Und so pflegte Anna liebevoll und bis zur Selbstaufgabe den Bruder. Kaspar konnte sie dennoch für sich gewinnen, indem er ihr versprach, sie immer bei der Pflege des Bruders zu unterstützen. Und er hielt sein Wort. So einer ist der Kaspar. Und der soll Kameraden in den Tod geschickt haben? Niemals!»
Kappe trank einen Schluck Bier und überlegte. «Irgendwie preußisch, ihr Freund.»
«Da liegen Sie richtig. Er ist auf seine Art ein Preuße. Könnte mit Ihnen verwandt sein.»
Kappe schüttelte den Kopf. «Nee, sicher nicht. Sie kennen mich nicht.» Nach einer kurzen Pause fragte er: «Wie sieht es zu Hause bei Leibleins aus? Wie lebt es sich in der Eifel?»
«In Berlin gibt es viele Plätze und Straßen, die rund um die Uhr hell beleuchtet sind. Ich denke etwa an den Potsdamer Platz. In der Eifel kennt man eine solche Beleuchtung nur aus dem Kino. Es ist dunkel wie in einem …»
«… Pferdearsch», ergänzte Kappe.
«Genau so ist es. Die Menschen leben in ihren Häusern wie auf kleinen, helleren Inseln in einem schwarzen Meer. Die Familien haben acht, neun oder zehn Kinder. Die sind natürlich immer hungrig, denn außer Kartoffeln gibt es nicht viel. Fleisch gibt es bestenfalls sonntags. Von Kaspar weiß ich, dass ihm die geistige Enge dort große Schwierigkeiten bereitete. Er und seine Frau brauchen neue Eindrücke, Anregungen. Etwas, das den Geist wie eine Lampe entzündet. Verstehen Sie?»
Dunkelheit war hereingebrochen. Die Gaslaternen brannten. Kappe wollte nach Hause, Kaufmann ebenfalls. Sie reichten sich die Hände, nickten sich zu.
Selten hatte es Kappe so eilig, in die Große Frankfurter Straße zu kommen. Bereits im Treppenhaus packte ihn eine unbändige Vorfreude – auf das traute Heim, auf ein köstliches Mahl …
Klara hatte dann auch mit dem Abendessen auf ihn gewartet, aber ihre Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst. Sie hatte das Essen warm halten müssen, und die Kinder saßen noch um den Tisch in der Küche und überlegten, wie sie bei gutem Wetter das Wochenende verbringen wollten.
Margarete, die seit Abschluss der Schule vor einem Jahr bei einer angesehenen Schneidermeisterin in der Nähe des Spittelmarktes in der Lehre war, hatte einen langen Arbeitstag hinter sich und war sichtlich schlechter Laune. Sie und Hartmut gerieten ständig in Streit. Hartmut störte, dass Margarete von Klara wie eine Freundin behandelt wurde. Er wurde noch wie ein Junge geführt. Mach dies, mach jenes, tu es ordentlich. Bei Streitereien überschlug sich zuweilen seine Stimme, weil sie seit kurzem zwischen hell und dunkel changierte. Schon die scharf hervorgestoßenen, zischelnden Worte der Schwester ließen ihn rasend werden. Wäre er allein mit ihr gewesen, hätte er sich wutentbrannt auf sie gestürzt. So brummte er mal zornig, dann quäkte er unversehens.
Karl-Heinz, das Nesthäkchen, hatte das Gesicht in die Hände gestützt, die Unterarme auf den Tisch gepflanzt. Konzentriert popelte er vor sich hin, er wollte nichts verpassen. Das war wie Kino aus der Loge!
Die Kinder hielten sofort den Mund, als sie die Stimme ihres Vaters hörten.
«Riecht ja toll hier! Essen wie im Adlon für einen armen Polizisten.» Kappe versuchte, Klara zu küssen.
Die roch natürlich seinen Bier- und Schnapsatem. Ihre Lippen blieben zusammengepresst.
Kappe konnte genau sehen, was sie dachte: Ich halte hier den Laden zusammen, und der Herr Gemahl zieht durch die Kneipen . Rasch erzählte er ihr, mit wem und weshalb er unterwegs gewesen war.
Das stimmte Klara weicher.
Hartmut, der dem Gespräch der Eltern gelauscht hatte, fragte provozierend: «Ist der Kaufmann ein Jude?»
«Wie meinst du das?», wollte Kappe wissen.
«Ist der ein Jude?», fragte Hartmut erneut, dieses Mal bereits kleinlauter.
Bevor sein Vater antworten konnte, sagte Klara wie beiläufig: «Das sind auch Menschen.»
Sie aßen schweigend ihr Abendbrot. Kappe, der seinen Kohlrabi mit großem Appetit verspeist hatte, legte die Gabel zur Seite.
«Bring mir mal ein Bötzow, Hartmut!», forderte er den Jungen auf.
Hartmut erhob sich widerwillig und holte aus dem Flur eine Flasche Bötzow. Übertrieben vorsichtig achtete er darauf, sie nicht auf den Tisch zu knallen.
«Danke», sagte sein Vater.
Hartmut murmelte etwas Undeutliches und fragte schließlich, an Klara gewandt, ob er aufstehen dürfe.
«Ja», sagte sie. «Aber seid jetzt etwas leiser als zuvor. Papa hatte keinen leichten Tag heute.»
Die Kinder verzogen sich.
Gemeinsam räumten die Eheleute den Tisch ab. Kappe goss sich von dem Bier nach und berichtete seiner Frau von dem Tag im Präsidium, während sie den Abwasch erledigte.
Anschließend gönnte sich Klara einen Bärenfang-Likör. «Macht dir diese Geschichte des Zimmerers noch Angst?»
«Nee, ich fühl mich wieder sicherer. Was soll mir schon passieren?»
«Hartmut hatte heute Ärger in der Schule.»
«Mein Hartmut?» Kappe staunte. Hartmut war bisher weder durch Prügeleien noch durch Renitenz oder Faulheit aufgefallen. Und nun sollte er Ärger in der Schule haben?
«Irgendwelche Idioten haben sich über dich mokiert. Du wärst ein Kommunistenschwein.»
«Kommunistenschwein? Wer hat das gesagt?»
«Das will er nicht verraten.»
«Ich soll ein Kommunist sein?» Kappe fand das einfach lächerlich.
«In der Schule ändert sich jetzt einiges», fuhr Klara fort. «Die jüdischen Kinder werden gehänselt. Und wer nicht mitmacht, wird verkloppt. Das geht nicht mehr lange gut. Die Mutter von Ernst, der früher immer mit Hartmut gespielt hat, grüßt mich seit dem 1. Mai nicht mehr.»
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