Kitabı oku: «Zuhause», sayfa 4

Yazı tipi:

DIE ANKUNFT, DIE WAHRHEIT, DER ABEND, DIE NACHT

Wir fuhren erst durch die Trabantenstädte, dann weiter geradeaus auf der in das Lavagestein gesprengten Nationalstraße zweiter Ordnung. Die Laternen legten ein milchig orangefarbenes Licht auf die Straße und einen schmalen Streifen des Gesteins, jenseits davon lag unbewohnte Dunkelheit. Es war halb zehn Uhr morgens.

›Er kommt nicht, er kommt nicht, er kommt nicht‹, musste ich mir sagen, denn wieder und wieder kam ein Rest Vorfreude in mir hoch, ließ mich schneller fahren, und ich dachte oder hoffte zumindest, dass nicht nur Milans Flugzeug in einer Viertelstunde käme, sondern auch er.

Natürlich hatte ich Matilda nichts gesagt. Ich hätte an diesem Morgen einfach weitergeschlafen, aber Matilda weckte mich pünktlich. Sie sagte, ich sei in der Nacht zuvor im Taxi eingeschlafen, ich wusste nicht einmal mehr, dass wir in einem Taxi gewesen waren. Aus irgendeinem Grunde hatten wir bei mir geschlafen und unternahmen diese zwecklose Fahrt in meinem Auto. Matilda hatte eine gelbe Rose gekauft. Gelb war Milans Lieblingsfarbe. Ich hatte eine Plastikflasche mit ebenfalls gelber Appelsín-Limonade an einer Tankstelle gekauft. Die Flasche war schon fast leer, nachdem ich meine Halsschmerztabletten heruntergespült hatte. Ich hatte herausgefunden, dass sie auch gegen Kopfschmerzen halfen, wenn man mindestens drei auf einmal nahm. Langsam wirkten die Tabletten, und die nach Beton schmeckende Limonade überdeckte den Holzgeschmack des selbst gebrannten Gins. Ich fuhr einen Mazda 323, der fünfzehn Jahre alt war, doch den Spoiler und die Aufschrift GTI auf der Kofferraumklappe immer noch mit Würde trug. Ich hatte ihn von einem Rocker mit schütterer blonder Mähne gekauft, dem die Polizei den Führerschein entzogen hatte. Ganze Winter konnte ich ihn hier stehen lassen, und er sprang immer wieder an, obwohl der Tacho schon vor zwei Jahren beim Stand von 205.323 Kilometern den Geist aufgegeben hatte. Dass ein Mazda mit einem so guten Motor keine einfache Persönlichkeit haben konnte, war klar. Da war zum Beispiel die Zentralverriegelung, die alle Türen automatisch öffnete, aber keine wieder verschloss. Der Regen fiel jetzt kreuz und quer. Mitten in der unendlichen Dunkelheit zeichnete plötzlich ein Schild mit roten Neonröhren das Wort Motel in die Einöde wie eine Botschaft von David Lynch. Dann kamen zwei Tankstellen, die amerikanische Kaserne, die First Baptist Church und die Stadt Keflavík, die als Liverpool Islands galt, weil sie viele Rockbands hervorgebracht hatte. There’s a plane at JFK, to fly you back from far away, all those dark and frantic transatlantic miles, sang Neil Tennant. Als wir auf den Parkplatz vor dem Ankunftsgebäude fuhren, trommelte der vom Wind getriebene Regen unregelmäßig auf mein Autodach. Matilda hatte mir in ihrem Auto erzählt, dass sie Svend verlassen hatte. Nun musste ich ihr in meinem Auto erzählen, dass Milan mich verlassen hatte. Doch Matilda war bereits ausgestiegen.

Ich beugte mich nach hinten, um die abgegriffenen schwarzen Knöpfe an den hinteren Türen herunterzudrücken. Dann stieg auch ich aus. Ich hatte mich, schief gegen den Wind gelehnt, schon auf den Weg zum Ankunftsgebäude gemacht, da rief Matilda mir hinterher:

»Hey! Wollen wir keine Gepäckkarre nehmen?«

»Ja doch, klar«, sagte ich und holte einen Gepäckwagen, an dem vorne ein Plastikschild mit der Aufschrift Willkommen zu Hause wünscht VISA hing, das sich im immer gleichen Abstand vor mir her bewegte, obwohl ich Schritt für Schritt darauf zuging. »Willkommen zu Hause«, hatte der isländische Zollbeamte gestern zu mir gesagt, nachdem er in meinen Pass gesehen hatte. Dann hatte er genickt, wie um meine Zweifel zu zerstreuen. Die Stewardess hatte das auch schon gesagt: »Willkommen zu Hause«, und dann hatte ich genau so einen Gepäckwagen bekommen.

Wir betraten die Ankunftshalle: Autovermietungen, eine Geldwechselstube, eine Touristeninformation – ein merkwürdiger Ort für die unausweichliche Wahrheit.

»Guck mal, er ist pünktlich! Trotz des Sturms«, sagte Matilda. Ihre Rose hielt sie nach oben. Ich kannte auf Island niemanden, der Blumen nach unten hielt wie es die Deutschen taten.

»Freust du dich nicht, Lárus?« Ich nahm ihren Arm. »Lárus? Ich habe nochmal darüber nachgedacht. Es tut mir leid, dass ich dir das nicht gleich gesagt habe. Mit Svend. Wo du dich doch so gefreut hast, auf Weihnachten mit uns. Ich wollte das nur … aus der Welt räumen. Bevor Milan kommt.«

Wir standen vor der großen holzverkleideten Automatiktür, die sich gelegentlich zur Seite schob und einen kurzen Blick auf die Zollbeamten erlaubte und auf die Fluggäste, die an den Bändern auf ihr Gepäck warteten. Dann glitt die Tür wieder zu, und es war, als müsste man Geld einwerfen, um einen erneuten Blick zu bekommen.

»Die ganze Welt, alles, ist poetry«, hatte meine Schwester Erla einmal in einer Regionalbahn zu mir gesagt und dazu auf eine halb volle Flasche Schokomilch gezeigt, in der zwei Zigarettenkippen verschiedener Marken schwommen. Sie rauchte. Ich war dafür noch zu jung, aber alt genug, dass sie mir auf die Nerven ging auf den fünfundvierzig Minuten zwischen Tornesch und Hamburg-Altona; mit ihrem Gerede über die Macht des Schicksals und dieser ewigen, elendigen Mentholzigarettenraucherei. Ich dachte nicht oft an Erla, doch in diesem Moment fiel sie mir ein, weil sie öfter E-Mails von ihren Buddhistenfreunden oder anderen vernetzten Positivdenkern an mich weiterleitete. Neulich machte mich eine solche E-Mail darauf aufmerksam, dass es dumm sei, sich Sorgen zu machen. Sorgen hätten zur Folge, dass es einem schlecht ginge, und in der Zukunft ginge es einem dann auch schlecht, weil man sich daran erinnern würde, wie schlecht es einem damals gegangen sei. Machte man sich hingegen keine Sorgen, könnte dies der beste Tag des ganzen Lebens sein und alle folgenden Tage auch, weil man sich dann an den Tag erinnere, an dem man sorglos gewesen sei. Das Leben sei gewissermaßen die Kunst, einen besten Tag an den nächsten zu reihen, weil der Mensch hauptsächlich aus Erinnerungen bestehe.

Vielleicht war es also doch eine gute Idee gewesen, dass ich mit aller Kraft versucht hatte, die letzte Zeit zu vergessen. Bei den beiden Freunden vor Milan hatte es immerhin funktioniert. Sofort nachdem sie mich verließen, zwang ich mich, an etwas anderes zu denken, sobald sie mir in den Kopf kamen. Auch Dinge, die ich in diesen Zusammen-Zeiten alleine erlebt hatte: Kinobesuche, Bücher, kleine Reisen – alles bekam einen Betonfuß und wurde versenkt. Ich behandelte meine Erinnerungen wie die Mafia ihre Mordopfer. Sogar die Filme, die ich in diesen Zeiten gemacht hatte, sah ich nie wieder an, weil sie mich daran erinnert hätten, wer damals so untrennbar zu mir gehörte. Dadurch hatte jede Liebe ganze Jahre meines Lebens rückwirkend kontaminiert. Was von meinem Leben übrig blieb, waren die Zeiten, in denen ich alleine war. Die Alleine-Zeiten, die Matilda-Zeiten.

Die Holztür zur Ankunftshalle schob sich erneut auf. Als Erstes kam eine nach geologischen Vorkenntnissen aussehende Reisegruppe hindurch: Ein knappes Dutzend älterer Frauen in knitterfreien Hosen, mit Bergstiefeln und Wanderstöcken, die erbarmungslose Fitness ausstrahlten. Ihnen folgten ähnlich gekleidete Männer, wobei es insgesamt weniger Männer waren als Frauen. Wer zu wem gehörte, ließ sich an den Farben der Allwetterjacken zuordnen. Ich stand neben einem Mann in einem Fleecepullover, der ein Schild mit der Aufschrift »Mr. Schulz for Lundi Tours« in den Händen hielt. Es gab viele solcher Männer mit Schildern: »Lucio Gregoretti, LTU Hotel-Transfer, Mrs. Minwhi Lee«. Nachdem alle diese Menschen erschienen waren, überlegte ich einen Moment, mir ein Schild mit der Aufschrift »Milan« zu schreiben.

»Vielleicht kauft er sich noch was, oben, zollfrei«, sagte ich.

Als nach Milans Flugzeug auch die Maschinen aus Oslo, Helsinki und London gelandet waren, wollte Matilda ihn ausrufen lassen, da spürte ich, wie sich die Wahrheit nicht mehr unterdrücken ließ. Ich hatte meine Wohnung verlassen, die Stadt und schließlich das Land. Hier war das Ende der Halbinsel Reykjanes. Weiter konnte ich nicht mehr fliehen. Ich konnte nicht mal ein Flugzeug nehmen, denn das hier war die Ankunftshalle.

»Wir können fahren.« Ein Nilpferd sprang auf mein Herz. Auf den Flügeln der Drehtür stand »Nicht anfassen«.

Draußen blieb ich an einem der Betonaschenbecher stehen. Irgendwo dort in der Dunkelheit, auf den weiten Lavafeldern, hatten die Amerikaner vor über dreißig Jahren ihre Mondautos ausprobiert.

»Er hat mich verlassen.«

»Wann?«

»Vorgestern.«

»Das erzählst du mir jetzt?«

»Es war nicht ganz eindeutig.«

»Inwiefern?«

»Er hat mir den Zweitschlüssel zu meiner Wohnung zurückgegeben.«

»Klingt ziemlich eindeutig.«

»Er hat nur gesagt, er macht Schluss. Er hat nicht gesagt, er macht Schluss mit mir.«

»Lárus … «

»Ich dachte, man soll die Dinge nicht unnötig dramatisieren.«

»Idiot!«

Matilda sprach deutlich lauter als sie musste, um den Lärm der Flugzeugturbinen zu übertönen.

»Ich habe dir nichts verheimlicht«, sagte ich.

»Du hast tagelang direkt vor meiner Nase den glücklich verliebten Helden gespielt …«

»… einen Tag.«

»… einen Tag den glücklich verliebten Helden gespielt.«

»Ich habe nichts gespielt. Ich habe mir nur vorgestellt, dass ich nicht alleine bin, sondern nur woanders«, sagte ich.

»Und mir ein schlechtes Gewissen gemacht. Ein doppelt schlechtes Gewissen sogar: Erstens, weil ich mit Svend Schluss gemacht habe, und zweitens, weil ich dir nichts davon gesagt habe. Dabei warst du viel schlimmer! Ich war wenigstens ehrlich, sobald wir uns gesehen haben. Du hingegen schleppst mich in aller Herrgottsfrühe raus zu diesem sturmumtosten Arschloch von internationalem Flughafen … Du Idiot! Und ich erst! Ich kam mir vor wie das letzte Schwein, weil ich dich nicht sofort angerufen habe.«

»Okay, du bist nicht das letzte Schwein. Ich bin das letzte Schwein. Aber du bist das vorletzte Schwein!«

»Wie meinst du das?«

»Ich kann wenigstens nichts dafür. Milan hat mit mir Schluss gemacht.«

»Lárus«, sagte sie, mit einem Lächeln, das mich an Kindergärtnerinnen denken ließ, »das war doch klar.«

»Was kann ich dafür, dass er sich nicht damit abfinden konnte, dass es schön war?«

»Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Genau das hast du mir gestern vorgeworfen.«

»Wenigstens mache ich nicht auf einmal alles anders.«

»Was meinst du damit?«

»Suppen. Überhaupt. Warum muss immer alles anders sein. Ich dachte, wir sind doch jetzt … «

»Was?«

Ich schwieg.

»Erwachsen? Fertige Menschen?«, sagte Matilda und fragte dann: »Warum hat er dich verlassen?«

Auf dem Gehweg vor mir platt getretene graue Kaugummis.

Aus ihren Jackentaschen friemelte Matilda Papierreste und Zigarettensilberfolien, die sie in den Aschenbecher legte, die dann wegflogen. Wieder einmal hatte Matilda verlassen, und ich war verlassen worden. Diesmal waren wir sogar gleichzeitig Single geworden, ohne voneinander zu wissen. Als würden wir über die Entfernung miteinander kommunizieren, ähnlich verschränkten Quantenzuständen. Diskrete Zustände. Auf einmal hatte ich das Gefühl, Matilda sehr nahe zu sein. Vielleicht sahen wir auch deswegen zusammen hässlich auf Fotos aus, weil wir zwei verschiedene Liebeskonzepte verkörperten: Matilda war die Katze, der man hinterherlief. Ich war der Hund, der jemandem auf den Schoß springen und ihm das Gesicht ablecken wollte.

Ich nahm noch eine Halstablette. Die Plastikfolie um die gelbe Rose in Matildas Hand knisterte. Ich rieb mir die Augen. Matilda sah mich an, lächelte, und ich erschrak ein wenig, denn sie hob nur einen Mundwinkel. Ich kannte dieses halbe Lächeln: Sie sah mich an wie eine wahnsinnige Ingenieurin, die mich entworfen und nun eine neue Fernsteuerung für mich gebaut hatte, mit einem großen roten Knopf darauf, den sie begierig war auszuprobieren. Ein roter Knopf, der mir den Befehl gab, trinkend durch das Land zu ziehen und in einem Anfall von melancholischer Tobsucht die Siedlungen der Schafbauern zu verwüsten und über die Söhne der aufs Meer hinausgefahrenen Fischer herzufallen, wonach man mich ins Hochland verbannen und noch nach Generationen warnend von mir sprechen würde.

»Komm«, sagte sie und legte einen Arm um mich. »Wir fahren.«

Zurück in Reykjavík hielten wir bei dem staatlichen Alkoholladen neben IKEA, kauften finnischen Gin und dicken Moorbeerensaft. Dann wurde es fünfzehn Uhr und dunkel. Wir fuhren in meine Wohnung und erklärten den Nachmittag zum Abend.

»Und was machst du jetzt an Weihnachten?«, fragte Matilda.

Eine Frau, die mir einmal in Hamburg half, einen Film zu schneiden, hatte ich vor fünf Jahren mit einer ähnlichen Frage sehr aufgeregt. Es war Dezember, und ich fragte sie in einer Rauchpause, ob sie Weihnachten nach Hause fahre. Daraufhin war die Frau, die sechs oder sieben Jahre älter war als ich, so beleidigt, dass sie mich fast mit dem halbfertigen Film aus ihrem Studio geworfen hätte. Was ich denn denke, wo sie zu Hause sei, wenn nicht hier! Sie sei jedes Weihnachten bei sich zu Hause, wo auch immer sie sei, wenn Zuhause nicht sowieso ein Konstrukt sei, genau wie freier Wille und Geschlechter.

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

Matilda legte Múms Album loksins erum við engin – endlich sind wir niemand auf, das schon ein Klassiker geworden war.

»Ich finde, das klingt wie die Weiterentwicklung der Musik, die wir als Kinder hörten«, sagte Matilda. Sie hatte Recht. Irgendwas in Múm ließ auch mich an die Zeit denken, als wir noch Musik hörten, von der man große Augen bekam. Bevor wir angefangen hatten, Musik zu hören, zu der man die Augen zusammenkniff und in dunklen Räumen umhersprang. Jetzt waren wir offensichtlich alt genug, um wieder Lust zu haben auf Musik, von der wir große Augen bekamen.

svefn/sund – schlaf/schwimmen

grasi vaxin göng – gras bewachsener tunnel

Es tat gut, Matilda anzusehen. Sie gab mir das Gefühl, dass ich mit ihr wirklich überall hingehen konnte, ohne Angst zu haben, dass sie schockiert oder verärgert wäre. Wir saßen das ganze grasi vaxin göng hinüber still da. Auf einmal kam mir das Lied sehr typisch für das moderne Island vor, das sowohl auf Tunnel als auch auf Grasbewuchs großen Wert legt.

við erum með landakort af píanóinu – wir haben eine landkarte vom klavier

»Apropos«, sagte Matilda, ohne dass jemand in den letzten Minuten etwas gesagt hätte. »Ich hab mir das ausgerechnet. Auf Island gibt es 140.000 Männer. Knapp 140.000 Männer. Von denen sind 20.000 zwischen 25 und 35. Von denen sind maximal 2.000 schwul, 10.000 verheiratet, 5.000 hässlich, 1.000 geisteskrank, weitere 1.000 leben im Ausland.«

ekki vera hrædd, þú ert bara með augun lokuð – habe keine angst, du hast nur die augen geschlossen

»Was ist mit Frikki?«, fragte ich. »Der ist schwul, geisteskrank und lebt im Ausland.«

»Ziehen wir den noch ab«, sagte Matilda. »Von den verbleibenden 999 wollen viele nichts von mir.«

»Ziehen wir zehn ab.«

»Danke.«

á bakvið tvær hæðir,,,, sundlaug – hinter zwei hügeln,,,, schwimmbad

»Ziehen wir 100 ab: 899. Davon lebt die Hälfte nicht in Reykjavík, bleiben 449,5. Da kann man bestimmt noch mal 200 von abziehen, die zwar nicht hässlich sind, aber zu denen ich mich nicht hingezogen fühle: Bleiben 249,5. 200 davon werde ich nie über den Weg laufen. Und wie viele von den verbleibenden 49,5 sind zu betrunken, um zu reden, wenn man sie denn mal trifft? Bleiben 9,5. Von denen sind zwei katholische Priester, einer in irgendeiner Sekte und sechs dauernd auf See. Bleibt ein halber Mann übrig.«

k/hálft óhljóð – k/halb lärm

Als wollte sie das Husarenrittartige ihrer Theorie unterstützen, führte sie ihr Glas mit einer so unkontrollierten Kreisbewegung zum Mund, dass der erste Schluck der neuen Mischung in ihr Haar schwappte.

nú snýr óttinn aftur – nun kommt die furcht zurück

»Was soll ich denn sagen«, sagte ich. »Gucken wir uns die 2.000 Männer zwischen 25 und 35 an. Von denen hatte die Hälfte noch nicht ihr Coming Out, weil sie in der konservativen Partei sind, verheiratet, katholische Priester oder Judotrainer.«

Bleiben 1.000. Von denen sind 500 ins Ausland gegangen.«

»501, mit Frikki«, bemerkte Matilda, und zurecht.

sundlaug í buskanum – schwimmbad in der ferne

ég finn ekki fyrir hendinni á mér, en það er allt í lagi, liggðu bara kyrr – ich spüre meine hand nicht mehr, aber das ist in ordnung, lieg einfach ganz ruhig

»Bleiben 499. Von denen wohnt die Hälfte nicht in Reykjavík: 249,5. Wenn du jetzt die Verliebten und die enttäuschten Wracks abziehst, kannst du das ruhig noch mal durch drei teilen, macht: 83. Von denen ist die Hälfte hässlich oder dumm. 41,5 – von denen wollen 20 nichts von mir, und weitere 20 sind Stewards, Piloten und Seemänner, daher nie da. Bleiben 1,5 Männer.«

loksins erum við engin – endlich sind wir niemand

»Das ist besser als bei mir«, sagte Matilda.

»Aber einer davon bin ich«, sagte ich.

sveitin milli sólkerfa – das land zwischen den sonnensystemen

Jetzt, wo der Gin alle war, fiel uns auf, dass die CD zu Ende war.

»Zusammen bekämen wir den perfekten Mann«, sagte Matilda.

»Lassen wir ihn nicht warten.«

Wieder, wie immer, der Laugavegur.

Da die Bürgersteige schon in der Nichtweihnachtszeit zu schmal für die vielen Einkaufswilligen waren, wurden die Weihnachtsbäume kurzerhand über den Schaufenstern an die Häuserwände genagelt, aus denen sie wie Geschwüre herauszuwachsen schienen. Da ich in Hamburg-Veddel wohnte und Fußgängerzonen sowie Supermärkte mied, war es mir gelungen, durch den November zu kommen, ohne daran erinnert zu werden, dass Weihnachten immer näher rückte. Den Beginn der Adventszeit hatte ich genauso verdrängt wie die Tatsache, dass ich dieses Weihnachten wohl ohne Milan feiern musste.

Die Bäume hier waren mit Lichterketten umwickelt und zitterten über den Köpfen der Menschen im Sturm wie erleuchtete Damoklesschwerter. Wenn sogar die sich bis Weihnachten hier halten konnten, konnte ich das erst recht. Mir war klar geworden, wo ich Weihnachten feiern würde: hier. Feiern! Feiern, und nicht an Milan denken. Milan, der seit drei Jahren mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen und der erste nach dem Aufwachen gewesen war. Ab jetzt würde ich so lange nicht mehr an ihn denken, bis ich ihn vergessen hatte.

Wenig später standen wir im kaffi gógó und erlebten einen dieser Abende. Maggi Frímannsson wartete auf seine kleine Freundin und überredete mich, Kaffeeschnäpse zu trinken, deren oberste Lage man anzünden musste. Er fand das weihnachtlich. In der anderen Ecke des Raums entdeckte ich eine Frau, die in ihrem hochgeschlossenen schwarzen Kleid an der ebenfalls schwarzen Wand fast verschwand, wäre nicht ihr blasser Kopf gewesen, der vor der Wand zu schweben schien. Es war die Schweizerin, die ich gestern um diese Zeit noch für eine Performancekünstlerin gehalten hatte. Auch sie sah mich und kam herüber. Schon auf dem Weg holte sie eine Art Werbepostkarte aus ihrer Tasche, die sie mir hinhielt, sobald wir uns begrüßt hatten. Darauf war ein Tortendiagramm, das eine Vierphasentheorie des Liebeskummers darstellte. Die vier Tortenstücke, aus denen sich der Liebeskummer zusammensetzte, hießen: Schmerz, Zorn, Reue und Vorbei. Darunter stand: »es ist keine schande schwach zu sein, es ist keine schande verletzt zu sein, es ist keine schande verlassen zu sein, es ist keine schande traurig zu sein, es ist keine schande wütend zu sein, es ist keine schande verwirrt zu sein, es ist keine schande kompliziert zu sein, es ist keine schande romantisch zu sein, es ist keine schande unproduktiv zu sein, es ist keine schande reich zu sein, es ist keine schande großzügig zu sein, es ist keine schande nett zu sein …« Ich drehte die Karte um: »Schreiben Sie uns. Wir verwahren Ihre Erinnerungen für Sie, sicher und diskret. Gesellschaft der Liebeskranken, Graue Gasse, Zürich.«

»Was soll ich damit?«

»Erinnerungen müssen weg. Es hilft. Ich weiß es«, sagte die Schweizerin.

»Ich bin nicht der Typ, der sich viel erinnert. Ich bin eher der Typ, der vergisst.«

»Man kann nicht vergessen, nur verdrängen«, sagte sie, doch ich erklärte ihr, dass ich es vergessen nannte und dass es bis jetzt immer geholfen hatte. Dann wieder Kaffeeschnäpse. Maggi Frímannssons Freundin kam nicht. Kaffeeschnäpse. Irgendwann wurde uns das Anzünden lästig, und wir stiegen auf Bier um.

Dann waren wir plötzlich woanders. In einer hellen, unpersönlichen Wohnung mit einer riesigen Küche aus Aluminium. Menschen küssten sich, Matilda saß auf einem weißen Sofa, ich umarmte eine große schlanke Vase und wiegte mich im Takt der Musik. Dann war da ein dünner, faltiger Mann in einem Anzug namens Hjálmar. Oder ein dünner Mann in einem faltigen Anzug namens Hilmar. Auf jeden Fall hatte er eine Cognacflasche, in deren Nähe ich mich länger aufhielt. Dann legte ich meine Wange an den Aluminiumkühlschrank. Ich hatte beschlossen, ein bisschen in dieser Aluminiumwelt zu ruhen, und schloss die Augen. So musste es wohl aussehen, das Nichts, im modernen Zuhause: Kühles Aluminium – das Nichts, vor dem ich stand, an das ich meine Wange lehnte, das Nichts, an dem ich langsam abwärts glitt.

₺299,07