Kitabı oku: «Vom Kommen des Reiches Gottes», sayfa 4
II. Kleiner Exkurs zu den drei großen K – eine kleine Geschichtstheologie der Moderne
Daher auch unsere Hegel-Kritik in früheren Abhandlungen wie auch die entschiedene Absage an Heidegger, dessen Popularität nicht zuletzt darin gründet, dass seine Philosophie unter vermeintlichem Rückgang auf den Ursprung des Denkens dem Gott Israels und Gott Jesu Christi den Rücken kehrt; bildet doch die Abkehr, die Lossage von Gott geradezu das Siegel eines Zeitalters, das aus sich heraus, aus seinen eigenen Quellen und Methoden seine Evidenz zu schöpfen trachtet. Und selbst wenn ein Heidegger nicht den Richtlinien einer säkularen Wissenschaft folgt, ja sie verachtet und das Sein des Menschen und seiner »Geschichtlichkeit« von jenem Ursprung her zu bestimmen sucht, wie in den Beiträge(n) zur Philosophie (Vom Ereignis), seiner sog. Philosophie der »Kehre« aus den dreißiger Jahren, die erst posthum 1989 anlässlich seines 100. Geburtstags erschien, ist dem vorletzten Kapitel DER LETZTE GOTT folgendes Epitheton vorangestellt: »Der ganz Andere gegen / die Gewesenen, zumal gegen / den christlichen.« – Es handelt sich in der Tat um den »Gott dieses Äons, dieser Weltzeit, der das Denken der Ungläubigen verblendet hat« (2 Kor 4,4). Hier, nicht erst im nationalsozialistischen Engagement Heideggers, wird der antichristliche Charakter eines Denkens offenbar, das sich ganz dieser Weltzeit verschrieben hat – einem »Chronos ohne Kairos«; einer Zeit, die keine Gnade, keine Erlösung kennt, sondern folgerichtig – ganz wie in der oben genannten Schrift – in einer Welt des Todes terminiert.
Dass die Moderne keineswegs identisch ist mit den nihilistischen Tendenzen des Zeitalters; ja eine authentische Moderne von Anfang an aus dem Geist des Judentums oder des Christentums gegen seine Todesmächte ankämpft, ist bereits eingangs gesagt worden. Wie ein Fanal auf das folgende Jahrhundert liest sich daher Karl Kraus’ Apokalypse (Offener Brief an das Publikum) aus dem Jahre 1908 mit dem Bekenntnis: »Es ist meine Religion zu glauben, daß [das] Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.« Bedenkt man, dass für Kraus die Luftschifffahrt das Modell für das Tempo des Fortschritts abgibt, so könnte man im digitalen Zeitalter darüber nur müde lächeln, wo doch monatlich eine Summe von 390 Billionen Dollar um den Globus gejagt wird, um seinen Teil am Mehrwert aller erwirtschafteten Gelder abzuschöpfen. Doch die Fehlkalkulationen waren damals nicht geringer, als man meinte, mit Hilfe der Innovationen zumal auf dem Gebiete der Kriegstechnik schneller voranzukommen, um am Ende im Sumpf der Schützengräben steckenzubleiben. Als Kraus seinen Brief 1922 seinem Buch Untergang der Welt durch schwarze Magie voranstellte, lachte keiner mehr, der zuvor in seinen Polemiken nicht mehr zu erkennen glaubte als eine Ansammlung satirischer Übertreibungen. Nicht erst hier dringt Kraus auf nicht weniger als auf die Entzauberung der Macht der modernen Medien im Zeichen der »Enthüllung«, der Apokalypsis, jener falschen Propheten, die Völkerhass und Krieg schönredeten, um sich nach dem Untergang aus der Verantwortung zu stehlen. Schon vor Kriegsbeginn hat Kraus in seinem Ein-Mann-Feldzug in der Fackel gegen ihr Lügengebaren angekämpft, bis hinein in die Mimik des Ausdrucks, die das Groteske der Presseberichte seiner Zeit buchstäblich aufspießt, um es auf die Anklagebank zu bringen, dagegen einen Prozess anzustrengen. Daher Benjamins treffende Charakteristik nicht so sehr in dem großen Kraus-Essay, sondern in dem kleinen Porträt (vgl. GS. II, 624 f.), demzufolge sich in Kraus »der großartigste Durchbruch des halachischen Schriftums mitten durch das Massiv der deutschen Sprache« ereigne. Ja man verstehe »nichts von diesem Mann, solange man nicht erkennt, daß mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos Alles, Sprache und Sache, für ihn sich in der Sphäre des Rechts abspielt«. Erst von hier aus wird verständlich, wieso später Theodor Haecker in seinen Tag- und Nachtbüchern bekennt, er wolle die Fackel nicht geschrieben haben (vgl. ebd. 146). Denn in ihr wird auf dem Boden einer großen überkommenen Kultur einer Welt, einer Zeit der Prozess gemacht, die sich anschickt, ebendiese Kultur abzuschaffen. Bevor ihr Kraus in Die letzten Tage der Menschheit auch ein literarisches Denkmal setzte, hat er sie auf dem Feld der Sprache ausfindig zu machen gesucht, der Sprache seiner Zeit, der »grossen Zeit«. So lautet der Eingangsaufsatz zu Weltgericht: »IN DIESER GROSSEN ZEIT [ – ] die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst genommen werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen sie von mir kein einziges Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor der Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, vor der Subordination der Sprache vor dem Unglück.«
Das »Schweigen vor der Mißdeutung« bewahren vermag nur einer, dem die falsche Eindeutigkeit der handfesten Parolen ebenso zuwider ist wie die Zweideutigkeit des Wortreichtums in Presse und Literatur, die in jenen Prozess verstrickt sind, und gegen die daher Kraus ankämpft – als ein von Presse und offiziellem Schrifttum Attackierter. Als solcher hat Kraus gegen seine Zeit, gegen die Mächte seiner Zeit gekämpft; wissend, ja in »Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, vor der Subordination der Sprache vor dem Unglück«, was nicht weniger besagt, als dass alle Anklage der Klage der Unglücklichen eingedenk sein muss. Daher das Schweigen vor dem Sprechen, wie es dem Gebet eigentümlich ist, das sich ja nicht in einem leeren Wortschwall ergießen soll; aber nicht weniger eigentümlich auch der Anklage, die sich gegen jene wortreichen Ankläger zur Wehr setzt, die den ungeliebten Zeitgenossen durch Phrasen und Parolen einzuschüchtern, mundtot oder einfach lächerlich zu machen suchten. »Daß dieser Mann, einer der verschwindend wenigen, die eine Anschauung von Freiheit haben, ihr nicht anders dienen kann, denn als oberster Ankläger, das stellt seine gewaltige Dialektik am reinsten dar. Ein Dasein, das, eben hierin, das heißeste Gebet um Erlösung ist, das heute über jüdische Lippen kommt.« Anscheinend ein Selbstwiderspruch, »Dialektik«, insofern als oberster Ankläger im Allgemeinen allein derjenige auftreten kann, der in einem Staatswesen, in einem öffentlichen Raum höchste Autorität besitzt. Weder in diesem noch in jenem besaß Kraus Autorität – einzig aufgrund der Autorität göttlichen Rechts, das höher steht als alle profanen Gesetze, die in Staat und Gesellschaft herrschen, weil jenes Bewusstsein, genauer: Sprachbewusstsein, die Ehrfurcht des Anklägers vor den Klagen der Unglücklichen einschließt. In diesem Sinne war Kraus’ Wirken und Schreiben Anklage gegen die Mächte und Kräfte seiner Zeit und Gebet – »das heißeste Gebet um Erlösung, das heute über jüdische Lippen kommt«. Beides war es freilich insoweit, als ihm in all jenen Jahren, selbst in der Kriegszeit, ein Freiraum blieb, um aus einer noch gegenwärtigen großen europäischen Kultur und aus seiner eigenen jüdisch-christlichen Überlieferung zu schöpfen und ein entsprechendes Publikum zu erreichen.
Genau jener Freiraum, der sowohl im Habsburger Reich als auch in den neuen Nationalstaaten Ostmitteleuropas noch bestand, wird den Menschen alsbald genommen, und zwar sowohl in der jungen Sowjetunion wie auch unter der heraufziehenden NS-Diktatur. »Mir fällt zu Hitler nichts ein.« So lautet der erste Satz seines Buches Die dritte Walpurgisnacht aus dem Jahre 1933, ursprünglich als Heft der Fackel gedacht, die in den folgenden Jahren bis zu Kraus’ Tod (1936) kaum noch erscheinen sollte. Von einem Zeitpolemiker werde nach einem populären Missverständnis »Leistung verlangt, die als Stellungnahme bezeichnet wird, und der ja, sooft ein Übel nur einigermaßen seiner Anregbarkeit entgegenkam, auch das getan hat, was man die Stirn bieten nennt. Aber es gibt Übel, vor denen sie nicht bloß aufhört, eine Metapher zu sein, sondern das Gehirn hinter ihr, das doch an solchen Handlungen seinen Anteil hat, sich keines Gedankens mehr fähig dächte. Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen, und wenn ich, bevor ich es wäre, mich gleichwohl nicht begnügen möchte, so sprachlos zu scheinen, wie ich bin, so gehorche ich dem Zwang, auch über ein Versagen Rechenschaft zu geben, Aufschluß über die Lage, in die mich ein so vollkommener Umsturz im deutschen Sprachbereich versetzt hat, über das persönliche Erschlaffen bei Erweckung einer Nation und Aufrichtung einer Diktatur, die heute alles beherrscht außer der Sprache.« Und auch das sollte sich bald ändern – wir schreiben wohlgemerkt erst das Jahr 1933 –, insofern nicht nur bald ein Publikationsverbot missliebiger Schriften erlassen, sondern die Sprache zu einem Propaganda- und Machtinstrument nationaler Erweckung und diktatorischer Bevormundung herabgewürdigt werden wird. Das Groteske, das Kraus süffisant aus den Zeilen bzw. zwischen den Zeilen der österreichischen Kriegs- oder Vorkriegspresse herauslas, um es in aller Öffentlichkeit auf die Anklagebank zu zerren, ist inzwischen fester Bestandteil der Wirklichkeit, des menschlichen Alltags geworden. Anklage wie Gebet werden bald nur noch stumm über die Lippen der Unglücklichen gelangen oder – als Schrei.
Es ist das Verdienst von Kraus’ Zeitgenossen Franz Kafka, gegen das Verstummen angeschrieben und zugleich den expressionistischen »Schrei« hinter sich gelassen zu haben. Da wir uns mit Kafka ausgiebig andernorts befasst haben, sei hier nur so viel gesagt: Es leuchtete uns nie die existenzialistische Kafka-Deutung der Nachkriegszeit ein, die in ihm einen düsteren und dunklen Zeitgenossen erblickte. Kafka selbst musste bei der Vorstellung seiner Prosa ein Lachen unterdrücken, und man braucht nicht allein Erzählungen wie Elf Söhne oder Frühes Leid lesen, um seinen herzhaften Humor zu spüren; selbst sehr ernsthafte Texte wie Verwandlung oder Der Prozess enthalten Stellen von einer unvergleichlichen Komik. Hier jedoch mag ein Hinweis genügen, um Einblick in die theologische Dimension seines Werkes zu gewinnen, und zwar am Beispiel seines letzten unvollendeten Hauptwerkes, des Schloss-Fragments, von dem eingangs bereits anlässlich des Unverständnisses Karl Barths die Rede war.
Man muss jedoch nur einmal dessen Schlussteil, das sog. Olga-Fragment, lesen, um zu begreifen, dass hier nicht nur die Konzeption des Romans, ja jeglichen Romans, jeglicher Literatur gesprengt wird: Denn was Olga, neben Amalia eine der beiden Schwestern der Barnabas’schen Familie, berichtet, vermag dem Leser wie dem Autor gleichermaßen die Sprache zu verschlagen. Ihre Erzählung ist keine bloße Literatur mehr, sondern nimmt die Wirklichkeit, das Schicksal von Millionen, keine zehn Jahre nach Kafkas Tod (1924) vorweg: die Ausgrenzung ihrer Familie, ihre schrittweise Entrechtung, schließlich das Warten am Rande der Gesellschaft auf die Deportation, auf den Tod. Und während sich in unseren Tagen so mancher Verfasser von Bestsellern sog. KZ-Romane aufspielt, als wäre er dabei gewesen, finden wir hier die unglaubliche Selbstzurücknahme Kafkas, immerhin des Autors jener Schilderung und des Schöpfers ihrer Figuren, der seinem Protagonisten folgende Worte in den Mund legt: »In der Erzählung Olgas eröffnete sich ihm eine so große, fast unglaubwürdige Welt, daß er es sich nicht versagen konnte, mit seinen kleinen Erlebnissen an sie zu rühren, um sich ebenso von ihrem Dasein als auch von dem eigenen deutlicher zu überzeugen.«
Bedenkt man, dass es Kafka allein durch seinen frühen Tod nicht »vergönnt« war, jene »große, fast unglaubwürdige Welt« am eigenen Leibe zu erfahren, so lässt sich nur ahnen, was es mit jenen »kleinen Erlebnissen« auf sich hat, »um sich ebenso von ihrem Dasein als auch von dem eigenen deutlicher zu überzeugen«. Hier dreht sich nicht nur einer um die eigene Person wie nur allzu oft in der zeitgenössischen Romanliteratur, die sich in der Darstellung irgendwelcher Selbstbefindlichkeiten erschöpft. Vielmehr sieht Kafka nur allzu genau, wohin buchstäblich der Zug der Zeit geht; immerhin haben seine drei Schwestern und andere ihm nahestehende Menschen ihr Leben in Auschwitz verloren. Anstatt um irgendwelche Selbstevidenzen zu ringen, »sich selbst neu zu erfinden« oder wie ähnliche Phrasen lauten mögen, erkennt hier einer sehr genau, dass nicht allein sein Leben auf dem Spiel steht. Und wenn Kafka einmal in einer Tagebuchnotiz »Schreiben als Form des Gebetes« definiert, dann bedarf es keiner großen Phantasie, um zu erraten, für wen er wohl Fürsprache hält. In keinem anderen literarischen Werk der Moderne finden auf vergleichbare Weise Paraklese und Prophetie zueinander.
Wäre als Dritter der großen K der Maler Paul Klee zu nennen, der ein ungeheueres visionäres Werk geschaffen hat. Allein im letzten Lebensjahr – er starb im Juni 1940 an Sklerodermie – waren es 365 Bilder. Nicht nur in seinen letzten Lebensjahren, als ihm seine Schweizer Heimat zum Exil bzw. Asyl wurde [Klee war deutscher Staatsbürger], sondern weit zuvor weist sein Werk auf die große Katastrophe hin. Doch anders als die Expressionisten, deren Bilder des Krieges sich gleichsam im Ausdruck trostlosen Grauens und Schmerzes vergruben, scheinen selbst die menschlichen Gestalten, die in ihren Gesichtern oder auf ihren Leibern die Stigmata des (nahen) Todes tragen, vom Standpunkt der Erlösung aus auf das ihnen zugefügte Leid herabzublicken – als Transfigurierte, als vom Leid Verklärte. Nirgendwo finden sich bei Klee, selbst da nicht, wo aus den Gesichtern Trauer, ja Verzweiflung sprechen, auch nur Anklänge von Hass oder ohnmächtiger Wut, die nach Rache schreit. Bezeichnenderweise trägt eine Bleistiftzeichnung aus dem Jahre 1939, die das Antlitz eines leidgeprüften Menschen zeigt, den Titel: vergib ihnen!
Möglich, dass Klee, der vor der Entscheidung stand, statt Maler Musiker zu werden und sich insbesondere von Mozart inspiriert zeigte, von ihm her jene geradezu kosmische Heiterkeit empfangen hat, in die alles Erdenschwere eingetaucht scheint. Zudem weist eine Tagebuchnotiz hinsichtlich seines eigenen künstlerischen Selbstverständnisses auf eine besondere Gottesnähe, die ihm – anders als seinem gefallenen Malerfreund Franz Marc – alles Faustische fremd erscheinen lässt, den Blick auf den Zustand der Erlösung hin ebnete: »Ich / suche mir bei Gott einen Platz für mich, und we ich zu Gott / verwandt bin, will ich mir nicht einbilden, dass meine Brüder / nicht auch zu mir verwandt seien; doch das ist ihre Sache.« Weder das eigene Ego erscheint als absoluter Bezugspunkt, die Subjektivität, das Genie des Künstlers, noch das, was Klee mit Blick auf Marcs Malerei den »Erdgedanken« nennt. Vielmehr ist es die Gottebenbildlichkeit, in welcher die »Verwandtschaft« zu Gott und unter den Menschen gründet. Zwar kennt Klees Bilderkosmos zahlreiche Karikaturen, darunter auch sehr bissige, aber keine, die einen Menschen so verächtlich erscheinen lässt, dass sie im Betrachter das Gefühl von Hass oder Abscheu evozierte. Und er kennt auffallend wenige Aktdarstellungen, jedenfalls keine, die eine Frau in den Augen des Betrachters zum bloßen Lustobjekt abstempelt. Noch in Darstellungen beißender Ironie ist das Antlitz des Menschen gewahrt: Das Antlitz auch des Leibes – lautet bezeichnenderweise der Titel eines Bildnisses aus dem Jahre 1939; oder aus demselben Jahr: Gebärde eines Antlitzes. Darin berührt sich Klee aufs engste mit Kafka, dessen Porträts von Menschen, selbst wo es sich um willfährige Handlanger der Schlossherren oder die Henker im Prozess handelt, niemals so verzerrt erscheinen, dass sie verächtlich wirken. Im Gegenteil: Die physiognomischen Entstellungen weisen auf charakterliche Deformationen, die von Versklavung und Selbstversklavung herrühren, wie sie nicht allein die modernen Diktaturen kennen. Zählt doch in unserem aufgeklärten Zeitalter das Antlitz eines Menschen nicht mehr. Reichte es doch unter der NS-Herrschaft aus, Jude zu sein, um sein Todesurteil zu empfangen; und unter Stalin und unter den anderen kommunistischen Machthabern genügte es, freier Bauer oder Bürger zu sein, um sich in einem Arbeitslager wiederzufinden. Und vorab gerät in der sog. Freien Welt zur Karikatur, wer nicht dem jeweils herrschenden Schönheitsideal oder dem Selbstbildnis der Zeit genügt. Doch gerade die Stigmata sind es; insofern die Menschen buchstäblich als Gezeichnete erscheinen, was in Klees wie in Kafkas Bilderwelt Eingang findet – Ausdruck einer wahren Humanität, die einzig in der Gottebenbildlichkeit des Menschen gründet.
III. Das Reich des Fragwürdigsten und das Reich Gottes
Den apokalyptischen Abgründen ihrer Zeit ins Auge geschaut und darin gleichwohl das Antlitz des Menschen gewahrt zu haben – wahrhaft eine Kunst, die je in ihrer Weise die Werke von Kraus, Kafka und Klee auszeichnet. Kafkas als Jahrhundertroman bezeichnete Schrift Der Prozess beginnt mit einem Satz, der als Schlüsselsatz seiner Epoche gelten könnte: »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« Weniger der Akt der Verleumdung lässt aufhorchen; ihn gibt es seit Menschengedenken. Vielmehr ist es die Anonymität des Täters, der bis zuletzt im Dunkeln bleibt. Oder besser: die Unfassbarkeit im doppelten Sinne des Wortes, nämlich die Unfassbarkeit des Geschehens, dass ein Unschuldiger verhaftet wird, während der Täter unerkannt bleibt; und die Unfassbarkeit des Bösen im buchstäblichen Sinne, insofern sich das Böse hinter der Maske des Rechts verbirgt, um dem Unschuldigen den Prozess zu machen, sich selbst aber jeglicher Verantwortung zu entziehen sucht.
Denn wo vom Reich Gottes nur mehr mit einem ironischen Unterton gesprochen, ja wo Gott selbst, der bekanntlich mit sich keinen Spott treiben lässt (vgl. Gal 6,7), zum Gegenstand der Ironie wird, da schwindet auch die Einsicht in seinen Widerpart, in die Macht des Bösen, der umso hemmungsloser, umso unfassbarer zu wirken vermag, je weniger sein Wesen und Wirken erkannt wird. Gewiss, es gibt zahllose psychologische Annäherungen an das Böse; es gibt endlose moralische Verurteilungen und Erklärungen, eine hilfloser als die andere, weil allesamt die metaphysische Dimension dessen verkennen, was Menschen zu einem gnadenlosen Vernichtungswillen bis hin zu ihrer eigenen Selbstzerstörung treibt. »Das Staunen darüber«, vermerkt Benjamin am Schluss seiner These VIII Über den Begriff der Geschichte, »daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.« (GS 1.2, 697) Diese Zeilen sind wohlgemerkt zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geschrieben, als noch primär militärische Aktionen den Ton angaben.
Obschon Benjamin »das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind«, als kein philosophisches betrachtete, – so sei gleichwohl gesagt, dass es ein nicht ganz unmaßgeblicher Philosoph des 19. Jahrhunderts war, der jene »Vorstellung von Geschichte« sanktionierte. So schließt Nietzsches zweites Buch der Morgenröthe mit einem Ausblick in die Ferne [= § 148], wo er gegenüber einer moralischen Sichtweise von Mensch und Geschichte »unsere Gegenrechnung« aufmacht, die darin besteht, »dass wir den Menschen den guten Muth zu den als egoistisch verschrieenen Handlungen zurückgeben und den Werth derselben wiederherstellen, – und rauben diesen das böse Gewissen! Und da diese bisher die weit häufigsten waren und in alle Zukunft es sein werden, so nehmen wir dem ganzen Bilde der Handlungen und des Lebens seinen bösen Anschein! Diess ist ein sehr hohes Ergebniss! Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf, es zu sein!« (KGW V.1, 138) So einfach ist das – wenn es nur so einfach wäre! Wahrhaft keine theologische Sichtweise, sondern – naiv ist kein Ausdruck dafür: wahrhaft eine »jenseits von Gut und Böse«. Erblickte schon das 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Aufklärung, im Bösen primär ein moralisch-pädagogisches Problem, so weiß sich Nietzsche dem überlegen. Höchst selbstbewusst vermerkt er in den Nachgelassenen Fragmenten vom Herbst 1887 »Zur Stärke des 19. Jahrhunderts« (vgl. KGW VIII.2, 180): »Wir sind mittelalterlicher als das 18. Jahrhundert; nicht bloß neugieriger oder reizbarer für Fremdes und Seltenes. Wir haben gegen die Revolution revoltirt …« Und weiter: »Wir haben uns von der Furcht vor der raison, dem Gespenst des 18. Jahrhunderts, emancipirt: wir wagen wieder lyrisch, absurd und kindisch zu sein … mit einem Wort: ›wir sind Musiker‹.« Um zu wissen, welche Hymnen Nietzsche da anstimmt, mögen aus dem Kanon der weiteren Gedanken lediglich die drei folgenden zitiert werden: »– ebensowenig fürchten wir uns vor dem Lächerlichen und Absurden«, das sich nicht lange bitten lassen sollte. Wie auch ein Anderer nicht: »– der Teufel findet die Toleranz Gottes zu seinen Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse, als der Verkannte, Verleumdete von Alters her, – wir sind die Ehrenretter des Teufels«. Und das darunter nicht nur ein Rollenspiel als advocatus diaboli zu verstehen ist, beweist der nächste Gedanke: »– wir trennen das Große nicht mehr von dem Furchtbaren«.
»Vielleicht verfrüht.« – So ist der § 164 aus dem dritten Buch der Morgenröthe überschrieben, wonach »die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisiren und damit sich ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrieen, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend, lebten. Diess sollte man im Ganzen und Großen billig und gut finden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und Jedem das Gewehr um die Schulter hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, dass es keine allein-moralisch-machende Moral giebt und dass jede ausschließlich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tödtet und der Menschheit zu theuer zu stehen kommt.« (KGW V. 1, 146 f.) Wie teuer erst Nietzsches »Gegenrechnung« der Menscheit kam, braucht hier nicht eigens vorgerechnet zu werden. »Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei?« – So lautet die Eingangsfrage zu § 429: Die neue Leidenschaft. Gemeint ist damit »unser Trieb zur Erkenntnis«, der gegenwärtig – also im 19. Jahrhundert – so mächtig scheint, dass die Menschheit »den Neid auf das größere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht überwunden« habe (vgl. ebd. 268 f.). Damit scheinen die Weichen für die Zukunft gestellt: Entweder man huldigt weiterhin dem Pathos der Vernunft und Wissenschaft des Zeitalters der Aufklärung und des Deutschen Idealismus, letzthin der bürgerlichen Epoche, was auf Dauer recht langweilig, nach Nietzsche: »wie die unglückliche Liebe den Liebenden wird«. – Oder aber man scheut nicht das Risiko, durch die Barbarei hindurch endlich jenes Glück zu erlangen, das die »Erkenntnis« offensichtlich vereitelt, geradezu in einer Überspitzung der Schlangenfrage an die Menschen des Paradieses, denen die Verheißung [der Schlange] zuteil wurde: »Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.« (Gen 3,5) Begreift Hegel noch in seiner Religionsphilosophie den Sündenfall gleichsam als die Ursprungsgeschichte der Selbstemanzipation des Menschen, so wähnt sich der Mensch Nietzsches »jenseits von Gut und Böse«, bedarf also keiner Erkenntnis und keines Gottes mehr, ja sieht sich auf der Verliererstraße, wofern er am Ideal der Erkenntnis festhält. Daher seine sophistische Prämisse: »Ja, wir hassen die Barbarei, – wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss!« (KGW V.1269) Und angesichts dieser Form des schleichenden »Untergangs« erscheint die Bejahung des realen Untergangs als die einzige echte Alternative, die sich bietet. »Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwäche zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? –« (ebd.). Und genau das ist die Frage, nun zur »Seinsfrage« stilisiert, die den Heidegger der »Kehre« umtreiben wird [wir kommen darauf zurück] – mit dem kleinen Unterschied, dass Heidegger auf den Ersten Weltkrieg zurückblicken konnte und den Zweiten vor Augen hatte, während Nietzsche noch aus der Langenweile seines Jahrhunderts einen » Ausblick in die Ferne« wagte – »Vielleicht verfrüht«.
Vielleicht doch nicht verfrüht, mochte der kurzsichtige Nietzsche auch noch nach ihnen Ausschau halten: »wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts?« Man muss nämlich den Vorsatz lesen, um die Frage zu verstehen: »Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts?« (KGW VIII.2, 260) Denn jene Anfänge haben hier – bis in die Wortwahl hinein – vorsätzliche philosophische Grundlegung erfahren, auf der dann ein Heidegger wie »die Barbaren des 20. Jahrhunderts« mit gutem Gewissen aufbauen konnten. Es handelt sich wohlgemerkt um ein nachgelassenes Fragment aus dem Winterhalbjahr 1887/88. Denn kaum ein Jahr später sollten dem blinden Seher die Augen aufgehen. In einer seiner letzten Aufzeichnungen vor seiner geistigen Umnachtung von Dezember 1888 – Anfang Januar 1889 findet sich ein Pamphlet von visionärer Schärfe gegen die kaiserliche Hochrüstung, als ob der Erste Weltkrieg nicht 25 Jahre, sondern 25 Tage bevorstünde: »Todkrieg dem Hause Hohenzollern«: »Als der, der ich sein muß, kein Mensch, ein Schicksal will ich ein Ende machen mit diesen verbrecherischen Idioten, die mehr als ein Jahrhundert das große Wort, das größte Wort geführt haben. Seit F[riedrichs] des Großen Diebes Tagen, haben sie nichts getan als gelogen und gestohlen; ich habe einen einzigen auszunehmen, den unvergeßlichen Friedrich den Dritten« (…), und endlich »haben wir die Verlogenheit und Unschuld in der Lüge vor ein welthistorisches Gericht zu bringen« (VIII.3, 457). Ausgerechnet durch den, der sie sein Leben lang propagierte und dessen Wut nun auch trifft: »Ihr Werkzeug, Fürst Bismarck, der Idiot par excellence unter allen Staatsmännern, hat nie eine Handbreit über die Dyn[astie] Hohenzollern hinausgedacht«; am härtesten aber sein Urteil über »den christlichen Husaren von Kaiser, diesen jungen Verbrecher« (vgl. ebd.). Unter »Letzte Erwägung« vermerkt Nietzsche: »ich werde nicht zögern, ihn zu verderben, – ich will selbst die Brandfackel in seinem fluchwürdigen Verbrecher-Geist lodern machen« (ebd., 458).
Nichts anderes hat Nietzsche all die Jahre zuvor getan, als er in Morgenröthe »das Glück eines starken Wahnes« pries (vgl. V.1, 268). Oder in »Zarathustra’s Vorrede« vollmundig bekundet: »Nicht eure Sünde – eure Genügsamkeit schreit gen Himmel, euer Geiz selbst in eurer Sünde schreit gen Himmel! / Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müsstet? / Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!« (VI. 1,10) Als nun aber »dieser Blitz« im Hause Hohenzollern eingeschlagen hat, insofern es sich anschickt, mit den von Nietzsche propagierten soldatischen Tugenden ernst zu machen, da lamentiert er in »Letzte Erwägung«: »Daß man eine solche Auslese der Kraft und Jugend nachher vor die Kanonen stellt, ist Wahnsinn.« (VIII 3, 459)
Der subjektiven Pathologie, dem Wahnsinn des Philosophen, geht mit seiner letzten Einsicht in den allgemeinen Wahnsinn – mag er diesen auch mit dem Hause Hohenzollern personifizieren – zugleich die objektive Pathologie des modernen Atheismus in Gestalt einer chronischen Selbstüberschätzung, ja Selbstübersteigerung des Menschen voraus. »Was gross ist am Menschen«, heißt es in »Zarathustra’s Vorrede«, »das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.« (KGW VI.1, 10 f.) Denn mehr kann er nicht sein in Anbetracht seiner eigenen Endlichkeit, in die er sich aus einer atheistischen Sicht irgendwie fügen – oder aber deren Grenzen er testen kann, um nicht in dieser seiner Endlichkeit aufzugehen. »Ziel: die Heiligung der mächtigsten furchtbarsten und bestverrufensten Kräfte, im alten Bilde geredet: die Vergöttlichung des Teufels« (KGW VIII.1, 7), so seine Bestimmung nach einem nachgelassenen Fragment von Herbst 1885 – Frühjahr 1886. Mochte nun der Gottesleugner Nietzsche so wenig wie manch anderer aufgeklärte Geist an die Existenz des Teufels glauben – gerade auf dessen Verkennung beruht sein Verhängnis, da er des Zusammenhangs zwischen Selbstvergötzung und dem Grundempfinden der Verlorenheit nicht innewird. Im Gegenteil: »Vortheil im Verkennenden« – lautet § 341 von Morgenröthe, wo sich unschwer der autobiographische Bezug herauslesen lässt: »Jemand sagte, er habe in der Kindheit eine solche Verachtung gegen die gefallsüchtigen Grillen des melancholischen Temperaments gehabt, dass es ihm bis zur Mitte seines Lebens verborgen geblieben sei, welches Temperament er habe: nämlich eben das melancholische. Er erklärte diess für die beste aller möglichen Unwissenheiten.« (KGW V.1, 238) Ganz fremd war Nietzsche »das melancholische« freilich nicht, wie aus einem an Franz Overbeck gerichteten Briefentwurf vom 20. Juli 1888 hervorgeht, in dem Nietzsche abschließend bemerkt: »Die Schwierigkeit, eine Distraktion zu finden, die stark genug (sei), wird immer größer. Ich bin mitunter auf eine unbeschreibliche (Weise) melancholisch.« (KGB III.5, 364) Doch selbst wenn es sich hierbei um einen Anderen handelte, spürte Nietzsche im Unterschied zu vielen – auch heutigen – Zeitgenossen die theologische Dimension jener Gefahren, so fremd ihn auch alles Theologische aufstoßen mochte: »– ich begreife es nicht«, heißt es in einem nachgelassenen Fragment aus dem Umkreis des oben zitierten, »wie man Theolog sein kann. Ich möchte nicht gern gering von dieser Art Menschen denken, welche doch nicht nur Erkenntniß-Maschinen sind« (KGW VIII.1, 10). Weit entfernt von dem engstirnigen Atheismus unserer Tage, hat sich Nietzsche immerhin so viel Gespür bewahrt, um zu konstatieren: »– die Unkenntniß des Menschen und das Nicht-Nachdenken macht, daß die individuelle Zurechnung erst spät gemacht wird. Man fühlt sich selber zu unfrei, ungeistig, durch plötzliche Antriebe fortgerissen, als daß man über sich anders denken sollte als in Betreff der Natur: es wirken auch in uns Dämonen.« (Ebd., 9)
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