Kitabı oku: «Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen», sayfa 2

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An dem Tage, da der österreichische Konsul die österreichische Kriegserklärung an Russland offiziell erfährt, kommt er sichtlich erleichtert wieder zu uns ins Hotel. Binnen 24 Stunden muss er nach diplomatischem Brauch seinen Posten verlassen. Er kann nur froh darüber sein. Noch dazu hält er in Händen das Antworttelegramm von Mr. Shmid aus Batum, das reichlich lange gebraucht hat, und in dem geschrieben steht, dass Mr. Shmid unmöglich von Batum nach Tiflis kommen, dass er überhaupt nichts für die Deutschen tun kann.

Wir machen lange Gesichter. Mit dem amerikanischen Schutz ist es also auch nichts. Nun heißt es: Hilf dir selbst ... Wenn es dafür nur nicht zu spät ist ... Hätten wir schon am Tage der Kriegserklärung gewusst, wie die Dinge liegen, hätte wohl doch noch mancher entwischen können bei der allgemeinen Unordnung. Aber wir Deutschen sind ja gewöhnt, auf den Rat unserer Behörden zu hören, in diesem Falle die Konsulate. Sie rieten uns, nichts zu unternehmen, sondern zunächst einmal zu warten ... Also warteten wir ... Bis der Krieg uns dann von dem Glauben an die Konsulate kurierte...

Der österreichische Konsul rüstet sich zur Abreise über Petersburg-Finnland. Ich setze Himmel und Hölle in Bewegung, um mit ihm reisen zu können. Man verspricht mir die Pässe bis zum Abend. Wir packen wieder einmal um, denn für die weite Reise über Finnland nimmt man nur das Allernotwendigste mit ... Der Abend kommt. Die Pässe nicht. Wir essen mit dem Konsul zu Abend. Gegen neun Uhr wird er von einem Offizier zur Fahrt nach der Bahn abgeholt ... Gegen halb elf erscheint er wieder im Hotel. Auf ein so baldiges Wiedersehen hatten wir nicht gerechnet. Er saß schon im Zug, und der Zug sollte abgehen, da wurde ihm bedeutet, der Weg über Finnland sei gesperrt. Er könne nur noch über Wladiwostok – Peking – San Franzisko – New-York reisen. Eine etwas umständliche und kostspielige Reise. Wer hat das nötige Kleingeld dafür in der Tasche? ... Also musste er wieder zurück in die Stadt, um sich das nötige Geld für diese Gewalttour zusammenzuborgen. Seine eigenen Gelder wurden ihm ja nicht mehr ausbezahlt...

Am nächsten Abend fuhr er dann ab und kam jedenfalls nicht mehr ins Hotel zurück. Was aus ihm geworden ist, wissen wir nicht.

Das Schicksal der Deutschen aber war damit besiegelt. Wir waren völlig schutzlos der Willkür der russischen Behörden preisgegeben.

* * *

In der russischen Mausefalle

In der russischen Mausefalle

Am 5. August gegen Mittag kommt der Hotelportier in das Restaurant, wo wir Deutschen gerade wieder einmal beratend zusammensaßen, um die beiden Söhne des Hauses, mich und den bayrischen Ingenieur in das Büro zu rufen, wo der stellvertretende Reviervorsteher unserer harre, um ein Protokoll aufzunehmen.

Vier Mann hoch ziehen wir in das Büro. Ein jovialer, kugelrunder Herr, dieser stellvertretende Pristav. Essen und Trinken ist ihm sicher eine angenehmere Beschäftigung als Protokolle aufnehmen.

Ich komme zuletzt an die Reihe und habe Zeit, zu überlegen, was ich sagen soll. Meine Lage ist ein wenig heikel. Kurz vor Kriegsausbruch ist von mir in einem Berliner Verlag ein Buch unter dem Titel: „Der Zar und seine Juden“ erschienen, das mit der russischen Regierung nicht gerade wohlwollend umgeht. Aus meinem Pass ging ferner deutlich hervor, dass ich direkt aus Konstantinopel kam, dort mehrere Monate gelebt hatte und jetzt wieder nach der Türkei zurück wollte. Ich hätte den Russen also schon deshalb verdächtig erscheinen können.

Ich gab zu Protokoll, was freilich nur ein Teil der Wahrheit war, ich beschäftige mich mit archäologischen Studien, speziell mit chetitischen, und reise zu diesem Zweck nach Wan und Umgegend.

Der kugelrunde Pristavstellvertreter konnte sich dabei zwar offenbar nichts Rechtes vorstellen, gab sich aber vorläufig damit zufrieden.

Bis auf den jüngeren Sohn des Hauses konnten wir zu unserem Frühstück zurückkehren. Den jüngeren Sohn nahm der Polizeibeamte mit. Erst am nächsten Tag brachte seine Frau, eine im Kaukasus geborene deutsche Kolonistin, heraus, dass ihr Mann auf der Hauptwache saß und dort festgehalten wurde.

Tags darauf Nachricht von dem Eingesperrten, dass er zunächst auf der Hauptwache bleiben müsse, wo auch der deutsche Konsul aus Erzerum in der Türkei festgehalten werde. Dr. Anders, der deutsche Konsul in Erzerum, kam aus Wan, wohin ich ursprünglich hatte reisen wollen. Er wählte ebenfalls den bequemeren Weg über Russland nach Erzerum, ohne eine Ahnung vom Ausbruch des Krieges zu haben, wurde auf russischem Gebiet festgenommen und war also nun in der Hauptwache in Tiflis eingesperrt...

Die englische Kriegserklärung an Deutschland wird in Tiflis bekannt. Auf dem Rathaus tanzen sie Freudentänze. Tiflis steht Kopf. Nun kann es nicht fehlen! Deutschland ist schon so gut wie vernichtet.

Einige wenige Russen benehmen sich jetzt noch herablassender gegen die armen Njemezki, die Deutschen. Den meisten aber stärkt Englands Kriegserklärung so den Mut in der Brust, dass sie anfangen unverschämt zu werden gegen alles, was deutsch ist.

Nur die beiden Engländer in unserem Hotel freuen sich nicht der englischen Kriegserklärung. Im Gegenteil. Sie sind wie vom Donner gerührt, als sie sich darüber Gewissheit verschafft haben. Dann schimpfen sie auf Lord Grey, wie ich englisch noch nie habe schimpfen hören. Durch sein aktives Eingreifen in den Krieg verdarb er England nach ihrer Meinung das schönste und größte Geschäft, das sich der britischen Insel seit ihrem Bestehen bot. Nun hatte England Farbe bekannt, statt wieder im Trüben zu fischen. Der größte Fehler, den England je begangen hat. Sie reisten ab, wütend und verstört. Recht hatten sie! ...

Das junge holländische Ehepaar, das neutrale Ehepaar, fühlt sich unbehaglich, denn ganz mag man es doch nicht mit den Deutschen verderben, aber die Russen beginnen, es den jungen Leuten übelzunehmen, wenn sie mit uns sprechen. Sie tun das klügste, was ein Neutraler tun kann, sie reisen ab und machen ihre Bergtouren. Derweil die Welt in Flammen steht, besteigen sie den Kasbek.

Unser österreichisch-polnisches Ehepärchen hält sich fast den ganzen Tag auf seinem Zimmer versteckt. Erst am Abend erscheinen die beiden und lustwandeln verstohlen, zärtlich aneinander geschmiegt, durch den kleinen Hotelgarten. Tagsüber fürchten sie sich und sehen von Tag zu Tag elender aus.


Großfürst Nikolai Nikolajewitsch

Erst als des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch (Nikolai Nikolajewitsch Romanow, auch Nikolai Nikolajewitsch der Jüngere genannt, ( russisch Николай Николаевич Романов, Николай Николаевич Младший; * 6. November jul. / 18. November 1856 greg. in Sankt Petersburg; † 6. Januar 1929 in Antibes) war ein russischer General und Großfürst aus der Zarenfamilie Romanow.) Aufruf an die Polen bekannt wird, atmen sie auf und fassen wieder Mut. Der Mann hat mir erklärt, er sei entschlossen, russischer Untertan zu werden. Wäre er nicht so schwächlich, hätte ich ihn geohrfeigt. So kehre ich ihm nur stumm den Rücken...

Acht Tage nach der ersten Protokollierung werden wir, der ältere Sohn des Hauses, der bayrische Hütteningenieur und ich, wieder aus dem Restaurant gerufen. Im Hoteleingang stehen sechs russische Infanteristen und ein Polizeioffizier mit zwei Polizisten. Als der Polizeioffizier uns sieht, kommandiert er barsch: „Hut auf! Mitkommen!“ Wir wollen unsere Frauen vorher verständigen. Man lässt es nicht zu. Also Hut auf und mit. Wir drei werden von den neun in die Mitte genommen und abgeführt. Wie Schwerverbrecher. Zu Fuß geht es in solchem Aufzug durch die Straßen zum zuständigen Polizeirevier. Die Sonne brennt beträchtlich.

Auf dem Revier treffen wir noch ein halbes Dutzend Deutsche, die genauso wie wir ohne jede Erklärung hierher transportiert worden sind. Auch die Polizei klärt uns nicht darüber auf. Wir stehen auf dem Gang herum und warten.

Es war noch nicht zehn Uhr, als wir eingeliefert wurden.

Um halb zwei werden wir, jetzt ein Dutzend Deutsche, vom Revier unter starker Bedeckung zum Polizeipräsidium eskortiert. Zum Gaudium der Russen führt der Weg durch die ganze Stadt. Nicht gerade ein angenehmes Spießrutenlaufen. Wir kommen an der Hauptwache vorbei, und der Zufall will es, dass gerade der jüngere Richter aus seinem vergitterten Fensterchen sieht, als sein älterer Bruder mit uns vorbeigetrieben wird.

Auf dem Polizeipräsidium heißt es zunächst wieder einmal: warten. Nach und nach kommen immer mehr Deutsche hinzu aus anderen Polizeirevieren. Es ist, als hätte die Tifliser Polizei heute Morgen durch die ganze Stadt eine Jagd auf Deutsche gemacht.

Endlich öffnet sich eine Tür, und die Deutschen werden einzeln hereingerufen. Ich bin einer der letzten. In dem Zimmer sitzt wieder ein Pristav und nimmt Protokolle auf. Ich wiederhole, was ich schon vor acht Tagen gesagt habe. Das Protokoll ist zu Ende, und ich will zu den andern Deutschen, die in einem Nebenraum versammelt sind, wie ich durch eine offenstehende Tür sehen kann. Der Pristav schreit mich an und weist mich zu einer andern Tür, hinter der ich verschwinde. In diesem Raum befindet sich außer mir noch ein Deutscher. Wir sehen uns an und sprechen miteinander. Haben wir etwas Besonderes verbrochen, dass wir von den andern abgesondert werden, oder was ist sonst los?

Noch ein Deutscher gesellt sich zu uns. Warten. Endlich erscheint ein Polizist und brüllt uns an: „Pascholl!“ (Raus!)

Wir also raus, und da uns niemand hindert, sich niemand um uns kümmert, verlassen wir das Polizeipräsidium. Und da sich die Polizei vor dem Tor auch nicht um uns kümmert, gehen wir eben nach Hause.

Aber wo bleiben die anderen, wo bleibt der bayrische Hütteningenieur, wo steckt der ältere Richter, der älteste Sohn unserer Hotelbesitzerin? Niemand weiß es. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.

Kaum im Hotel angekommen, stürzen die Frauen über mich her. Wo sind die Männer? Ich weiß es nicht. Was wird mit ihnen? Ich weiß es nicht. Wir telefonieren. An unser Revier. An das Polizeipräsidium. Die alte Frau Richter setzt sich mit den einflussreichsten Leuten in Verbindung. Sie verkehren ja alle in ihrem Hotel. Sie lebt ja schon dreißig Jahre in Tiflis und kennt jedermann, und jedermann respektiert sie. Keiner gibt ihr eine bestimmte Auskunft. Immer nur Ausreden, billige Ausflüchte und flüchtige Trostworte, die aber gar nicht ernst gemeint sind. Früher hatte sie so viel Einfluss. Jetzt ist das alles wie mit einem Ruck abgeschnitten, als wäre es nie gewesen.

Wilde Gerüchte gehen in der Stadt über die beiden Söhne der Frau Richter. Sie sind ja stadtbekannt wie die Mutter. Der eine soll gerade dabei erwischt worden sein, wie er russische Pläne auf die Post gab für Deutschland. Der andere soll Photographien russischer Befestigungen gesammelt und nach Berlin geschickt haben und dergleichen mehr, woran natürlich kein wahres Wort ist. Endlich gelingt es der Frau des jüngeren Sohnes, zum Stadtkommandanten vorzudringen. Endlich gelingt es der alten Dame, beim Statthalter, dem allmächtigen Grafen Woronzow-Daschkow, einem Günstling des Zaren, empfangen zu werden. Aber immer nur Ausflüchte und nichtssagende Redensarten ...

Außer den Offizieren ziehen sich die Russen immer mehr von dem Hotel zurück. Man beginnt, es zu meiden. Wenn aber einer einmal wiedererscheint, der sonst Stammgast hier war, vielleicht auch eine tüchtige Portion Schulden hier hat, dann kommt er nur, um die alte Dame zu quälen. Ob sie noch nicht wisse, dass ihr einer Sohn morgen gehängt werde? Oder er kondoliert direkt mit scheinbar teilnahmsvollem Gesicht, weil der eine Sohn gestern hingerichtet worden sei. Hat er seinen Zweck erreicht und die alte Dame der Verzweiflung nahegebracht, macht er sich schleunigst aus dem Staube.

Nun wagt sich jeder Neid wider das altangesehene Haus hervor und wird zur Niedertracht. Es ist ja jetzt patriotisch, sich gegen die Deutschen niederträchtig zu benehmen. Und gegen diese alte, harmlose Dame hat man dazu ja so einen prachtvollen Vorwand. Im russischen Klub wurde allgemein erzählt, dass im Hotel London ein ganzes Nest von deutschen Spionen auszuheben sei. Schon am Tage vor der Kriegserklärung hätten die Deutschen im Hotel London über den Krieg Bescheid gewusst und ein wüstes Sektgelage abgehalten, bei dem auf Kaiser Wilhelm Hochs ausgebracht und auf den Untergang Russlands die Gläser geleert wurden.

So sah jenes harmlose Sektfrühstück vom 2. August, von dem ich erzählte, jetzt aus. Und der eigentliche Urheber dieses Frühstücks, der eigentliche Veranlasser und Veranstalter der ganzen Tat, der Balte, der Russe, der Aristokrat, der Herr Baron Drachenfels, selbst Mitglied des russischen Klubs, er trat doch selbstverständlich als Ehrenmann gegen solche Gerüchte auf und legte den wahren Sachverhalt dar, denn er war doch der nächste dazu? Er dachte gar nicht daran. Er war zu feig, die Sache aufzuklären, und ließ es ruhig zu, dass unschuldige Frauen und wehrlose Männer darunter zu leiden hatten. Ja, er besaß sogar die perfide Frechheit, dem Direktor des Hüttenwerkes, bei dem der bayrische Ingenieur angestellt war, zu erklären, dieser habe das Frühstück arrangiert und sei nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen, das Wohl des Deutschen Kaisers auszubringen. Auf Sekt habe er aber bestanden, und so sei es nur gelungen, dass dank seiner Vorstellungen wenigstens russischer Sekt getrunken wurde...

Jetzt bin ich der einzige Deutsche im Hotel London. Um mich her nur noch weinende, verzweifelte Frauen, denen Männer und Söhne fortgenommen waren. Niemand wusste damals, welchem Schicksal sie entgegengingen.

Eines Abends spät erscheint ein Gefängnisbeamter und gibt gegen hundert Rubel Auskunft über das Schicksal der Verhafteten. Wir erfahren, dass einige zwanzig, darunter der jüngere Sohn des Hauses, im Zuchthaus sitzen. Mit ihm auch der deutsche Konsul Dr. Anders. Wir erfahren, dass man 250 andere Deutsche, da die Zuchthäuser für sie zu eng geworden waren, in einer Kaserne untergebracht hat, bis sie „verschickt“ werden. Wir erfahren durch den Mann, dass alle Deutschen vom 18. bis 45. Lebensjahr eingesperrt und „verschickt“ werden. Ganz einerlei, ob sie militärpflichtig, militärtauglich oder keins von beiden sind, denn, wie der Mann sich ausdrückt, wenn der Kaiser Wilhelm befiehlt, müssen sie doch alle gegen uns kämpfen. Wir erfahren, dass dank eines Erlasses des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, des erlauchten Höchstkommandierenden der russischen Heere, auf alle Deutschen zwischen 18 und 45 Jahren durch das ganze weite, heilige Russland hin eine förmliche Jagd abgehalten wird, um sie einzusperren und zu „verschicken“. Und nun weiß ich endlich auch, warum man mich wieder hat laufen lassen. Ich habe das 45. Lebensjahr vollendet, komme also nicht mehr in Betracht. Ein erbärmliches Los, das erbärmlichste von allen.

Den Gefangenen in der Kaserne wurde es erlaubt, zu bestimmten Stunden am Nachmittag ihre Angehörigen zu empfangen. Sie durften den Männern Essen und wärmere Sachen für die nicht mehr heißen Nächte bringen. Sie brachten ihnen auch Geld.

Denen, die im Zuchthaus saßen, durfte man einmal in der Woche Essen bringen. Das Essen wurde von den Zuchthausbeamten in Empfang genommen. Ob die Gefangenen es auch wirklich erhielten, war nicht zu erfahren. Niemand durfte sie sehen oder sprechen.

Jene in der Kaserne durften wenigstens Abschied nehmen von ihren Angehörigen, als sie „verschickt“ wurden. Die im Zuchthaus haben bis auf diesen Tag nichts mehr von ihren Angehörigen zu sehen bekommen. Auch ihnen zu schreiben, war verboten.

Dabei hatten sie nicht mehr und nicht weniger verbrochen als die in der Kaserne Eingesperrten. Sie hatten ebenfalls nichts weiter verbrochen, als dass sie deutsche Reichsangehörige waren. Wir wissen das deshalb ganz genau, weil wir mit einigen dieser Zuchthäusler später in Sibirien zusammen waren und aus ihren Papieren zu ersehen war, dass auch gegen sie nichts weiter vorlag. Seit Kriegsausbruch ist jeder Reichsdeutsche, der auf russischem Staatsgebiet betroffen wurde, ein Verbrecher und wird als solcher behandelt. Ob dieser Verbrecher, bevor er „verschickt“ wird, im Zuchthaus sitzt oder anderswo, ist reine Zufallssache. War er vor Kriegsbeginn ein besonders angesehener Deutscher oder ein gefürchteter Konkurrent russischer Kaufleute, so hatte er gute Aussicht, zuerst ins Zuchthaus zu kommen. Kannte ihn niemand und kam er als Konkurrent nicht in Betracht, so hatte er einige Aussicht, in die Kaserne zu kommen. Das war neben dem reinen Zufall der einzige Gesichtspunkt, der deutlicher sichtbar wurde...

Zwei Tage nach Kriegsausbruch war die russische Mausefalle geschlossen. Kein Reichsdeutscher konnte ihr noch entkommen. Zunächst wurden alle Reichsdeutschen zwischen 20 und 45 Jahren eingefangen, eingesperrt und dann „verschickt“. Später verfuhr man auch mit den Deutschen vom 17. Lebensjahr bis zum 50. genauso. Ob gesund, ob krank, ob militärpflichtig, militärtauglich oder nicht, ob lahm oder blind, einerlei, es sind Reichsdeutsche, sie sind Verbrecher und werden nach Sibirien verschickt. Und im ganzen weiten russischen Reich erhob sich nirgends eine Stimme, die dagegen protestierte, die dies Verfahren der Regierung als das erkannte, was es war: nämlich eine perfide, niederträchtige Gemeinheit und nichts anderes. Aber es gab auch im weiten russischen Reich keinen Neutralen, weder einen Botschafter noch einen Konsul oder sonst etwas, der dagegen protestiert hätte. Und wir haben auch nie etwas davon gespürt, dass man in Deutschland irgendetwas Energisches gegen diese Gemeinheit unternahm. Wussten die Deutschen im Reich nicht, was mit ihren Brüdern in Russland geschah? Hatten die Deutschen im Reich vergessen, dass viele Tausende deutscher Landsleute in Russland das Los gemeiner Verbrecher tragen müssen, nur weil sie Deutsche sind und bleiben wollen? Hat man uns ganz und gar vergessen? Sind wir für unser Volk gar nichts mehr wert? Verlassen und wehrlos der russischen Niedertracht preisgegeben, bis wir in Sibirien erfroren, verhungert oder totgeschlagen sind?

So und nicht anders müssen viele Tausende deutscher Männer, junge und alte, in Sibirien denken.

* * *

An der Madatowskij-Insel

An der Madatowskij-Insel

Das Hotel London in Tiflis liegt hart an einem Seitenarm der Kura.


Kura-Fluss

Die Kura bildet hier eine Insel, die Madatowskij-Insel, über die die Nikolaibrücke führt. Von unserem Hotelzimmer sieht man über diese Insel die Altstadt langsam bis zur Bahn und den dahinter liegenden Hügeln, den letzten Ausläufern des hohen Kaukasus, emporklettern. Alte Häuschen mohammedanischen Stils. Dazwischen kleine Plätze, von denen die Sonne alles Grün abgefressen hat. Dahinter kahle, gelbe Hügel, die sich aus braun gebrannten Äckern und Wiesen erheben, auf denen der Sonnenbrand das letzte Leben getötet hat. Auf der Insel verwahrloste Hunde, die von Abend bis Morgen einen Heidenspektakel vollführen und tagsüber mit irgendwelchem stinkenden Raub herumliegen. Wie es früher in Konstantinopel war. In dem immer seichter werdenden Kura-Arm, der am Hotel vorbeifließt, tummeln sich am Nachmittag halb erwachsene Burschen der ärmeren Bevölkerung zusammen mit trächtigen Mutterschweinen, die ebenfalls im Wasser einige Kühlung suchen.

Dies die Aussicht von unserem Hotelfenster, die wir anderthalb Monate auszuhalten hatten, denn so lange war es mir verboten, das Hotel zu verlassen. Nur meine Frau durfte sich auf der Straße zeigen.

Wir starren aus dem Fenster zur Nikolaibrücke. In scharfem Trab kommt ein kleiner Wagen über die Brücke. Auf seinem Sitz thront eine Kiste. Rechts und links davon sitzen je zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr.


Vor dem Wagen ein berittener Kosak. Hinter ihm drei weitere Kosaken. Gleich muss es Mittag sein, denn kurz vor Mittag erscheint jeden Tag dieser kleine Wagen mit Staatsgeldern von der Bahn und fährt zur Reichsbank. Da steigt auch schon hoch oben am Berg ein blauweißes Wölkchen auf. Dann ein Kanonenschuss. Es ist Mittag.

Frühstück im Zimmer, denn in das Restaurant dürfen wir uns nicht mehr wagen.

Um Mittag haben wir jetzt durchschnittlich 35-40 Grad Hitze. Kein Lüftchen regt sich.

Wieder am Fenster. Über die Nikolaibrücke bewegt sich der halbe Orient. Perser auf kleinen Eseln, die Holzkohlen befördern. Mullahs in grünen oder weißen Turbanen. Schäbige Pferde mit Wasserschläuchen über den eingesunkenen Rücken und mit dicken Bäuchen, gezerrt von braungebrannten Kerlen, die zum Schutz gegen die Sonnenglut sich weiße Tücher seltsam über Kopf und Schulter geschlagen haben. Sie gleichen alten Ägyptern. Zerlumpte Tataren in Fellmützen. Eine Kosakenpatrouille. Aber nie Militär. Das wird nur nachts befördert, und dann meist auch nicht durch die Stadt, sondern auf weiten Umwegen um die Stadt herum.

Bunt, grell, abenteuerlich, orientalisch. Wie es Bodenstedt schon besungen hat. Aber sechs Wochen lang immer dasselbe und in unserer Verfassung, man wird immer ungeduldiger. Das Heimweh nach Deutschland wächst erst recht.

Man setzt sich mit dem Rücken zum Fenster und greift zu den Zeitungen. Wir bekommen den „Temps“. Er schimpft auf allen Seiten, in allen Rubriken auf die barbarischen Deutschen und weiß in jeder Spalte neue Ungeheuerlichkeiten über deutsche Grausamkeiten und Niederträchtigkeiten zu erzählen. Es stimmt nicht freundlicher.

Man nimmt den „Petersburger Herold“ vor, eine deutsche Zeitung. Man könnte geradeso gut die „Nowoje Wremja“ lesen. Dies Schandblatt deutscher Zunge ist nicht weniger gemein.

Meine Frau liest mir die Londoner „Times“ vor. Es ist einfach nicht zum Aushalten. Es ist, als atme man unausgesetzt Gift ein, sowie man eins dieser Blätter in die Hand nimmt. Man fühlt, mit der Zeit wird man verrückt darüber. Keine Zeitung darf mir mehr ins Zimmer. Nur noch die Telegramme des russischen Generalstabes.

Vier Wochen ist nun Krieg, und die Deutschen haben immer noch nicht Lüttich genommen? Was ist denn aus den deutschen Soldaten geworden? Überall werden sie zurückgeschlagen. In Ostpreußen wird schon eine russische Verwaltung eingesetzt.


Rennenkampff in Insterburg in Ostpreußen

Ein Herr mit dem echt russischen Namen Müller soll diese Verwaltung leiten, und in einem Interview erklärt er, dass er alle europäischen Sprachen spreche, aber in Ostpreußen nur Russisch sprechen werde, damit sich die Deutschen dort gleich an die neue Heimat gewöhnen und erkennen, mit Deutsch ist es ganz und gar nichts mehr.


Paul von Rennenkampff

Rennenkampf steht schon dicht bei Berlin. Die Franzosen haben das ganze Elsass besetzt. England hat die deutsche Handelsflotte ruiniert und bei Helgoland der deutschen Kriegsflotte eine schwere Niederlage beigebracht, von der sie sich nicht mehr erholen wird. Man rechnet stündlich damit, dass englische Kriegsschiffe die Elbe hinauffahren und Hamburg bombardieren.

Ein bisschen viel auf einmal für einen guten Deutschen. Das kann unmöglich wahr sein. Man greift doch wieder zu den Zeitungen und forscht zwischen den Zeilen nach der Wahrheit, da sie in ihnen einfach nicht stehen kann. Da, fett gedruckt im Petersburger Herold: der deutsche Kaiser hat hundert Sozialdemokraten erschießen lassen. Dann eine fette Notiz: Revolution und Hungersnot in Berlin. Unter den Linden ist es zu wilden Straßenkämpfen gekommen. Das Militär schoss auf die Tumultuanten, die gegen den Krieg demonstrierten. Hundert Tote blieben auf dem Platz ... Schon quält Hunger die Berliner Bevölkerung. Das Pfund Rindfleisch kostet in der Reichshauptstadt jetzt schon eine Mark.

Ich zu meiner Frau: „Sag mal, weißt du noch, was wir im Frühjahr in Berlin für ein Pfund Rindfleisch bezahlt haben?“

Meine Frau: „Natürlich, das weiß ich noch ziemlich genau, durchschnittlich eine Mark zwanzig.“

Meine Frau glaubt, ich bin verrückt geworden, denn ich lache, dass mir die Tränen über die Backen laufen.

Und ich werde wieder eifriger Zeitungsleser. Die Forts von Lüttich leisten immer noch tapferen Widerstand, aber die Deutschen sind in Brüssel. Das ist zwar ohne jede Bedeutung und braucht keine Beunruhigung hervorzurufen, denn es liegt durchaus im Kriegsplan der „Verbündeten“ ... Hm, na, schön, ich habe nichts dagegen.


Meldung aus Paris: Die französische Regierung verlässt Paris, weil der Stadtkommandant es so wünscht, und begibt sich nach Bordeaux. Langer Bericht, wie klug die Franzosen daran tun, und wie ehrlich von der Regierung, das vor aller Welt bekanntzugeben. Man sieht, was für eine moralische Wandlung mit der großen Nation vor sich gegangen ist. 1870 leider viele Lügenberichte, jetzt diese Ehrlichkeit. Eine völlige Neugeburt der französischen Nation. Sie geht sogar wieder in die Kirchen, die überfüllt sind ... Muss das allen russischen Herzen wohl tun...

Von Ostpreußen hört man gar nichts mehr. Der echte Russe, Herr Müller, scheint seine Abreise nach Königsberg aufgeschoben zu haben. Da dürfte etwas dazwischen gekommen sein? Wenn man nur erfahren könnte, was?

Auf meinem Zimmer erscheint gegen Abend wieder einmal ein Pristavstellvertreter, um wieder einmal ein Protokoll mit mir aufzunehmen. Es wäre einfacher, er schriebe die früheren Protokolle ab, denn mehr erfährt er doch nicht von mir, aber dazu kann er sich nicht entschließen. Auch hat ihm die Behörde noch besondere Aufträge gegeben. Er soll in Erfahrung bringen, ob ich politisch irgendwie verdächtig sei, ob ich schon im Zuchthaus gesessen habe, und ob ich für die Dauer des Krieges in Tiflis zu bleiben beabsichtige.

Wie soll der arme Pristavstellvertreter nun die Wahrheit über mich erfahren, da mich niemand genauer kennt? Er kommt also direkt zu mir, dass ich sie ihm sage. Die Frau des jüngeren Sohnes vom Haus kommt mit, um den Dolmetsch spielen. Der Polizist bittet die Dame, da er nicht federgewandt sei, für ihn das Protokoll zu schreiben. Das geschieht, und die Dame nimmt zu Protokoll, dass ich politisch durchaus unverdächtig sei, nie im Zuchthaus gesessen habe und darum bäte, als nicht militärpflichtig und Mann von 45 Jahren ins Ausland abreisen zu dürfen. Dazu kommt dann noch das Gewohnte von früheren Protokollen her über meine archäologisch-chetitischen Interessen. Die Arbeit dauert anderthalb Stunden. Der Polizist sitzt zufrieden auf seinem Stuhl und raucht, meine Frau und ich sitzen um ihn herum und versorgen ihn immer wieder mit neuen Zigaretten. Die Dame des Hauses schreibt. Das Protokoll ist fertig. Aber es braucht nun noch drei Zeugen, die die Wahrheit der Aussagen durch ihre Unterschrift beglaubigen sollen. Woher nehmen? Wir holen einen Kellner aus dem Restaurant und zwei x-beliebige Leute von der Straße, die für zwei Rubel als Zeugen fungieren. Als somit alles in schönster Ordnung ist, fragt mich der Polizist nach dem jungen österreichisch-polnischen Privatdozenten aus. Ich weiß nichts und habe nichts über ihn zu berichten. Der Polizist will das nicht glauben. Er holt die Pässe von mir und meiner Frau hervor, die mit dem Pass des polnischen Ehepaars zusammengeheftet sind. Für ihn ein Beweis, dass die Behörde uns ebenfalls für gute Bekannte hält. Ich habe aber nichts über den Mann zu sagen, dem die Polizei erlaubt hat, sich in der Stadt eine billigere Wohnung zu nehmen, während sie mich zwingt, in dem teuren Hotel zu bleiben und vom Pump zu leben. Da wir nichts miteinander zu tun haben, bitte ich den Polizisten, das auch äußerlich dadurch kenntlich zu machen, dass er die Pässe voneinander trennt. Aber er tut es nicht...

Wieder einmal wird es Nacht. Um diese Zeit pflegen sonst die wahren Patrioten mit dem Bild des Zaren durch die Straßen zu ziehen und die Nationalhymne zu singen. Seit einigen Tagen hört man sie nicht mehr. Der Statthalter hat es verboten. Die patriotische Manifestation machte auch einen gar zu kläglichen Eindruck. Auf mehr als fünfzig bis achtzig Bürschchen brachte sie es nie. Und die Zahl des lichtscheuen Gesindels wurde immer größer unter ihnen. Sie wollten nicht nur singen, sondern vor allem die deutschen Läden plündern. Aber man fürchtet, dass diese Analphabeten dabei auch französische Läden nicht würden schonen. Und so verbot man denn die Manifestationen überhaupt. Sicher ist sicher.

Überhaupt ist das mit dem russischen Patriotismus in Transkaukasien so eine Sache. Die Russen sind in der Minderheit. Den Grusinern ist durchaus nicht zu trauen, wie sie bei der Revolution 1904/05 deutlich genug gezeigt haben. Die Armenier gebärden sich zwar als russische Überpatrioten, aber misstrauisch ist man auch ihnen gegenüber. Lieber gar keine patriotischen Manifestationen, als so klägliche, worüber die Grusiner längst lachen. Sonst kommen sie am Ende mit Gegenmanifestationen, und die russischen Behörden stecken, ehe sie sich dessen versehen, wieder mitten in einer Revolution. Die ganze mohammedanische Bevölkerung ist sowieso erregt, und man kann sich nicht auf sie verlassen. Der Kaukasus ist ein heißer Boden für russische Füße. Vorsicht ist geboten. Nur gegen die Jagd auf Deutsche ist nichts einzuwenden. Irgendwie muss sich doch der Patriotismus der echt russischen Leute Luft machen. Auch der Gouverneur hat es nötig, sich durch Gemeinheiten gegen die Deutschen als guter Patriot zu erweisen. Er ist Pole, hasst die Deutschen und hat es nicht schwer, sich von der besten russischen Seite zu zeigen. Der alte, grämliche, kränkliche Statthalter aber wäscht nach alterprobtem Rezept seine Hände in Unschuld. Er ist alt, er ist krank, er kann sich nicht kümmern um das, was der Gouverneur macht, dem er das Ressort über die Deutschen übertragen hat. Der arme kranke Mann!

Mitten in der Nacht fahren wir beide jäh in die Höhe und lauschen. Was ist das? Wildes Schreien, Säbelrasseln und Schießen in nächster Nähe. Ich springe auf den Gang. In dem kleinen Hotelgarten eine Menge Offiziere, die brüllen, wild um sich stechen und mit den Pistolen schießen. Wir dachten nicht anders, als dass unser letztes Stündlein jetzt gekommen sei. Eine halbe Stunde dauerte der Lärm. Dann schweres Stöhnen und Ruhe ... Russische Offiziere hatten ein Sektgelage abgehalten. Eine Maus war ihnen über die Füße gelaufen. Ihr galt die wilde Jagd durch das Hotel und seinen Garten, die erst aufhörte, als einer der Offiziere die Kugel eines Kameraden im Leibe hatte. Ob die Maus ebenfalls gefällt wurde, weiß ich nicht.

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