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2.2.5 Revision des Allegorie-Begriffs

Jülichers anti-allegorischer Affekt geriet in der Folgezeit zunehmend in die Kritik. Die Beobachtung von Mischformen (Gleichnisse mit allegorischen Anteilen) und die Neubewertung der Metapher (→ 2.2.3) schlagen sich in einer Neubestimmung der Allegorie und im Verzicht auf ihre Kontrastierung mit Gleichnissen nieder.

a) Beobachtung von Mischformen

Es gibt keine scharfe Grenze zwischen eindeutigen und deutungsbedürftigen Texten. Jedes Gleichnis hat klar verständliche und deutungsbedürftige Elemente. Deutungsbedürftige Elemente sind z. B. andeutende und verschleiernde Transfersignale. Sie durchbrechen die Realistik und die Konterdetermination der narratio und weisen auf eine theologische Deutungsebene hin (→ 1.5.9).1

Beispiel: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) gilt als Mustergleichnis Jesu. Seine Botschaft der unbedingten Liebe des Vaters zu seinen Söhnen leuchtet unmittelbar ein. Gleichwohl enthält es deutungsbedürftige Elemente: Was besagt der Hinweis auf die Schweine, die der jüngere Sohn zu hüten hat? Was bedeutet der Ring, den der Vater dem Heimgekehrten ansteckt? Was meint die Rede von ‚tot‘ und ‚lebendig‘ (V.24.32)? Ausgehend von der Kohärenz und Integrität des Gleichnisses, müsste man es, Jülichers Logik folgend, Jesus gänzlich absprechen oder aber die besagten Elemente der nachträglichen, verfälschenden Interpretation durch Lukas zuordnen.

Jülichers Entgegensetzung zwischen eindeutigen Gleichnissen und uneindeutigen Allegorien sowie sein Postulat eines idealtypischen, eindeutigen Gleichnisses wirken konstruiert.2

Wirkliche Gleichnisse bewegen sich gerne im Raum zwischen diesen beiden Extremen.3

Das Statement von Peter Dschulnigg bringt das Problem auf den Punkt.4

b) Präzisierung der Begrifflichkeit

Hans-Josef Klauck (1978) brachte eine nachhaltige Begriffsdifferenzierung in die Diskussion ein. Er unterscheidet zwischen Allegorie, Allegorese und Allegorisierung. Das Kernanliegen Jülichers erscheint in der Folge als Affekt gegen die Allegorese als Auslegungsmethode. Die nachträgliche allegorische Anreicherung bzw. Allegorisierung von Gleichnissen ist laut Klauck ein positiv zu bewertender Aktualisierungsprozess. Außerdem hinterfragt Klauck die formkritische Definition von Allegorie als literarischer Gattung kritisch (→ 1.4.3; 2.1.3g; 2.5.2a).

1. Allegorese

Die Allegorese ist ein antikes, bis in die Neuzeit verbreitetes Auslegungsverfahren, das zwischen dem wörtlichen Sinn eines Textes und einem weiteren, tieferen bzw. allegorischen Sinn unterscheidet. Diese Unterscheidung ermöglicht es, auch schwer verständlichen Bibeltexten einen (aktuellen) Sinn abzugewinnen. Texte gelten dabei generell als mehrschichtig und damit als bewusste Herausforderung, den eigentlichen Sinn, die geistliche Tiefendimension, zu entdecken. In diesem Sinne betrieb bereits Philo von Alexandrien (ca. 15 v. – ca. 50 n. Chr.) systematisch Allegorese. Auf diese Weise erschloss er philosophisch gebildeten Nichtjuden in Alexandria den (philosophischen) Sinn biblischer Texte.

Beispiel: Entgegen dem ursprünglichen Textsinn von Gen 16-21 deutet Paulus in der Allegorese Gal 4,21-31die beiden Erzmütter Sara und Hagar auf den neuen bzw. den alten Bund. Allein die soziale Konstellation der beiden Frauen genügt Paulus, sein Thema hierin abgebildet zu sehen. Die bekannte, anschauliche Erzmüttergeschichte ist für den Apostel ein geeignetes Medium, um die eher unanschauliche Rede vom alten und neuen Bund begreiflich zu machen.

Das Beispiel zeigt, dass Allegorese argumentativen Zwecken und zugleich der Aktualisierung des Erzmüttertexts dient. Von der Alten Kirche bis in die Neuzeit wurde die Allegorese weiter verfeinert (Unterscheidung mehrerer Schriftsinne bei Origenes, Augustin u. a.). Das Verfahren wird pneumatologisch legitimiert: Der Autor aller Bibeltexte sei der Heilige Geist, der sie wie einen Teppich zusammengewoben habe. So seien alle Texte miteinander unsichtbar verknüpft; diese Verknüpfungen gelte es offenzulegen – eine frühe Form von Intertextualität!1

Mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelauslegung wurde die Allegorese mehr und mehr in Frage gestellt. Nicht eine unhistorische, geistliche Tiefendimension stand nunmehr im Fokus der Exegese, sondern der vom Textautor intendierte, historische Textsinn. Bezugspunkt ist dabei die Semantik des Textes.

Beispiel: Das ‚Kalb‘ im Gleichnis vom verlorenen Sohn könnte, allegorisch gedeutet, auf den gekreuzigten Christus hinweisen, der für die Vergebung der Sünden ‚geschlachtet‘ wird. Eine solche Deutung wird jedoch der ursprünglichen Intention des Lukas nicht gerecht: Erstens, das ‚Kalb‘ ist ein dekorativer Nebenzug des Gleichnisses, der nicht nach Auslegung ruft; zweitens, ‚Kalb‘ als christologische Metapher ist weder bei Lukas noch sonst irgendwo im Neuen Testament zu finden (im Gegensatz zu ‚Lamm‘).

Für die historisch-kritische Methode verbietet sich Allegorese; das ist bis heute common sense der wissenschaftlichen Textauslegung, zumindest in der westlichen, vor allem durch den Protestantismus geprägten, Auslegungstradition. Der vorliegende Entwurf plädiert für eine Enttabuisierung der Allegorese (→ 2.5.5d).

2. Allegorisierung

Jülicher verstand unter Allegorisierung die nachträgliche, verfälschende Überlagerung ursprünglich allegoriefreier Texte mit ‚allegorischen‘ Elementen wie z. B. Metaphern, zeitgeschichtlichen Anspielungen etc. – Elemente, die auf eine tiefere Sinnebene hinweisen und zugleich deutungsbedürftig sind.1

Beispiele: 1) Die allegorisierende Anreicherung des Gleichnisses von der königlichen Hochzeit Mt 22,1-14 durch V.7: Die Belagerung einer Stadt mit anschließender Zerstörung durch Feuer passt in keiner Weise zur kontextuellen Handlung der Vorbereitung einer Hochzeitsfeier. Somit sprengt V.7 die Erzählebene und ruft nach Auslegung. Es handelt sich hier wahrscheinlich um einen Reflex auf die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. Für diese Annahme spricht nicht nur die Geschichtstheologie des Matthäus (die Zerstörung Jerusalems als Strafe für die Ablehnung Jesu), sondern auch der synoptische Vergleich: Das Element fehlt in der lukanischen Parallele Lk 14,15-24. – 2) Zum Winzergleichnis Mk 12,1-12parr. vgl. → 1.3, These 8.

Die Allegorisierung ist ein Mittel, um schon ursprünglich deutungsbedürftige und teilweise unverständlich gewordene Texte in einer neuen historischen Situation zu aktualisieren und ihren ursprünglichen Sinn mit historischer Erfahrung zu verbinden. Allegorisierung ist, gegen Jülicher, positiv zu bewerten – als wichtiges und probates Mittel, Texte über ihre Ursprungssituation hinaus zu tradieren.

In Umkehrung der Auffassung Jülichers wird folgende These gewagt: Die Evangelisten haben nicht ursprünglich klare Gleichnisse Jesu missverstanden. Sie haben sie nicht unnötig allegorisiert oder gar vorsätzlich verfälscht, sondern sie haben die oft als rätselhaft empfundenen Gleichnisse Jesu durch Zufügung andeutender und klärender Elemente einem weiteren Adressatenkreis zugänglich gemacht und aktualisiert.2

3. ‚Allegorische‘ Elemente

Bausteine in Gleichnissen, die auf eine externe Deutungsebene hinweisen, werden unter dem Sammelbegriff ‚allegorische‘ Elemente, besser: Transfersignale zusammengefasst (→ 1.5.9; 2.5.1c; 2.5.2a). Klärende, andeutende und den tieferen Sinn verschleiernde Transfersignale stehen in einer ausgefeilten Balance nebeneinander (→ 2.5.2a). Sie sind auch für die mündlichen Gleichnisse Jesu vorauszusetzen und kein Zeichen späterer Verfälschung.1

4. Allegorie

Der herkömmliche, von Jülicher geprägte Begriff ist sehr weit gefasst und bezeichnet prinzipiell jeden vergleichenden Text, der mit deutungsbedürftigen Elementen arbeitet. Allein die Beobachtung solcher Elemente rechtfertigt aber nicht, von einer Textgattung Allegorie zu sprechen (→ 1.4.3). In Konsequenz der Beobachtungen Klaucks wird der Gattungsbegriff Allegorie in Theologie und Literaturwissenschaft seither auf Texte mit hermetischer Tendenz (Codierung, Chiffrierung), erzählerischer Inkonzinnität und Surrealistik eingegrenzt (→ 2.5.2a).

2.2.6 Neuere Trends

Seit der ‚metaphorischen Wende‘ fokussiert die Gleichnisforschung bis dato vernachlässigte Aspekte, so den didaktischen, kommunikationstheoretischen, redaktionskritischen, rezeptionsästhetischen und religionsgeschichtlichen Aspekt.1

a) Der didaktische Aspekt

Die Wiederentdeckung der Gleichnisform wird von Ingo Baldermann (*1929) und anderen Gleichnisauslegern didaktisch fruchtbar gemacht.1 Dem Gleichnis als Offenbarungsmedium entspreche didaktisch die Methode der Nacherzählung. Ziel dieses Umgangs sei es, die Erzählung aus der Perspektive des Autors zu lesen und zu verstehen. Das Gleichnis hat, so Baldermann,

die Kraft der erzählenden Sprache für sich: Jede Erzählung bringt den Hörer dazu, daß er die Dinge mit den Augen des Erzählers liest.2

Die methodische Konsequenz lautet: Rekonstruktion der Entstehungssituation der Gleichnisse. Gelingt die Nacherzählung, so Baldermann, können die Adressaten zum Glauben finden und eine neue Existenzmöglichkeit ergreifen; damit hätte das Gleichnis seinen Zweck erfüllt. Der Ansatz verknüpft das rhetorisch-argumentative Gleichnisverständnis mit der hermeneutischen Hochschätzung der narrativen, mündlich vorgetragenen Gleichnisrede und mit ihrer existenzialen Interpretation.3 – Ein Neuerzählen des Gleichnisses ist für Erhardt Güttgemanns (1935-2008) der methodische Ansatz, um den Gleichnissen in veränderten hermeneutischen Situationen ihre ursprüngliche Wirkung zurückzugeben. Hierfür entwickelt er die Auffassung vom Gleichnis als ‚generativer Poetik‘ – einer Poetik, die das, worum es geht, allererst hervorbringt. Güttgemanns betont die Verschränkung von Form und Inhalt sowie die didaktische Zweckbestimmung der Gleichnisse.4

b) Der kommunikationstheoretische Aspekt

Der von Edmund Arens (*1953) und Eckhard Rau (1938-2011) vertretene Ansatz versteht das Gleichnis als Teil eines historischen Kommunikationsgeschehens.1 Gleichnisse sind

kommunikative Handlungen eines Sprechers in Bezug auf seine Hörer angesichts einer zur Diskussion stehenden Sache.2

Die kommunikative Handlung mit all ihren rhetorischen Techniken sorge für eine Veranschaulichung des Inhalts und dafür, die Herzen der Adressaten zu bewegen.3 Der Zweck der Gleichnisbotschaft sei nicht kognitiver (Information über Gott und sein Handeln), sondern emotiv-praktischer Art (Verhaltensänderung): „Gleichnisse wollen in die ‚Sache‘ der Praxis des Lebens übersetzt werden.“4

Methodisch entspricht dem Ansatz die Rekonstruktion der ursprünglichen Verstehensbedingungen und Assoziationsmöglichkeiten mittels einer Kombination von Realienkunde, Traditionsgeschichte, Religionsgeschichtlichem Vergleich und Redaktionskritik. – Gegen die in der ‚metaphorischen Wende‘ und im französischen Strukturalismus entwickelte Auffassung einer ‚ästhetischen Autonomie‘ der Gleichnisse (→ 2.2.6g) gilt der literarische Kontext als Verstehensschlüssel.

c) Der redaktionskritische Aspekt

Voraussetzung für eine redaktionskritische Betrachtung ist die Absage an das Postulat eines Gleichnis-Idealtyps und an die damit verbundene Missverständnis- und Verfälschungstheorie Jülichers. Wie im kommunikationstheoretischen Ansatz gilt auch hier der (literarische) Kontext als Verstehensschlüssel. Gleichnisse sind, so Gerhard Sellin (1943-2017), Kommentare zum kontextuell geschilderten Verhalten Jesu.1 Es bestehe eine intensive Wechselwirkung zwischen Wirken und Reden Jesu. Der theologische Bezugsrahmen der Gleichnisse ist, so Sellin, im literarischen Kontext abgebildet: die Gottesherrschaft, die in Jesu Handeln konkret wird.2

d) Der rezeptionsästhetische Aspekt

In Zuspitzung des kommunikationstheoretischen Ansatzes fragt Dieter Massa (*1966) nach dem Einfluss der Leserschaft auf die Textgestaltung bzw. nach dem Verhältnis von Textproduktion und -rezeption.1 Leitend ist dabei das Bild vom Autor, der das Gleichnis so konzipiere, dass es von der intendierten Leserschaft möglichst optimal verstanden werden kann. Um dies zu gewährleisten, sei nicht nur jedes gleichnisinterne Element sorgfältig formuliert, sondern auch die Implementierung in den literarischen Kontext ein bewusster Akt der Leserlenkung.2

Im Fokus stehen insbesondere die Transfersignale des Textes (→ 1.5.9; 2.2.5b; 2.5.2a). Auch im Blick sind traditionsgeschichtliche Prätexte, Traditionen und Motive, die in den Text einfließen und das Verstehen der Adressaten in eine bestimmte Richtung lenken. Damit werde ein Interpretationsrahmen umrissen, innerhalb dessen die Adressaten den Text deuten könnten; eine eindeutige Festlegung des Textsinns unterbleibe jedoch, was der Polyvalenz der Metaphorik, dem überschießenden Sinnpotenzial des Textes und der individuellen Aneignung durch die Leserinnen und Leser entspricht. Die Frage der Autorintention verliert bei diesem Ansatz an Relevanz; wichtiger ist das (jeweilige) Textverständnis der Adressaten. Der theologische Bezugsrahmen ergebe sich aus dem kreativen Leseakt. Der Bezugsrahmen sei nicht einseitig im Sinne einer ‚zeitlosen, religiösen Satzwahrheit‘ oder einer ‚neuen Existenzmöglichkeit‘ zu verstehen; kritisiert wird auch die Annahme einer ‚ästhetischen Autonomie‘ der Gleichnisse (→ 2.2.6g).

Der Ansatz bewegt sich zwischen einer Fixierung des theologischen Bezugsrahmens im Sinne Jülichers und der existenzialen Interpretation einerseits sowie einer völligen Öffnung des Textsinns im Sinne des Strukturalismus andererseits.

e) Der psychologische Aspekt

Iver K. Madsens psycholinguistischer Ansatz fragt nach den Assoziationen des Autors beim Verfassen eines Gleichnisses.1 Ähnlich fragt Martin Leiner (*1960) textpsychologisch nach dem Produktionsprozess und seinen unbewussten, emotionalen und kognitiven Faktoren.2 Die Emotionalität der Texte sei ausschlaggebend, um die intendierte Einstellungsveränderung zu erreichen. – Tim Schramm (*1940) legt mit dem bibliodramatischen Zugang einen eigenständigen psychologischen Ansatz vor. Dabei wird die Erzählebene ausgelotet und mit persönlicher Erfahrung des Auslegers angereichert.3 Einfühlung in den Text, freie Assoziation und historisch-kritische Arbeit ergänzten sich gegenseitig. Mithilfe textpragmatischer Techniken wie ‚antithetischer Zwilling‘ und offenen Erzählschlüssen führten die Gleichnisse unterschiedliche Handlungsmuster vor Augen und provozierten suggestiv Stellungnahme bzw. Parteinahme. Als kleine bibliodramatische Bühnenstücke kämen die Gleichnisse erst dann zu ihrem Ziel, wenn sie ‚ins Leben gezogen‘ bzw. immer wieder neu inszeniert werden.4 – Schramm zufolge führt das Bibliodrama auch zu einer neuen Einschätzung der Allegorese:

Im Bibliodrama – das ist meine Erfahrung – tut sich nicht selten ein (auch) allegorisches Verstehen der Texte auf; die Allegorese kehrt zurück im mimetischen Spiel, vorwissenschaftlich-spontan und ungeniert. Das ist kein Wunder, denn wer die Bilder ernst nimmt, sich von Symbolen berühren läßt und der Einladung zur Identifikation folgt, der überschreitet schnell den Buchstaben-Sinn; er findet Tiefenschichten in ‚seinem‘ Text, die sich oft als so evident erweisen, daß die strikte Abwehr einer allegorischen Auslegung durch die historisch-kritische Exegese als unangemessen erscheint.5

Ein Beispiel für die Nähe von Bibliodrama und Allegorese ist das in den Gleichnissen Lk 15,3-32 zu entdeckende ‚trinitarische Triptychon‘, das den Hirten auf Jesus Christus, die Frau auf den Heiligen Geist und den Vater auf Gott hin deutet.6

f) Der religionsgeschichtliche Aspekt

David Flusser (1917-2000), Klaus Berger (1940-2020) und Peter Dschulnigg (1943-2011) verorten den Interpretationsrahmen der Texte im frühjüdischen und hellenistischen Umfeld.1 Der Blick auf außerbiblische Gleichnisse lässt den Gegensatz zwischen Allegorie und Gleichnis fraglich erscheinen.2 Während Flusser und Dschulnigg wie einst Paul Fiebig die enge Verwandtschaft der Gleichnisse Jesu mit den meschalím des frühen Judentums betonen (→ 2.2.1), weist Berger auf die Nähe zu den griechisch-römischen Deklamationen hin. Diese Übungstexte für angehende Juristen laufen, ähnlich wie manche Gleichnisse, auf ein bestimmtes, durch geschickte rhetorische Leserlenkung suggeriertes Urteil hinaus (→ 1.4.2). In den Fokus rückt dabei die besondere Textpragmatik vergleichender Texte.

2.3 Die aktuelle Diskussion

Das 2007 von Ruben Zimmermann (*1968) herausgegebene ‚Gleichniskompendium‘ markiert eine neue Phase der Gleichnisforschung.1 Erstmalig seit Jülichers Doppelband werden nicht nur die kanonischen und apokryphen Gleichnisse flächendeckend ausgelegt, sondern es erfolgt auch eine breite, interdisziplinär angelegte theoretische Grundlegung. Hierbei werden einzelne Aspekte der Gleichnistheorie neu durchdacht und synthetisiert. Einzelne Aspekte sind:

a) Fokussierung auf die Endgestalt der Gleichnisse: Die Rückfrage nach der Urgestalt der Gleichnisse bzw. nach der ipsissima vox Jesu (Jülicher, Jeremias) wird als verfehlt abgelehnt.2 Trotzdem gelten Gleichnisse weiterhin als Urgestein der Überlieferung, als prädestinierte Medien der Jesuserinnerung im Sinne der Wirkungsplausibilität.3 Der Verschriftlichungsprozess wird nicht negativ im Sinne eines Missverständnisses oder bewusster Verfälschung gewertet.

b) Absage an apologetische Tendenzen: Anstelle der qualitativen Distanzierung der Gleichnisse Jesu von jüdisch-hellenistischen Gleichnissen plädiert das ‚Gleichniskompendium‘ für eine konsequent religionsgeschichtliche Einbettung der Gleichnisse.4 Formale und funktionale Vorläufer stellten die alttestamentlichen Gleichnisse und meschalím dar, bedeutsame Analogien böten die grieschisch-hellenistische Literaturgeschichte und die antike Rhetorik.

c) Die Alternative der rhetorischen oder poetischen Abzweckung wird verworfen: Unter Rückgriff auf Quintilian wird die Ambivalenz der Metapher als rhetorisches Überzeugungsmittel und als poetische Neubeschreibung von Wirklichkeit hervorgehoben.5 Die ‚metaphorische Wende‘ wird bestätigt. Metaphern dienten einer Neuerschließung von Welt und Sein bzw. der (Re-)Strukturierung der Wirklichkeit; Gleichnisse gelten als einzig angemessene Form, von Gott zu sprechen.6 Die Gleichnispoetik sorge für eine prinzipielle Unabgeschlossenheit der Deutung.7

d) Gegen die Dominanz der Autorintention: Die einseitige Fokussierung auf die Autorintention wird abgelehnt; das Verständnis der Texte als deutungsbedürftige Rätselworte mit inhärenter Deutungsvielfalt lenkt das Augenmerk auf die Sinn schaffende Eigenleistung der Rezipienten. Gleichnisse seien ‚deutungsaktiv‘; ihre Mehrdeutigkeit sei ein Appell, in das Erzählte einzusteigen und in ihm konkrete Lebenswahrheiten zu entdecken.8 Intentionale Verstehensrichtung und individuelle Aneignung entscheiden gemeinsam über den Textsinn. Die Koppelung beider Perspektiven richtet sich gegen eine vorschnelle Vereinnahmung der Gleichnisse.9

e) Konsequente Kontextualisierung: Gegen das Konzept ‚autonomer Kunstwerke‘ (→ 2.2.6g) verweist Zimmermann auf den historischen, sozialen und literarischen Kontext der Gleichnisse als notwendigen Deutungsrahmen. Sprachlich-narrative Analyse und historische Betrachtung werden miteinander verschränkt.10 Dies entspricht der Koppelung intentionaler Verstehensrichtung mit individueller Aneignung und verhindert die Beliebigkeit des Verstehens bzw. einen Verstehensverzicht; Offenheit und Verbindlichkeit bilden ein dynamisches Gegenüber.11

f) Die Rätselhaftigkeit als hermeneutischer Hebel: Die Rätselhaftigkeit der Gleichnisse wird hermeneutisch fruchtbar gemacht: Gerade das ‚primäre Unverständnis‘ stelle die Rezipienten vor die Aufgabe, genauer hinzuhören und in einen Prozess des Fragens, Staunens und Suchens einzusteigen. Die Verwendung deutungsbedürftiger Rede sei geradezu eine ‚spezielle hermeneutische Strategie‘, um zu einem vertieften Verständnis zu führen.12

g) Absage an die Unterteilung der Gleichnisstoffe: Die formkritische Klassifikation der Gleichnisstoffe wird zurückgewiesen.13 Jülichers Unterscheidungskriterien seien weder durch die antike Rhetorik abgedeckt noch in der Praxis anwendbar.14 Mischformen sind die formkritische Regel, so Zimmermann in Anlehnung an Fiebig (→ 2.2.1). Zimmermann verweist darauf, dass das Griechische in Hinblick auf vergleichende Texte fast durchweg von parabolaí spricht, anstatt zu differenzieren. In der Konsequenz fordert Zimmermann den Verzicht auf eine Klassifikation: „Parabeln – sonst nichts!“ lautet sein programmatisches Statement.15

Das ‚Gleichniskompendium‘ versteht sich als integratives Modell historisch-diachroner, literarisch-literaturwissenschaftlicher und hermeneutisch-leserorientierter Zugänge.16 So verbinden sich die Fragen nach der Entstehungssituation und nach der sozialen Wirklichkeit der intendierten Adressaten sowie die (narrativ-sprachliche) Betrachtung des Texts an sich, religionsgeschichtliche Einbettung, Textpragmatik und Rezeptionsästhetik zu einem breit angelegten Gesamtentwurf.

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