Kitabı oku: «Küstengold», sayfa 2
Dieser Lichtstreifen am Horizont ließ Brodersen aufleben. »80 Prozent Pension mit 50 Jahren? Ist das dein Ernst?«
Dreesen lachte sich schimmelig. »Nein, natürlich nicht. Ich wollte dir zum Wochenende nur eine kleine Freude bereiten.«
Brodersen lachte kurz schallend, bevor er mit neidvollem Blick das Foto von Jeanette kommentierte. »Es hat nicht jeder so viel Glück wie du.«
Dreesen schlug Brodersen freundschaftlich auf die Schulter. »Ach, was. Das mit dem Glück geht auf und ab. Du wirst sehen.«
Brodersen reichte ihm die Hand zum Abschied: »Dann Waidmannsheil.«
»Waidmannsdank.« Dreesen schnappte sich fröhlich seine Aktentasche und folgte Brodersen aus dem Büro. Ein aufregendes Wochenende lag vor ihm, welches sein Leben von Grund auf verändern könnte.
Wenn ihm Stuhr nur nicht wieder in die Quere kommen würde.
Geschäfte anderer Art
Die Stimmung auf der Sonnenterrasse der Sansibar Arche Noah wurde im Laufe des Nachmittags immer ausgelassener. Stuhr nippte weiter genüsslich an seinem Weizenbier, während er den immer bunter werdenden Ausführungen von Schneider lauschte.
»Frauen einmal ganz beiseite, die sind nicht alles im Leben. Wissen Sie, mir ging es nicht immer gut. Früher habe ich mich von morgens bis abends mit einem kleinen Bauunternehmen abgeplagt, aber mein Bankkonto raste dennoch immer weiter in den Keller.«
Schneider spürte Stuhrs Interesse und holte weiträumig aus. »Wissen Sie, ich habe mich immer bemüht, ehrliche Arbeit abzuliefern. Ich hatte mich seinerzeit auf den Verkauf von Holzvillen spezialisiert, für gehobene Ansprüche natürlich. Selbst den Ökotrip habe ich aufgenommen und amerikanische Holzständerbaukonzepte übernommen. Irgendwann konnte ich mich vor Bestellungen kaum noch retten.«
Das freute Stuhr. »Na, da wird sich Ihr Konto ja schnell erholt haben.«
Verständnislos musterte ihn Schneider. »Erholt? Wie kommen Sie denn darauf? Es hätte mich fast in den Ruin getrieben. Sie glauben ja nicht, was ich mit der Klientel erlebt habe, die diese Häuser kaufen.«
Stuhr rätselte. »Vermutlich nicht ganz unvermögende Mitmenschen.«
»Vermögend schon, aber denken Sie nicht, dass das Geld bei denen locker sitzt. Nein, anstatt mir den verdienten Lohn zu überweisen, beauftragen sie Bausachverständige und Rechtsanwälte, um Abzüge vom Kaufpreis zu erwirken. Dann kann man sich nur noch überlegen, ob man gleich auf seinen Gewinn verzichtet oder frisches Geld auf juristische Zweikämpfe setzt.«
»Hatten Sie denn keine ehrlichen Zahler?«
Schneider schüttelte den Kopf. »Anfangs nicht. Ein einziges Mal habe ich den gesamten Preis bar auf die Hand gezahlt bekommen, allerdings auch zwei Säcke voll mit kleinen Scheinen und Münzgeld. Der Kunde musste seinen persönlichen Geldspeicher geleert haben. Ich habe erst später mitbekommen, dass der Käufer Vorsitzender der Nordfriesischen Weihnachtstombola war.«
Stuhr konnte das nicht glauben. »Sie denken, er hat Spenden veruntreut?«
»Was würden Sie denn denken? So geht es nicht weiter, habe ich mir jedenfalls daraufhin gesagt. Wenn alle bescheißen, dann musst du auch bescheißen.«
»Bescheißen?«, wiederholte Stuhr ungläubig.
»Ja, bescheißen. Zuerst natürlich den Staat, das geht am einfachsten. Was blieb mir übrig, als billige Arbeitskräfte aus dem Osten einzustellen? Ohne Steuerkarte natürlich. Während der Woche haben die Polen geknüppelt wie die Irren, damit sie am Wochenende möglichst früh nach Hause konnten.«
»Polnische Leiharbeiter?«
»Ja. Von denen habe ich viel gelernt. Am meisten von Pawel, meinem Vorarbeiter. Der stammte aus Schlesien und war ein Schlitzohr. Er hat mich auf die richtige Spur gebracht. ›Szef, du musst nicht selbst arbeiten. Arbeit liebt die Dummen, sagt ein altes Sprichwort.‹ Pawel hatte recht. Erst später habe ich herausbekommen, dass er von meinen Arbeitern Vermittlungsgebühren abgepresst hat.«
Ungläubig verfolgte Stuhr Schneiders Geschichte. Genüsslich sog der an seiner Zigarette, bevor er mit zwei Fingern Nachschub orderte, ohne sich umzudrehen. »Sie trinken doch einen Blutsturz mit mir?«
»Einen Blutsturz?« Stuhr verstand nicht.
»Ja, das rötliche Gesöff. Prosecco mit Martini Rosso. Reinigt die Blutbahnen.« Ohne sich um Stuhrs Antwort zu kümmern, erzählte er weiter.
»Ich habe Pawel zunächst nicht verstanden, denn ich war gewohnt, immer selbst mit reinzuhauen. Aber dieser Pawel hat mir als Chef die Augen geöffnet. ›Szef, du musst immer behalten die Übersicht. Ein General muss alles übersehen, er darf selbst nicht kämpfen. Dumme leben von der Arbeit. Der Kluge lebt von den Dummen.‹ Ich ließ also die Jungs werkeln und kümmerte mich ausschließlich um meine Geldgeschäfte. Ein weiser Entschluss, denn seitdem lebe ich im Überfluss.«
Stuhr sah ihn zweifelnd an, denn so ganz erschloss sich ihm der Schlüssel zum Reichtum noch nicht.
Schneider bekam seinen Blutsturz wie gehabt über sein Haupt gereicht. Anschließend legte Verena eine halbe Hafenrundfahrt auf der Terrasse ein, um Stuhr seinen Cocktail fachgerecht von der rechten Seite zu reichen. Beim Niederknien geriet der Blick auf ihre schönen Beine außer Sichtweite, dafür schob sich das ausladende Angebot ihrer Brüste in den Vordergrund, welche nicht einmal von einem Büstenhalter gepusht wurden.
Schneider nahm keine Notiz davon, er dozierte weiter über seine Geschäftspraktiken.
»Nun, ich will nicht allzu viel aus dem Nähkästlein plaudern, aber mit der Mehrwertsteuer geht immer etwas. 19 Prozent sind kein Pappenstiel, und Pawel hat mir zusätzlich Nachhilfe in Punkto Kalkulation gegeben. Immer einfach die eigenen Kosten verdoppeln zur Preisfindung, und dann einen kleinen Rabatt einräumen.«
Stuhr schüttelte ungläubig den Kopf. »Das klingt sehr simpel. Wie ist dieser Pawel denn darauf gekommen?«
Schneider nahm einen tiefen Lungenzug. »Pawel hat seine Lehren aus dem Sozialismus gezogen und immer Gegenleistungen für seine Rabatte eingefordert. Das System funktioniert genauso im Kapitalismus.«
Stuhr konnte kaum glauben, dass Schneider damit durchgekommen war. »Und Ihre Kunden haben anstandslos bezahlt?«
Schneider lachte mit bleckendem Gebiss. »Nein, natürlich nicht. Aber nun konnte ich meinen Kunden locker entgegenkommen. Teuer, aber kulant. Das hat mir beste Empfehlungen und viele Folgeaufträge beschert. Meine anspruchsvollsten Kunden waren zufriedengestellt, weil sie mir etwas abfeilschen konnten. Diese Volksgruppen sind nun einmal so. Ärzte, Zahnärzte, Rechtsanwälte. Die haben die Kohle.«
Dem wollte Stuhr nicht widersprechen. »Dann laufen Ihre Geschäfte ja prächtig.«
Schneider lächelte entspannt. »Nein, da habe ich lediglich meine erste Million mit gemacht. Aber es war mühsam. Ich habe Pawel kurzerhand die Zimmerei geschenkt und bin mit meinem Kapital in interessantere Wirtschaftszweige eingestiegen. Ab und zu treffen Pawel und ich uns noch, dann trinken wir ein Fläschchen Wodka und erzählen uns die skurrilsten Geschichten.«
Wieder schüttelte Stuhr ungläubig den Kopf.
Schneider rückte jetzt ganz nahe. »Aber passen Sie auf. Wenn Sie Pawel begegnen und bei ihm eine Holzvilla bestellen, dann stammt im besten Fall lediglich das Holz des gefälschten Prägestempels aus ökologischen Beständen, denn das Baumaterial für die Holzhütten kommt aus den Wäldern der Umgebung von Tschernobyl.«
Stuhr verzog ungläubig das Gesicht. War das nicht Betrug? »Und welche Geschäfte betreiben Sie jetzt, wenn ich fragen darf?«
»Dürfen Sie, dürfen Sie. Ich habe mich voll und ganz dem Handel in der Energiebranche verschrieben. Die Politiker zwingen uns ja förmlich dazu, unsere Millionen im Energiebereich zu verdienen. Es geht nur noch um Papiere und Beratungsleistungen. Keine unliebsamen Mitarbeiter, keine quengeligen Kunden, keine Regressansprüche mehr. Nur noch schnelle Geschäfte ohne Vorleistungen. Ihren Namen habe ich leider immer noch nicht verstanden.«
Nur der Nachname würde nichts von ihm verraten. Er reichte Schneider die Hand. »Stuhr. Aus Kiel. Moin.«
Schneider sprang völlig unerwartet hoch und vollführte fingerhebend drei tänzelnde Drehungen, bevor er sich wieder setzte. »Ihr Norddeutschen seid schon ein Kapitel für sich. Nur nicht jemand anderem zu nahe kommen. Dabei kann ich Ihnen ein völlig neues Lebensgefühl erschließen.«
Stuhr schüttelte uninteressiert den Kopf, weil es sich anhörte, als ob ihm Schneider Waldparzellen auf dem Mond verscherbeln wollte.
Sein Sitznachbar stöhnte auf. »Meine Geschäfte sind konkreter als Sie denken, Herr Stuhr. Schauen Sie sich nur einmal das riesige Naturschutzgebiet vor St. Peter-Ording an, auf dem lediglich einige Pfahlbauten stehen. Das ist genau die richtige Stelle, um einen unterirdischen Speicher für Kohlendioxid einzurichten. Die wohlhabenden Touristen können auf den Pfahlbauten weiter feiern, und nicht einmal die barfüßigen Strandgänger werden sich gestört fühlen. Hier oben kann alles so bleiben, wie es ist, während unten eine neue Geldquelle unerlässlich sprudeln kann.«
Skeptisch fragte Stuhr nach. »Ist das Ihr Ernst? Das ist doch vermutlich alles Naturschutzgebiet hier oder nicht?«
»Richtig, das gehört alles zum Schleswig-Holsteinischen Nationalpark Wattenmeer. Und genau deswegen wird sich jedes Sandkorn, in das Sie hier investieren, über kurz oder lang in einen Klumpen Gold verwandeln. Sie müssen einfach nur daran glauben.«
Das fiel Stuhr schwer. »Glauben?«
Schneider überging die Nachfrage. »Mein Konzept ist, Chancen doppelt und dreifach zu nutzen. Nehmen Sie die Nordseeküste als Beispiel: unter dem Wattenmeer ein Kohlendioxidlager anlegen und obendrauf einen Offshore-Windpark setzen. Dafür werden Genehmigungen benötigt. Man muss also beste Kontakte zu allen Beteiligten haben. Genau das ist mein Job. Jede Genehmigung eine Million Euro Gewinn.«
»Doppelt, ich verstehe. Aber dreifach?«
Das erläuterte Schneider souverän: »Tourismusförderung. Ich berate Investoren und besorge Fördergelder. Bei meinen Kontakten kein Problem, verstehen Sie?«
Stuhr entschied sich, ein neutrales Gesicht aufzusetzen. »Nö.«
Schneider zog die Kumpelkarte. »Mensch, Stuhr. Verstehen Sie mich nicht falsch. Aus jedem Klumpen Gold werden zwei.«
Stuhr liebte Milchmädchenrechnungen nicht. »Oder drei. Und in den Spiegel gehalten sind es dann sechs.«
Schneider musste nun auch lachen. »Hab schon verstanden. Das ist nicht Ihre Welt. Lassen Sie uns noch einen Kleinen nehmen. Prost.«
Stuhr prostete zurück, während er bemerkte, dass Verena bereits mit neuen Drinks im Anmarsch war. Bei Absenken auf den Tisch wirkten die rot schillernden Blutstürze harmlos.
Jetzt rückte Schneider heran. »Ich setze mich zu Ihnen an den Tisch, da kann man sich besser unterhalten. Zu schade, dass es die Bundeswehr hier nicht mehr gibt. Das war eine regelrechte Goldquelle. Nach Übungen auf dem Sand oder Flugzeugabstürzen im Watt hat die Bundeswehrverwaltung immer gut Geld abgedrückt, um keinen schlechten Ruf zu hinterlassen. Ein Geschäftsfeld, das ich leider aufgeben musste. Trotzdem: pures Küstengold, die ganze Ecke hier. Glauben Sie mir.«
Stuhr wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Schneider war ein abgebrühter Hund, ein richtiger Profitgeier. Aber das sollte Stuhr nicht weiter kratzen, denn er war nach St. Peter-Ording gekommen, um sich zu erholen. Mit Freuden registrierte er die gepflegten Hände von Verena, die neue Getränke servierte. Stuhr blieb nicht verborgen, dass anschließend diese Fingernägel den Rücken von Schneider herunterkratzten.
Der reagierte unwirsch. »Bitte lass das, Verena. Kleine Mädchen sollten die großen Jungs nicht bei ihren Geschäften stören. Wir sind hier nicht im Streichelzoo.«
Die Bedienung wich jedoch nicht von Schneider und begann mit beiden Händen, seinen Nacken intensiv zu massieren. Gequält lächelnd ließ Schneider die Prozedur über sich ergehen. Unangenehm konnte es nicht sein.
Augenzwinkernd klärte die Kellnerin Stuhr auf. »Heutzutage muss man Kundenpflege betreiben. Es gibt nicht mehr genug zahlungskräftige Laufkundschaft wie früher. Die Zeiten ändern sich.«
Als Schneider kurzzeitig genussvoll die Augen schloss, ging sie zum Generalangriff über. »Noch ein wenig Ganzkörperentspannung hinterher, der Herr Oberschneider?«
Aber Schneider schüttelte ihre Hände von seiner Schulter und öffnete wieder die Augen. »Morgen vielleicht. Heute habe ich noch geschäftlich zu tun, meine kleine Honigschnute.«
Verena bemerkte, dass sie zurzeit nicht mehr hilfreich sein konnte. »Dann erst einmal Wohlsein den Herren. Tja, wer nicht will, der hat schon.«
Schnippisch drehte sie sich um und verließ die beiden, um die zahlreich aufgelaufenen Bestellwünsche von den Nachbartischen entgegenzunehmen.
Erleichtert prostete Schneider Stuhr zu. »Verena ist schon eine klasse Frau, Stuhr. Aber einfangen lasse ich mich nicht.«
Zum Trinken kam Schneider jedoch nicht, denn sein Handy klingelte. Offenbar war es der Pilot, der Bericht erstattete. Besonders aufzuregen schien Schneider dieser nicht. Er beendete das Gespräch, indem er den Piloten anwies, eine andere Maschine zu besorgen. Dann wendete er sich wieder Stuhr zu.
»Jetzt aber. Prost.«
Schneider kippte den Drink herunter und sog anschließend mit einem tiefen Zug eine gewaltige Menge Nikotin in sich hinein. Dieser Mann schien in allen Dingen maßlos zu sein.
Stuhr tat es ihm nach, aber gewöhnen konnte er sich nicht an das Zeug. Zudem stieg es ihm mächtig in den Kopf.
Schneider beugte sich wieder vor. »Meine Maschine muss geborgen und dann von der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung begutachtet werden. Das kann Wochen dauern. Der Pilot soll deshalb eine andere Maschine auftreiben. Das wird am Wochenende nicht ganz so schnell gehen. Für mich heißt es, dass ich hier für ein paar Tage feststecke. Gibt es einen besseren Ort dafür?«
Verena enterte mit neuen Drinks wieder den Platz und stellte die alten Gläser beiseite. »Darf ich ein Foto mit meinem Handy von den beiden Herren schießen?«
Stuhr begann, die Gläser beiseite zu schieben, aber Verena stellte sie seelenruhig zurück. »Stehenlassen, das Rot bringt doch erst richtig Farbe für die beiden Herren auf das Foto.«
Schneider ermunterte Stuhr, gemeinsam mit ihm ein Wort in den Mund zu nehmen, das ein Lächeln auf das Foto zaubern sollte: »Ameisenscheiße.« Stuhr tat es ihm nach, aber als das Klicken des Handys zu vernehmen war, war er nicht sicher, ob es im richtigen Moment aufgenommen wurde. Man würde sehen.
Die Stimmung auf der Arche Noah wurde immer ausgelassener. Ja, in St. Peter-Ording abzufeiern, das war schon etwas ganz Besonderes. An jedem Wochenende steppte im Sommer hier der Bär, und dieses Mal würde Schneider in Feierlaune sicherlich noch einen oben draufsetzen.
Je tiefer sie anschließend in das Gespräch versanken und je ausgelassener die Feierlaune wurde, umso mehr wurde Stuhr klar, dass dieser schillernde Schneider ihn so schnell nicht mehr loslassen würde. Immer wieder zuckten Fotoblitze über die Sonnenterrasse bis in die späte Nacht. Irgendwie haben Typen wie Schneider ja auch etwas Besonderes an sich.
Stuhr blickte verstohlen zur Bedienung. Sie sah wirklich klasse aus. Jetzt bemerkte auch Verena seinen interessierten Blick und hielt mit ihren stechenden blauen Augen dagegen, während ihr Lächeln immer diabolischer wurde.
Bei Gott, in welche Mördergrube war er nur hineingeraten? Nein. Stuhr maßregelte sich. Er hatte im letzten Jahr schon genug Mist gebaut und ein unmittelbarer Nachfolger von Schneider bei dieser Verena wollte er nicht werden.
Gesichert war nur, dass Stuhr heute nicht mehr nüchtern vom Sand kommen würde.
Mit Pauken und Trompeten
Todmüde jagte Stuhr viel zu schnell über die von den trüben Scheinwerfern seines alten Golfs kaum erleuchtete Landstraße. Ungläubig schaute er auf die Uhr. Es war noch keine sechs Uhr am frühen Morgen.
Kommissar Hansen hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Stuhr fragte sich, warum er das eigentlich immer mit sich machen ließ. Der Kommissar hatte sicherlich ohnehin Bereitschaft und schob ruhestandsfähigen Dienst. Aber er selbst hätte noch schön in seinem Hotelbett in Sankt Peter liegen bleiben können, zumal sein Schädel von dem Gelage am Abend vorher mit Schneider noch heftig schmerzte.
Er durchwühlte das Handschuhfach nach einem Kaugummi, aber er wurde nicht fündig. Als Stuhr vorzeitig pensioniert worden war, hatte er sich geschworen, nie mehr vor neun Uhr morgens aufzustehen. Und jetzt versuchte er mühselig, im Morgengrauen den Weg nach Rendsburg zu finden.
Am besten den Ring um den alten Ortskern wählen und dann mit der Schwebefähre übersetzen, hatte ihm Kommissar Hansen mit auf den Weg gegeben. Sie hatten sich vor Jahren in der Staatskanzlei kennengelernt, als Hansen zum Personenschutz des Ministerpräsidenten abkommandiert war. Stuhr wäre früher auch gerne zur Polizei gegangen, aber Freunde hatten ihm wegen der schlechten Aufstiegsmöglichkeiten abgeraten. Kommissar Hansen war schon in Ordnung, und wenn er mit seinen dienstlichen Mitteln nicht weiterkam, rief er Stuhr gern einmal an. So konnte Stuhr jetzt als Frühpensionär ermitteln, ohne jemals bei der Polizei gewesen zu sein.
Als ehemaliger Beamter der Staatskanzlei hatte Stuhr immer noch viele Kontakte in den verschiedenen Ministerien und konnte dienstprivat schon noch das eine oder andere herausbekommen. Sein alter Dienstausweis, der bis zu seinem 65. Lebensjahr gültig sein würde, wurde ihm nie abverlangt und leistete nach wie vor treue Dienste.
Das Rendsburger Ortsschild flog an ihm vorbei, und schnell erreichte er über den Stadtring und die Kreisverwaltung die Alte Kieler Landstraße. Wenig später tauchten in den Nebelschwaden die filigranen Bögen der alten Eisenbahnbrücke auf, die sich über die Kreisstadt in luftige Höhen hochschraubt und den Nord-Ostsee-Kanal Richtung Kiel überquert. Jetzt entdeckte er auch den Wegweiser zur Schwebefähre, einer Hängebahn, die unterhalb der Stahlbrücke montiert war. Stuhr bremste seinen Wagen ab und bog zum Kreishafengelände ein. Wenig später hielt er unterhalb der Eisenbahnbrücke vor einer Schranke, hinter der sich im Wasser des Kanals die Lichter der Laternen auf der gegenüberliegenden Seite spiegelten.
Aus dem Morgengrauen glitt die an vielen Seilen hängende Schwebefähre heran, deren tiefliegender Bug sich unter der Fahrbahn einklinkte. Die Schranke öffnete sich, und Stuhr konnte auffahren. Die Fähre bot Platz für vier Fahrzeuge, aber da er der einzige Fahrgast war, zeigte der Kapitän im Führerstand Gnade und schloss die Schranken wieder.
Stuhr genoss den kühlen Morgenwind, als er in wenigen Metern Höhe mitsamt der Fähre durch die Nebelschwaden über den Kanal schwebte. Kurze Zeit später legte die Fähre auf der anderen Seite in Osterrönfeld an, und er konnte seine Fahrt fortsetzen.
Keinen halben Kilometer weiter konnte Stuhr mehrere Scheinwerfer ausmachen, deren grelles Licht ihn zunehmend blendete. Die davor parkenden Fahrzeuge warfen ihm lange Schatten entgegen. Der Kommissar hatte recht gehabt, das war wirklich einfach zu finden.
Stuhr fuhr auf einem kleinen Wirtschaftsweg direkt zum Licht hin. Die wenigen Personen, die bei den Polizeifahrzeugen hantierten, wirkten gespenstisch im aufsteigenden Nebel der Morgendämmerung.
Stuhr stoppte und zwängte sich aus dem Golf.
Kommissar Hansen eilte auf ihn zu. »Moin, Stuhr. Du hast dir ja schon wieder so eine alte Rostlaube zugelegt.«
Stuhr reichte ihm die Hand. »Moin, Hansen. Golf II, da kenne ich jede Kerbe im Lenkrad.«
Der Kommissar verzog die Nase. »Mein Gott, hast du eine Fahne.«
Stuhr unternahm Anstalten, sich umzudrehen. »Tut mir leid, gestern einen Kleinen gehabt. Ich kann ja auch umkehren und nach Sankt Peter zurückfahren.«
Hansen Stimme klang streng. »Dann muss ich dir leider von Amts wegen den Lappen abnehmen. Besser, du bleibst.«
Stuhr wollte protestieren, aber im gleichen Augenblick nahm ihn Hansen am Arm und führte ihn fort. »Prima, Stuhr, dass du gleich herkommen konntest. Ich möchte dir etwas zeigen, komm mal mit.«
Der Kommissar führte ihn zu einem im Dunkeln liegenden Windrad, dessen langsam laufende Rotoren gleichmäßige rhythmische Geräusche verursachten, die dem Fallen des Beiles einer Guillotine nicht unähnlich klangen. Er wies auf eine auf dem Boden liegende Plane, die einen Körper abdeckte.
»Ich möchte dir den Anblick ersparen, denn einen Körper ohne Kopf vergisst man nicht so leicht.«
Nun zeigte der Kommissar mit dem Zeigefinger auf einen Hubwagen direkt unter dem Windrad, der ungleichmäßig mit Blutspritzern überzogen war. »Wie mit einer Keule weggeschlagen. Irgendjemand muss das geknebelte Opfer an die Hubkanzel gebunden und langsam zu den Rotoren des Windrades hochgefahren haben. Der Kopf ist ein ganzes Stück durch die Luft gesegelt und dann den Hang zum Kanal heruntergerollt. Dort ist er von den Schafen sauber geleckt worden. Der Knebel steckt immer noch im Kiefer.«
Unbestritten ein hässlicher Tod, aber es wird zumindest schnell gegangen sein. Stuhr musste würgen.
Er wurde nachdenklich. Gab es einen schönen Tod? Stuhr beschloss, irgendwann einmal mehr über diese letzten Dinge des Lebens nachzudenken, wenn er dazu jemals Zeit finden sollte. »Habt ihr schon eine erste Vermutung?«
»Deswegen habe ich dich aus dem Bett geholt, Stuhr. Der Kollege Fingerloos hat ganze Arbeit geleistet. Er konnte den Toten anhand des Ausweises identifizieren. Muss eine üble Fummelei in der Blutsuppe gewesen sein. Den Papieren nach handelt es sich um einen Sönke Sörensen, Abteilungsleiter von der Nordstrom AG in Rendsburg. Die versorgen Mittelholstein mit Strom und Gas. Hingerichtet wurde er von einem Windrad seiner Firma. Siehst du, dort auf dem Sockel, da steht der Schriftzug. Du hast doch in deiner aktiven Zeit in der Staatskanzlei ständig mit Energiethemen zu tun gehabt, oder? Hier läuft ein großes Ding.«
Stuhr schaute Hansen erstaunt an. »Ein großes Ding? Habt Ihr Hinweise auf die Täter?«
»Schwierig. Fingerloos und seine Leute suchen noch nach weiteren Spuren oder möglichen Zeugen. Ich denke, dass die Zusammenhänge komplex sind.«
Hansens Kollege hatte Stuhr jetzt bemerkt, denn er winkte ihm mit Mundschutz und blutverschmierten Latexhandschuhen fröhlich zu, als wenn man sich beim Kappenfest trifft.
Stuhr wies auf die verstörte Schafherde, die auf der anderen Seite der Weide eng zusammengedrängt verharrte. »Hundert stumme Tatzeugen, Hansen. Fang bei ihnen an.«
Der Kommissar seufzte. »Wenn es so einfach wäre. Schafe stehen symbolisch für Geduld. Ihnen wird die Unruhe kaum gefallen haben. Schau dich einmal um, Stuhr. Die Weide erlaubt einen Blick auf den Sitz der Firma von Sörensen auf der anderen Seite des Nord-Ostsee-Kanals, genau am Schnittpunkt einer viel befahrenen Land- und Wasserstraße. Der Zeitpunkt war gut gewählt, denn zu dieser frühen Zeit ist am Samstagmorgen normalerweise kein Mensch unterwegs. Das alles kann kein Zufall sein, Stuhr.«
»Wurde dieser Sörensen denn vermisst?«
»Nein. Jedenfalls wurde nach bisherigem Stand keine Anzeige bei der Polizei erstattet. Einem Brief zufolge, den wir beim Opfer gefunden haben, konnten wir entnehmen, dass er vor etwa vier Wochen zu Hause ausgezogen ist.«
»Der Grund?«, fragte Stuhr.
»Offenbar eine Geliebte. Jelena Simonovich, eine 23-jährige Rumänin. Aber die Grausamkeit der Tat spricht nicht gerade für ein Eifersuchtsdrama. Ich habe Oberkommissar Stüber gebeten, bei den Angehörigen schnellstmöglich nähere Informationen einzuholen.«
Ob der dem Hauptkommissar Hansen zugeordnete Stüber erste Wahl bei den Ermittlungen war, bezweifelte Stuhr. »Inwiefern glaubst du, dass ich bei der Aufklärung helfen kann?«
Hansen holte aus. »Man muss zunächst die Hintergründe betrachten, Stuhr. Die Nordstrom AG ist einer der wenigen verbliebenen kleinen unabhängigen Stromanbieter in Schleswig-Holstein. Das könnte vielleicht ein Schlüssel zu Auflösung des Mordes sein.«
Stuhr blickte skeptisch. Er traute dem Kieler Kommissar nicht allzu tiefe Einblicke in die Energiewirtschaft zu, zumal die Kieler Rundschau in dieser Hinsicht nur wenig kritischen Lesestoff bot.
Hansen setzte seinen kleinen Exkurs ungerührt fort. »Einige wenige große Unternehmen betreiben die Mehrzahl aller Kraftwerke und das Netz in Deutschland und sind an vielen kleineren Stadtwerken und Regionalversorgern beteiligt. Es scheint ein Wettbewerber mitzuspielen, der mit harten Bandagen um Anteile kämpft.«
Stuhr nickte. Ihm war bekannt, dass der deutsche Energiemarkt weitgehend unter diesen Energieriesen aufgeteilt war. Das Bundeskartellamt verdächtigte diese Konzerne seit Langem, die Strompreise durch Absprachen in die Höhe zu treiben. Neuerdings sollten sogar russische Konzerne mitmischen.
Kommissar Hansen bemerkte Stuhrs skeptischen Blick. »Nach der Einschätzung meiner Kollegen vom Wirtschaftsdezernat sollen die Energiekonzerne auch vor illegalen Mitteln nicht zurückgeschreckt haben: Bestechung, Betrug und Prostitution.«
Stuhr musterte ihn ungläubig. »Ja, aber auch Mord? Wie soll ich dir helfen können? Das ist vermutlich alles eine Nummer zu groß für mich.«
Der Kommissar wurde konkret: »Stuhr, du musst mit deinen alten Kontakten herausbekommen, ob ein Antrag bei der Landesregierung auf die Übernahme der Nordstrom AG vorliegt. Wenn ich das auf dem Dienstweg anschieben würde, dann hätte ich mit ziemlicher Sicherheit nach vier Wochen immer noch keine plausible Auskunft.«
Stuhr wurde unwirsch. »Hansen, um das herauszubekommen, hättest du heute Morgen einfach kurz bei mir anrufen können. Das kann nicht der einzige Grund gewesen sein, mich zu nachtschlafender Zeit am Samstagmorgen an diesen grauenhaften Ort zu beordern.«
Der Kommissar sah ihm fest in die Augen. »Ruhig Blut, Stuhr. Ich muss vielleicht ein wenig weiter ausholen, es muss aber unter uns bleiben. Dies ist nämlich bereits der dritte Mord in den letzten Wochen; immer am Wochenende, immer das gleiche Muster. Wir haben die beiden anderen Morde bis jetzt mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen vor der Presse unter Verschluss halten können. Das wird dieses Mal kaum gelingen, weil der Tatort unweit von einer vielbefahrenen Straße liegt.«
Stuhr pfiff durch die Zähne. Jetzt kam Musik in diesen Fall. Sein erwartungsvoller Blick veranlasste den Kommissar, weitere Einzelheiten preiszugeben: »Die Serie begann vor zwei Wochen in Kiel. Ein Sensor im Gemeinschaftskraftwerk in Dietrichsdorf hatte nachts die Blockierung eines Abflussrohres gemeldet, das erwärmtes Kühlwasser in die Kieler Förde zurückführt. Taucher entdeckten unter Wasser die Leiche eines Mitarbeiters des Kraftwerks, der mit einem Nylontau an das Abflusssieb gefesselt war. Es könnte sich um das gleiche Material handeln, mit dem das Opfer auf dem Hubwagen angebunden wurde.«
Stuhr bohrte nach: »Hatte der getötete Mitarbeiter auch eine Geliebte?«
Der Hauptkommissar schmunzelte. »Nein, so einfach liegt der Fall nicht, und wie der ans Sieb geriet, das wissen wir auch nicht. Er wollte abends nur Zigaretten holen gehen.«
»Gibt es denn kein Muster?«
Hansen klärte ihn auf. »Alle Morde fanden am Wochenende statt. Der zweite Mord geschah am letzten Wochenende in Eckernförde. Der Werkstattleiter der dortigen Stadtwerke wurde verschmort auf den Isolatoren in einem Umspannwerk entdeckt. Keiner weiß, wie er dorthin gekommen ist. Offensichtlich haben der oder die Täter Schlüssel gehabt. Und ich kann dich beruhigen, Stuhr. Auch der Werkstattleiter hatte keine Geliebte.«
Stuhr staunte nicht schlecht. »Drei ungeklärte Morde also. Was wird als Nächstes geschehen?«
Hansen seufzte. »Wenn wir das nur genauer wüssten. Wir waren seit gestern alle in Bereitschaft. Von der Systematik her wäre nach Kiel und Eckernförde als nächste Stadt an der Ostsee Schleswig in Frage gekommen. Wir haben seit Freitag alle Gebäude der Schleswiger Versorgungsbetriebe überwacht. Dann ereilt den armen Kerl hier das Schicksal am Rande von Rendsburg.«
Zu kurz gedacht, sagte sich Stuhr. Eine Landkarte als Täterprofil, so simpel schien auch ihm der Fall nicht gelagert zu sein. Größere Zusammenhänge hatte Kommissar Hansen offensichtlich nicht im Auge. Ihm war anzumerken, dass er mit seinem Latein am Ende war.
Neue Erkenntnisse waren nicht mehr zu erwarten, und so unternahm er vorsichtig Anstalten, diesen unwirtlichen Ort zu verlassen. »Ich werde mich auf die Socken machen, Hansen. Alte Weisheit: Wer morgens vor neun Uhr auf der Straße ist, der ist nichts und der wird nichts. Ich fahr zurück nach St. Peter-Ording.«
Der Kommissar spottete. »Klar, die erwarten dich in Sankt Peter bereits mit Pauken und Trompeten. Aber Spaß beiseite, Stuhr. Du weißt doch, wer in der Landesverwaltung für diese Dinge zuständig ist: Strom, Energie, Klimaschutz?«
Stuhr überlegte. Gut, er könnte vielleicht einmal unverbindlich im Wirtschaftsministerium nachfragen. »Ich sehe mal, was ich die Woche über erreichen kann. Die Zuständigkeiten für die Energiewirtschaft sind quer über die halbe Landesregierung verteilt, das wird ein wenig dauern. Wie geht es hier weiter?«
»Na ja, der Notdienst der Stadtwerke wird gleich das Windrad blockieren. Dann können wir die Blutspuren an den Flügeln mit denen auf dem Boden vergleichen. Ansonsten sehe ich nicht, dass wir hier noch großen Erkenntnisgewinn erzielen können.«
Stuhr zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich. »Dann viel Glück bei der weiteren Spurensuche. Ich muss wieder ins Bett. Tschüß, Hansen.«
Er wollte sich umdrehen, aber Hansen hielt ihn an der Schulter fest.
»Hier, nimm dies. Sonst musst du noch bei meinen Kollegen pusten.« Der Kommissar reichte ihm einen Kaugummi zum Abschied.
Stuhr stieg in seinen Wagen und beeilte sich, diese Stätte des Grauens zu verlassen. Selbst die Schafe wirkten immer noch verstört. Er fluchte, denn fast wäre er beim Einbiegen in die Landstraße mit dem Leichenwagen kollidiert. Dann befand er sich wieder auf dem Weg zur Schwebefähre. Während sie heranglitt, ging am Horizont die Sonne auf. Sie tauchte die letzten sich auflösenden Nebelschwaden in ein warmes, rötliches Licht.