Kitabı oku: «Vor Dem Fall», sayfa 2

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3

Als sie sich der Ansammlung von Zelten näherten, fiel Raphael eine junge Frau ins Auge, die sich damit abmühte, einen großen Topf über ein Feuer zu stellen. Ein kleiner Junge mit dichtem, dunklen Haar hing an ihrem Bein und erschwerte ihr die Arbeit. Sie trug ein langes Gewand, das zwar sauber war, aber kleine Risse aufwies, die eigentlich geflickt werden mussten. Sie trug einen Schleier, den sie um ihren Hals und über die untere Hälfte ihres Gesichts geschlungen hatte. Lebhafte braune Augen lugten über dem Schleier hervor. Als sie sich bewegte, rutschen die Ärmel ihres Gewandes nach oben und enthüllten die Geschwüre auf ihren Armen.

»Warte, ich helfe dir«, sagte Raphael und eilte zu ihr, um ihr zu helfen.

»Danke, guter Mann.«

»Du kannst mich Raphael nennen«, sagte er und stellte den Topf über das Feuer.

»Ich bin Miriam. Bitte glaub nicht, dass ich für deine Hilfe nicht dankbar wäre, aber du musst sofort von hier weg.« Sie sah ihn und Raguel an. »Wisst ihr nicht, was das für ein Ort ist?«

Raphael warf einen Blick auf den kleinen Jungen. »Doch, das wissen wir. Wir sind hier, um euch zu helfen und euch Trost zu spenden.«

»Welchen Trost könnt ihr schon spenden? Man wird euch auch ausstoßen wie uns andere, wenn die Menschen von Ai euch hier sehen.«

»Wir bringen euch die Botschaft, Seine Botschaft, dass ihr geliebt werdet und nicht verlassen seid.«

Miriam sah ihn traurig an. »Das ist schwer zu glauben, wenn alle sich von uns abwenden und es keine Rolle spielt, dass wir nichts Böses getan haben.« Sie schlang die Arme um ihren Sohn.

Raphael streckte die Hand aus. Bei seiner Berührung keuchte sie auf. Ein Ausdruck des Friedens breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Alle sind Seine Kinder. Hab Vertrauen.«

»Danke«, flüsterte sie.

»Und wer ist der stramme junge Mann, der sich an dich klammert?« Raphael lächelte dem kleinen Jungen zu. Große braune Augen lugten hinter Miriams Rock hervor.

»Das ist mein Sohn, Ethan.«

Rapahel hockte sich hin, so dass er sich auf einer Augenhöhe mit dem Jungen befand. »Hallo, Ethan.«

Ethan versteckte sein Gesicht erneut hinter dem Rock seiner Mutter.

»Ethan!«, rief die Frau aufgebracht. »Vergib meinem Sohn. Er ist sonst nicht so. Erst seitdem uns befohlen wurde, die Stadt zu verlassen, ist er Fremden gegenüber ängstlich.«

Raphael nickte. Bevor er und Raguel den Himmel verlassen hatten, hatte Michael ihnen gezeigt, wie die Kranken aus ihren Häusern getrieben und zu den Toren der Stadt hinausgejagt wurden.

»Meine Begleiterin und ich haben gehört, was geschehen ist. Wir sind für kurze Zeit hier, um euch alle Hilfe zu bringen, die wir geben können. Gibt es etwas, das wir für dich tun können?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ja, das gibt es. Ich kann das Getreide schneller mahlen, wenn Ethan mir nicht am Rockzipfel hängt.«

»Ich glaube, ich kann einen Weg finden, ihn zu beschäftigen«, erwiderte er. Er sah hinab auf die Geschwüre an den Armen des Jungen. Er fragte sich, wo Ethans Vater war. Aber er fragte nicht laut danach. Er vermutete, dass der Vater seine Frau und seinen eigenen Sohn verstoßen hatte. Wie konnte jemand ein Mitglied seiner Familie verstoßen?

»Ethan, möchtest du eine Geschichte hören?« Er streckte dem Jungen seine Hand entgegen. »Es ist die Geschichte von einem Jungen, der von einem freundlichen, gutaussehenden Fremden geheilt wurde.«

Es war Raphael nur aufgetragen worden, den Ausgestoßenen Trost zu spenden. Es war schwer, die Menschen leiden zu sehen und nicht die Erlaubnis zu haben, sie zu heilen.

Ethan lugte vorsichtig hinter dem Rock seiner Mutter hervor. Seine Augen waren von dichten Wimpern umrahmt. Er blickte auf Raphaels ausgestreckte Hand. Dann sah er zu seiner Mutter auf.

»Na, geh schon. Ich bin gleich da drüben.« Sie deute auf zwei Mahlsteine in der Nähe. »Und wenn du brav bist, kannst du nachher beim Essen ein paar Datteln haben.«

Ethans Augen leuchteten auf. »Ja, Mutter.« Dann ergriff er Raphaels Hand.

»Danke«, wandte sich Miriam an Raphael und eilte zu den Steinen hinüber. »Ich werde nicht lange brauchen.«

»Raphael«, flüsterte Raguel, als sie zusah, wie die Frau sich über die Steine kauerte und einen von ihnen auf dem anderen bewegte. Sie rieb ihn vor und zurück erhielt so eine Art Pulver. »Was macht sie da?«

»Sie mahlt das Korn zu Mehl.« Raphael führte Ethan zur Vorderseite eines kleinen Zeltes. »Ist das eures?«, fragte er den Jungen.

Ethan nickte.

Raphael ließ sich nieder und zog den Jungen auf seinen Schoß. Er berührte den Arm des Jungen und zuckte zusammen beim Anblick der rundlichen Hände, die von der Krankheit gezeichnet waren. Der arme Junge. Jemand, der so schön und so unschuldig war wie dieser Kleine sollte nicht mit einem solchen Gebrechen leben müssen.

Der Junge sah ihn ehrfürchtig an und Raphaels Herz schmolz dahin. Er wusste, dass er Ethan heilen konnte. Er war vor kurzem zum Erzengel des Heilens befördert worden. Ihm war die Gabe des Heilens verliehen worden und er konnte die Krankheit mühelos von dem Jungen nehmen. Er war sich sicher, das ihm vergeben werden würde, wenn er es tat. Das Kind war zu klein, um so zu leiden.

»Halt still, Ethan«, sagte er und strich mit einer Hand über Ethans Arm.

»Was machst du da?«, fragte Raguel in überraschtem Flüsterton.

»Ich heile ihn.«

»Das verstößt gegen Michaels Anordnungen!«

Raphael hielt inne und sah zu Raguel auf. Sie hatte recht. So gern er Ethan auch helfen wollte, er würde bei Raguels erstem Auftrag kein gutes Beispiel abgeben.

Er seufzte und ließ die Hand sinken. »Ja. Wir sind hier, um Trost zu spenden und Worte des Glaubens zu den Menschen hier zu bringen.« Er tätschelte Ethans Arm.

»Ich bin mir nicht sicher, wie.« Ihr Gesicht hatte einen besorgten Ausdruck angenommen.

Raphael sah sich um und sah die Menschen vor den umliegenden Zelten. Sein Blick fiel auf einen alten Mann, dessen Haut vom nachlassenden Licht der Sonne beschienen wurde. Neben ihm befand sich ein Wasserschlauch aus Ziegenleder. »Dort drüben.« Er deutete auf den alten Mann. »Biete ihm an, ihm etwas Wasser vom Bach zu holen. Der Schlauch sieht leer aus.«

Raphael sah Raguel interessiert zu. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er mit einem Menschen in Kontakt gekommen war. Sie hatten so viele Empfindungen, Leidenschaften, die oft ins Extrem gehen konnten: Glück, Kummer, Wut, Liebe. Sie waren erfüllt vom Strahlen einer Energie, die tief in ihrer Seele ruhte. Engel unterschieden sich nicht so sehr von Menschen. Aber er hatte das Gefühl, dass die Engel ihre Empfindungen in Schach hielten. Es schien fast, als hätten sie Angst, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen und nicht ganz vollkommen zu erscheinen.

Als er zum ersten Mal einen Menschen berührt hatte, hatte er sofort eine Verbindung gespürt. In diesem Augenblick war ihm auch klargeworden, dass Menschen ihn für ein göttliches Wesen hielten. Das Interessante daran war, dass er ihnen gegenüber dasselbe empfunden hatte. Er sehnte sich danach, anderen von seiner Erfahrung zu erzählen. Er war sich nicht sicher, ob die anderen Engel es verstehen würden. Selbst sein guter Freund Luzifer hielt es für Unsinn und riet ihm davon ab, den anderen Engeln davon zu erzählen.

»Guter Mann«, hörte Raphael Raguel zu dem alten Mann sagen. »Ich werde dir Wasser vom Bach holen.«

Der Alte hob den Kopf. Seine Lippen begannen zu zittern, als sich sein Blick auf Raguel richtete. »Rachel?«

Raguel sah verwirrt zu Raphael hinüber.

Er zuckte mit den Schultern.

»Mein Name ist Raguel«, wandte sie sich an den alten Mann.

»Du siehst aus wie Rachel.«

»Wer ist Rachel?«

»Es ist der Name meiner Tochter. Ich habe dich für sie gehalten. Ich dachte, der Herr hätte meine Gebete erhört und sie zu mir zurückgeschickt. Sie war zu jung, um von mir genommen zu werden.« Seine Hand zitterte, als er sie nach ihr ausstreckte.

»Du siehst genauso aus wie sie, so wunderschön.« Er hielt inne, bevor seine Hand ihre Wange erreichte und zog sie zurück. »Genauso wie sie.«

Rachel kniete sich vor ihm hin. »Was ist deiner Tochter zugestoßen?«

»Sie haben mich verfolgt, als ich mit Lepra geschlagen wurde. Die Soldaten befahlen mir, zu verschwinden und ich war bereit zu gehen. Ich habe mein Leben gelebt. Aber Rachel – sie wollte mich nicht gehen lassen. Sie flehte die Soldaten an, mich zu verschonen und als sie es nicht taten, hielt sie einen der Soldaten fest und er… er hat sie mit seinem Schwert erschlagen.«

Raphael hörte, wie sie ein leises Schluchzen ausstieß. Er beobachtete sie, als sie ihre Hand dem alten Mann entgegenstreckte. Sie hielt inne und warf Raphael einen Blick zu.

Er nickte ermutigend. »Nur zu«, flüsterte er.

Sie schluckte und legte ihre makellose Hand auf seine faltige.

Raphael lächelte angesichts ihres Gesichtsausdrucks und wusste, dass sie es fühlte – die bedingungslose Liebe zu Seinem herrlichsten Geschöpf. Wie konnte man es nicht spüren? Er wusste, wenn die anderen Engel nur erst Kontakt mit Menschen hätten, wären sie in der Lage zu spüren, was er gefühlt hatte. Vielleicht war es das, was Luzifer brauchte. Wenn er unter ihnen wandelte und sie kennenlernte, wäre er sicher in der Lage, Liebe zu ihnen zu entwickeln. Vielleicht würde er nach seiner Rückkehr mit Michael darüber sprechen.

»Du erinnerst mich an sie«, fuhr der alte Mann fort. »Ragu – was hast du gesagt, wie war dein Name?«

»Du kannst mich Rachel nennen. Es wäre mir eine Ehre, den Namen einer so furchtlosen Frau zu tragen, wie deine Tochter es war.« Sie warf Raphael einen Blick zu. »Von jetzt an bin ich Rachel.«

Er nickte ihr zu. Es überraschte ihn nicht, dass Raguel… Rachel dazu bereit war, so etwas zu tun. Sie liebte innig. Sie war ein junger Engel und in vielerlei Hinsicht unerfahren, wenn es darum ging wie Himmel und Erde funktionierten. Sie war das Gegenteil von Uriel, der nur an sich selbst dachte. Wenn Uriel wüsste, wie sehr er ihr am Herzen lag, könnte ihr das gefährlich werden. Raphael hoffte um Rachels willen, dass Uriel nie von ihren Gefühlen für ihn erfuhr.

»Also, Ethan. Wie sieht es aus mit der Geschichte?« Er wollte gerade beginnen, als er in einiger Entfernung den Lärm wütender Stimmen vernahm. Er sah in die Richtung, in der Ai lag und sah eine Schar von Leuten in der Nähe des Stadttors, die in ihre Richtung marschierten.

Raphael erhob sich und nahm Ethan auf den Arm. Der Mob, der sich ihnen näherte, schien aus Männern der Stadt zu bestehen. Die meisten von ihnen trugen bunte Umhänge über ihren Gewändern – etwas, das sich nur die Reichen leisten konnten. Er nutzte seine Gabe des verbesserten Sehvermögens und konnte die Angst hinter der Wut in ihren Blicken erkennen. Es war verständlich, dass sie Angst hatten, dass sich die Krankheit in der Stadt ausbreiten könnte. Genau diese Angst war es, die auch den gottesfürchtigsten aller Männer gegen seinen Bruder wenden konnte.

Raphael sah zu den Menschen der Zeltgemeinschaft. Sie waren schon einmal aus ihrem Zuhause vertrieben worden. Wohin sonst sollten sie sich wenden?

Wenn man ihre Ängste zerstreuen konnte, war er sich sicher, dass die Menschen in Ai ihre Mitbürger wieder bei sich willkommen heißen würden. Alles, was er tun musste, war, sie zu beruhigen. Er traute sich zu, dass er das schaffen konnte. Er musste nur mit ihnen sprechen.

Dann fiel ihm mitten im Mob ein Schimmern auf – dann ein weiteres, und noch eines.

Die Menge teilte sich und machte den Soldaten Platz, deren Schwerter im Licht der Sonne glänzten. Raphael sank der Mut. Er wusste, dass die Soldaten der Vernunft kein Gehör schenken würden.

Er setzte Ethan ab. »Lauf in dein Zelt, Kleiner«, trug er ihm auf. »Bleib drinnen. Deine Mutter wird gleich zu dir kommen.« Dann, als Ethan im Zelt verschwunden war, rief er: »Miriam, komm schnell!«

»Was ist los?« Miriam wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.

»Geh zu Ethan. Kommt nicht heraus, bis ich euch sage, dass es sicher ist.«

»Warum? Was ist – «

Miriams Hand flog an ihren Hals und ihre Augen weiteten sich. »Nein«, keuchte sie.

Raphael berührte sie am Arm. »Miriam?«

»Die anderen! Wir müssen die anderen warnen.« Sie riss sich von Raphael los. Ihr Gewand bauschte sich hinter ihr, als sie zu den anderen Zelten stürzte. »Rahab, Bithia! Sie kommen! Die Soldaten kommen!«

Raphael wollte ihr nacheilen, als dutzende von Menschen durch die Zeltgemeinschaft zu stürzten und ihre Habseligkeiten an sich zu reißen begannen. Er sah zurück zum Zelt, in dem Ethan wartete. Er konnte ihn nicht allein lassen.

Voller Trauer sah er die Angst in den Gesichtern der Menschen. Viele von denen, die dazu in der Lage waren, liefen auf das Tal zu und verschwanden in den Hügeln. Die anderen, zumeist Frauen mit ihren Kindern und die, die alt oder sehr krank waren, blieben hilflos sitzen. Er hörte ihre flehenden Stimmen.

»Wir haben nichts getan.«

»Wohin sollen wir denn gehen?«

»Wir sind von Gott verlassen. Gott hat uns alle verlassen!«

Miriam bahnte sich ihren Weg durch die Menge und eilte auf den alten Mann zu. »Obadiah, komm mit mir.«

»Was ist los?«, fragte Rachel.

»Die Soldaten. Sie sind auf dem Weg hierher. Du und Raphael, ihr müsst verschwinden.«

Rachel sah Raphael mit einer Frage im Blick an, auf die er nicht antworten wollte. Wenn die Männer hier waren, um die Zeltgemeinschaft zu zerschlagen und mit ihr die Menschen, die in ihr lebten, gab es nichts, was sie tun konnten. Genauer gesagt, sie hatten nicht die Erlaubnis irgendetwas zu tun, was über das hinausging, das ihnen aufgetragen worden war. Sie konnten nicht eingreifen. Rachel wollte das Unvorstellbare verhindern.

Als er den Kopf schüttelte, schoss ihr Blick zu dem Zelt, in dem sich Ethan versteckte, und dann zu Obadiah. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht.

»Nein«, formten ihre Lippen.

Ein lautes Ächzen erklang und eine verwitterte Hand streckte sich Rachel entgegen, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Rachel, gib mir meinen Stab«, bat Obadiah.

»Was hast du vor?« Sie keuchte auf, als er sein Gewicht verlagerte und Anstalten machte, sich zu erheben. Sie eilte zur Zeltöffnung und ergriff einen langen, dunklen Stab. Dann eilte sie wieder zu ihm und reichte ihn ihm.

An seinen knochigen Armen traten die Muskeln hervor, als er sich hochzog. Als er stand, zitterten ihm die Beine. »Ich werde den Soldaten entgegengehen. Bring Ethan und die anderen von hier weg.«

Rachel blieb der Mund offen stehen, als sie zusah, wie Obadiah von ihr fortschlurfte.

»Nein, bitte tu das nicht«, bat sie und ging ihm nach.

Obadiah ging weiter. Seine Füße wirbelten Staub auf, als er durch den Sand schlurfte. »Beeil dich, Frau. Ich kann sie nur für kurze Zeit aufhalten.«

»Ich werde mit dir gehen«, beharrte Rachel.

Obadiah hielt an. Er sah zurück zu Raphael, dann wandte er sich ihr zu. Seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte, um sie an der Wange zu berühren. »Ich habe viele Jahre gelebt. Ich habe dem Allmächtigen treu gedient, selbst als ich aus meinem eigenen Haus verstoßen wurde… selbst, als meine Tochter erschlagen wurde. Jetzt, am letzten Tag meines Lebens, hat Er dich und deinen Begleiter geschickt. Ich hätte nie geglaubt, dass ich bei meinem letzten Atemzug einen Engel berühren würde, eine Tochter des Allerhöchsten.«

Rachel schnappte nach Luft und blinzelte. »Ich… ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

Obadiah schenkte ihr ein wissendes Lächeln. »Geh und hilf den anderen, Rachel. Vielleicht begegnen wir uns eines Tages wieder.«

4

»Rachel!«, rief Raphael ihr zu. »Hilf mir, Miriam zu finden!«

Rachel blickte von Raphael zu Obadiah, der auf die Soldaten zuschlurfte. Verwirrung malte sich auf ihren feinen Gesichtszügen ab. Sollte sie bei Obadiah bleiben, der entschlossen schien, den Soldaten geradewegs entgegenzugehen oder sollte sie seinen Befehlen gehorchen?

Traurige braune Augen erwiderten Raphaels Blick, als sie schließlich zu ihm kam. »Gib es nichts, was wir tun können?«

Er sah ihr tief in die Augen. Wie konnte er ihr erklären, dass, selbst, wenn sie es versuchten, es keine Garantie gab, dass die Soldaten der Vernunft Gehör schenken würden? Obwohl sie die Macht der Gedankenmanipulation hatten und sie gegen die Soldaten einsetzen konnten, gab ihnen das nicht das Recht, den freien Willen der Menschen zu beeinflussen. Dieser Überzeugung hingen alle Erzengel an. Zugegeben, es war schwer, sich daran zu halten, besonders in Zeiten wie diesen. Die Macht zu haben, die Leben anderer zu retten und nicht die Erlaubnis zu haben, es zu tun. Er musste ihnen nur den Vorschlag unterbreiten und die Menschen würden seiner Führung folgen. Rachel wusste um seine Gabe, aber ihre Seele war so rein, dass ihr nicht einmal der Gedanke kam, dass diese Möglichkeit bestehen könnte.

»Das Beste, was wir tun können, ist, den anderen zu helfen zu fliehen«, sagte er.

Rachels Lippen zitterten, als sie Obadiah weiter voranschreiten sah.

Mit jedem unsicheren Schritt, den Obadiah tat, wuchs Raphaels Bewunderung für den alten Mann. Obadiah, obwohl körperlich schwach, war geistig so stark, dass sein einziger Gedanke sich darum drehte, die anderen zu schützen – nicht darum, wie er der Gefahr aus dem Weg gehen konnte, in die er sich selbst begab, indem er sich den Soldaten näherte. Er musste wissen, dass sein Ende kurz bevor stand, und dennoch ging er weiter. Diese Art von Mut war es, die Raphael die Menschen nur umso mehr lieben ließ. Wenn nur Luzifer sehen könnte, was er sah.

Raphael legte Rachel eine Hand auf die Schulter. »Komm. Ich werde Ethan holen und du kannst losgehen und – «

Eine liebliche Stimme klang durch die Luft und erhob sich über das Stimmengewirr des wütenden Mobs und das Marschieren der Soldaten. Sie war so leise, dass Raphael sich fragte, ob er sie sich nur eingebildet hatte.

Er spähte zu der näher kommenden Menge. Die Soldaten hatten kurz vor Obadiah angehalten und lachten.

Ihr Anführer stand unbeweglich, sein Gesicht halb bedeckt von einem Bronzehelm und einem dichten schwarzen Bart. Über die Schultern hing ihm eine rote Toga, die von einer runden goldenen Brosche an seinem Hals zusammengehalten wurde. Die Toga wallte im Wind und strich sanft um seine muskulösen Oberschenkel.

Als der Anführer sein Schwert aus der Scheide zog, schoss eine kleine Gestalt durch die Horde der Soldaten. Einen Moment lang dachte Raphael, es handele sich um einen kleinen Jungen. Vielleicht war es der Sohn eines der Kranken, die in der Zeltgemeinschaft lebten. Dann nahm er die wallende hellblaue Robe wahr, die über den Boden schleifte und eine Staubwolke hinter der Gestalt aufwirbelte.

»Haltet ein, ich flehe euch an!«, rief die Frau. »Bitte haltet ein.«

Ihre zierliche Hand legte sich auf den massigen Bizeps des Soldaten. Gegen den gestählten Arm wirkte sie zerbrechlich.

»Aus dem Weg, Frau«, knurrte der Soldat und schob sie von sich.

Die Frau stolperte einige Schritte nach vorn und fiel vor Obadiahs Füßen zu Boden. Dunkles Haar bedeckte ihr Gesicht wie ein seidener Vorhang. Aus der Entfernung vernahm Raphael ihr Schluchzen. Ein Geräusch, das ein merkwürdiges Gefühl in ihm wachrief. Es war, als sei ein Seil an seine Brust gebunden, das ihn zu ihr hinzog. Erschrocken angesichts der Heftigkeit des ungewohnten Gefühls stemmte er die Füße gegen den Boden. Er wollte zu der beherzten Frau gehen und sie trösten, nachdem sie es gewagt hatte, sich allein einem Heer von Soldaten entgegenzustellen.

Er sah, wie Obadiah ihr die Hand entgegenstreckte. Die Sekunden verstrichen und Raphael fragte sich, was sie da tat, weil sie weiter zu Boden starrte. Einen Augenblick später richtete die Frau sich auf und ergriff Obadiahs Hand.

Und dann sah Raphael ihr Gesicht.

Tränenspuren zogen sich über ihre geröteten Wangen und ihre makellose Haut war von Schmutz bedeckt. Und dennoch war sie das schönste Wesen, Mensch oder Engel, das seine Augen je erblickt hatten.

Jede Bewegung, die sie machte, zog ihn in den Bann: die Art, wie sie sich das Haar aus dem Gesicht strich, so dass es ihr auf die zierlichen Schultern fiel; die Art, in der sich ihre roten Lippen bewegten, als sie Obadiah dankte; die Art, in der sich kleine Fältchen um ihre Augen bildeten, als sie ihn anlächelte, bevor sich Sorge in ihnen spiegelte, als sie in die Richtung der Zelte sah.

Als sie sich zur Gruppe der Soldaten umwandte, glättete die Frau ihre Gesichtszüge. In ihren haselnussbraunen Augen funkelte es entschlossen. Raphael taumelte nach hinten. Bei ihrem Anblick blieb ihm der Atem stehen. Es war nur ein kurzer Blick gewesen. Aber mehr brauchte es nicht, um sein Herz in Flammen zu setzen. Mit aller Macht kehrte das ungewohnte Gefühl zurück und schoss durch seine Adern. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Es war etwas, von dem er gehört hatte, dass Menschen es erlebten. Selten hatte er Engel von solchen Gefühlen erzählen hören.

Er warf einen kurzen Seitenblick auf Rachel und fragte sich, ob das die Gefühle waren, die sie vergeblich zu verbergen suchte, wenn sie Uriel sah. Er empfand neuen Respekt, weil sie es schaffte, sie für sich zu behalten und dann Trauer, weil sie das bereits seit einiger Zeit tat.

Er blickte zurück zu der Frau und fragte sich, was über ihn gekommen war, weil er solche Gefühle für sie hegte. Und einen Moment lang schämte er sich. Erlag er gerade der Versuchung? Begehrte er sie wegen ihrer körperlichen Schönheit?

Er war Schönheit schon zuvor begegnet. Gabrielle war wunderschön, wie es viele der Engel waren. Und dennoch hatte diese Frau etwas an sich, das ihn auf eine Weise faszinierte, wie es kein Engel je vermocht hatte.

Er schluckte und schüttelte den Kopf. Nein, das war keine Wollust. Es war mehr… da war noch mehr.

»Du wirst das hier beenden, Baka«, wandte sich die Frau an den Anführer. »Du wirst deinen Männern befehlen, in die Stadt zurückzukehren.«

Baka nahm seinen Helm ab und starrte die Frau an. Sein braunes Gesicht blieb unbewegt. In diesem Moment wünschte Raphael, er könnte Bakas Gedanken lesen. Das war eine Fähigkeit, die kein Engel besaß, egal wie hoch er im Rang stand.

Bakas dunkle, durchdringende Augen sahen von der Frau zu Obadiah. Langsam verzogen sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln und er warf lachend den Kopf in den Nacken.

»Rebecca, nach all diesen Jahren schlägt dein Herz noch immer für die Schwachen«, sagte er. »Wann begreifst du endlich, dass es die Starken sind, die deine Aufmerksamkeit verdienen?«

Mit drei Schritten trat Baka vor sie und kniff sie in die Wange. Seine Hand war so groß, dass sie fast ihr ganzes Gesicht bedeckte. »Du wirst lernen, wo dein angemessener Platz ist, Frau. Und ich werde derjenige sein, der es dir zeigt.«

Zorn loderte in Raphaela auf, als er sah, wie Bakas Finger ihren Griff verstärkten, als sie versuchte, sich von ihm loszuwinden. Sie wirkte wie eine zarte Wüstenblume, die jederzeit zertreten werden konnte, wenn es den Soldaten gefiel.

Ohne nachzudenken, machte Raphael einen Schritt nach vorn. Das Einzige, das ihn davon abhielt, den Soldaten körperlichen Schaden zuzufügen und damit die Menschen der Zeltgemeinschaft vermutlich noch mehr in Gefahr zu bringen, war der Klang von Rachels Stimme.

»Raphael, hier sind Ethan und Miriam. Raphael?«

Raphael blinzelte und Rachels besorgtes Gesicht tauchte in seinem Blickfeld auf. Er folgte ihrem Blick nach unten und ihm wurde bewusst, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren.

Was mache ich hier?

Langsam entspannte er seine Finger. Er konnte nicht glauben, was er beinahe getan hätte. Bei seinen Engelskräften hätte eine kleine Handbewegung ausgereicht, um den Befehlshaber Baka in die Luft zu schleudern. Und bei Gott, das war genau das, was er tun wollte. Er wollte den bedrohlichen Soldaten weit weg von Rebecca – so schnell wie möglich. Aber dann würde das die anderen Soldaten dazu bringen, sie alle anzugreifen – angefangen bei Rebecca.

Er wollte zu ihr gehen. Aber er konnte es nicht. Zu viele Menschen würden darunter leiden, wenn er es täte. Und dann würde er sich vor Michael für den Missbrauch seiner Kräfte rechtfertigen müssen und für die Toten, die es mit Sicherheit geben würde.

Er sah zu Rebecca und war überrascht, dass noch immer das Feuer in ihrem Blick loderte.

»Lass mich los«, fauchte sie.

Baka sah sie einen Moment lang böse an und ließ dann seine Hand sinken. »Stures Weibsbild. Wieso willst du sie schützen?«

»Sie sind krank. Sie brauchen Hilfe.«

»Sie sind schwach und die Götter haben sich von ihnen abgewandt. Und dieser alte Mann« – Baka warf einen Seitenblick auf Obadiah – »weshalb ist er dir wichtig?«

Sie stellte sich schützend vor Obadiah. »Ein alter Mann eben.«

Baka schnaubte.

»Er verdient es, seine letzten Tage in Frieden zu verbringen. Es ist nicht an dir, zu entscheiden, wann der Tag ist, an dem ein Mensch leben oder sterben soll.«

»Du irrst dich. Es ist an mir. Ich bin es leid, mit dir zu streiten. Du wirst dich entfernen. Sofort!«

»Mein Vater wird davon erfahren«, drohte sie.

Baka packte Rebecca am Arm und riss sie an sich. Er beugte sich zu ihr, so dass seine Nasenspitze die ihre fast berührte. »Dein Vater ist derjenige, der ihre Auslöschung befohlen hat.«

Raphael konnte sehen, wie Rebeccas wilde Entschlossenheit bei Bakas Worten ins Wanken geriet. Er sehnte sich nach ihr.

»Ich werde ihn umstimmen«, erklärte sie. »Ich weiß, dass ich das kann.«

Bakas Lippen verzogen sich zu einem verschlagenen Grinsen. »Das Einzige, was ihn umstimmen wird, ist das Gefühl eines ledernen Geldbeutels an seiner Handfläche. Kannst du ihm das geben? Kannst du das?«

Verzweiflung malte sich auf ihrem Gesicht ab und das Leuchten in ihren Augen erlosch.

»Ah, wie ich sehe, bist nicht gänzlich von der Liebe zu deinem Vater geblendet und kennst seine Schwächen. Geh jetzt in die Stadt zurück und ich werde dir und deinem Weiberherzen das Ganze hier nachsehen. Schließlich wirst du meine Verlobte sein, wenn ich deinem Vater meine Geldbörse in die Hand drücke.«

Etwas in Raphaels Innern zerriss bei Bakas Worten und ehe er sich zurückhalten konnte, entfuhr ihm ein Schrei. »Lasst die Leute hier in Frieden!«

Er ignorierte Rachels Aufkeuchen und schob ihre Hand beiseite, als er auf die Soldaten zuschritt. Eine Stimme in seinem Hinterkopf rief ihm zu, dass er das hier nicht tun sollte. Er sollte nicht eingreifen. Das hatte er selbst Rachel erst vor wenigen Augenblicken erklärt. Aber der Gedanke daran, wie der unnachgiebige Soldat Baka Rebeccas sanftes Wesen brechen und sie zu seiner Frau machen wollte, war zu viel für ihn.

»Bleib stehen!« Baka streckte Raphael sein Schwert entgegen.

Raphael hielt inne. Er hatte keine Angst vor den Verletzungen, die das Schwert ihm zufügen konnte, wenn Baka sich entschied, es einzusetzen. Es würde wehtun und er würde bluten, aber es würde ihn nicht töten. Er sorgte sich, dass Obadiah oder Rebecca unabsichtlich verletzt würden, wenn sich Baka zum Angriff entschloss. Sie standen zu dicht in seiner Nähe.

Als ob er seine Gedanken gelesen hätte, wandte sich Obadiah zu Raphael um und schenkte ihm ein zahnloses Lächeln. Er ergriff Rebeccas Arm und führte sie mehrere Schritte von den Soldaten weg, so dass ein deutlich sichtbarer Pfad zwischen Raphael und Baka entstand.

Raphael hob die Hände, so dass die Handflächen nach oben zeigten.

»Ich trage keine Waffen bei mir«, sagte er und machte einen langsamen Schritt nach vorn. »Ich will dir nichts Böses.«

Bakas Augen verengten sich. »Stehen bleiben, habe ich gesagt! Wie kannst du es wagen, meinen Befehl zu missachten!«

Raphael schritt weiter auf ihn zu und hielt seinem Blick stand. Mit leiser, melodischer Stimme sagte er: »Ich hege nicht den Wunsch, dir Schaden zuzufügen. Ich komme in Frieden.«

Bakas Augen weiteten sich einen Moment lang. Er wirkte benommen. Schuldgefühle regten sich am Rand von Raphaels Bewusstsein. Er nutzte seine Engelsfähigkeit der Gedankenmanipulation, etwas, von der er nie geglaubt hätte, dass er es einmal einsetzen würde.

»Senke dein Schwert, Baka«, sagte er. »Du brauchst es nicht. Und deine Männer werden es auch nicht.«

Baka blinzelte und sah verwirrt auf sein Schwert. Dann, nach einem Moment des Zögerns, schob er es zurück in die Scheide.

»Senkt eure Waffen«, bellte Baka den Soldaten zu.

Ein Gemurmel kam in der Menge auf, die hinter den Soldaten stand. Die Soldaten wirkten verwirrt, während ihre Augen zwischen Raphael und ihrem Anführer hin- und herschossen.

»Ruhe!«, verlangte Baka. »Tut, was ich sage. Runter mit den Waffen.«

Raphael ging weiter vorwärts und sprach weiter mit der melodischen Stimme. Er war erstaunt, dass die Soldaten begannen, denselben benommen Gesichtsausdruck anzunehmen, als er weitersprach. Es war das erste Mal, dass er Gedankenmanipulation einsetzte und er hatte nicht gewusst, wie mächtig er war. Er sah zu Obadiah und Rebecca hinüber, als er an ihnen vorbeikam.

Obadiah lächelte ihn wissend an. Sein Blick war klar. Es schien, als ob die Gabe nur diejenigen beeinflusste, gegen die sie gerichtet war. Aber wie lange noch?

Dann richtete Raphael seinen Blick nach rechts neben Obadiah und seine Augen begegneten Rebeccas. Er hörte, wie sie nach Luft schnappte. Hitze wallte in seinem Körper auf. Schnell wandte er den Blick von ihr ab und richtete ihn wieder auf Baka und seine Soldaten. Er musste sich auf die Aufgabe konzentrieren, die vor ihm lag.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Baka und sagte: »Es ist nicht nötig, irgendjemandem hier Schaden zuzufügen.«

»Ich habe den Befehl erhalten. Alles und jeder sollen ausgelöscht werden.« Bakas Gesicht verzerrte sich.

Wieder fühlte Raphael, wie Schuldgefühle in ihm aufstiegen, als er sah, wie sich das Gesicht des Mannes verzog, als er gegen Raphaels Einfluss auf seine Gedanken ankämpfte.

»Weshalb wurde der Befehl erteilt? Die Menschen hier leben seit einiger Zeit friedlich außerhalb der Stadttore.«

»Weil…« Bakas Gesicht verzerrte sich noch mehr. »Weil…«

Raphael legte Baka eine Hand auf die Schulter. Er ignorierte sein protestierendes Gewissen, beugte sich vor und flüsterte: »Verrate es mir.«

Mit glasigen Augen sah Baka ihn an. »Der Gouverneur fürchtet, dass ihre Anwesenheit Reisende davon abhalten wird, nach Ai zu kommen aus Angst, dass sie mit Krankheit geschlagen werden könnten. Sowohl die Truhen der Stadt, als auch seine eigenen, haben sich fast völlig geleert, seitdem sie sich vor den Stadttoren niedergelassen haben.«

Raphael stieß ein tiefes Knurren aus, als Hass durch seine Adern peitschte. Wie eigennützig kann ein Mensch sein? Sie töten ihre Nächsten um des Reichtums willen!

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Litres'teki yayın tarihi:
11 ağustos 2020
Hacim:
258 s. 14 illüstrasyon
ISBN:
9788835404392
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