Kitabı oku: «Vor Dem Fall», sayfa 3
Er schloss einen Moment lang die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Dann erinnerte er sich daran, dass Baka erwähnt hatte, dass er dem Befehl von Rebeccas Vater unterstand. Ihr Vater war der Gouverneur. Er öffnete die Augen und warf ihr einen Blick zu. Eine Träne rann ihr über die Wange und sie biss sich auf die Unterlippe, um mutiger zu erscheinen. Wie konnten zwei Menschen so verschieden sein?
»Ich verstehe«, sagte Raphael. »Vielleicht können die Leute an einen anderen Ort gebracht werden. Irgendwo fernab der Augen von Reisenden und von den Bürgern der Stadt Ai.«
»Ich kenne einen Ort.«
Beim Klang von Rebeccas sanfter Stimme setzte Raphaels Herz einen Schlag aus. Er wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken, als sich ihr schönes Gesicht vor ihn schob.
»Vergib mir, mein Herr. Mein Name ist Rebecca. Ich bin die Tochter von Dathan und Sarah von Ai.«
»Rebecca«, flüsterte Raphael, unfähig irgendetwas anderes zu sagen. Sie war ihm so nahe. Er bemerkte die leichte Röte, die ihre makellose Haut überzog, als sie sprach.
»Hinter dem Hügel dort drüben.« Rebecca deutete in die Richtung, die den Stadttoren entgegengesetzt lag. »Dort gibt es einen Bach, der durch das Tal fließt. Ein paar Meilen stromabwärts gibt es eine offene Fläche, die hinter Felsen verborgen liegt. Das ist nicht einmal in der Nähe der Straße, die nach Ai führt.«
Raphael war bezaubert von der Art, wie sich ihre Lippen bewegten, als sie sprach. Ihm fiel gar nicht auf, dass sie nichts weiter sagte, bis Obadiah sich räusperte.
Er riss seine Augen von ihr los und sah zurück zu Baka. »Wir haben also eine Lösung. Ihr werdet den Menschen helfen, zu diesem Ort zu ziehen.«
Baka sah auf Rebecca hinunter und einen Moment lang glaubte Raphael, seine Engelsfähigkeit habe aufgehört zu wirken. Bei Rebeccas Anblick verengten sich Bakas Augen kaum merklich. »Auf wessen Befehl hin?«
Raphael schob sich zwischen Baka und Rebecca. Er wusste, dass Baka und die anderen es sich anders überlegen konnten, sobald er fort wäre und dass er nicht in der Lage sein würde, sie aufzuhalten. Er wusste nicht einmal, ob es den Ausgestoßenen erlaubt sein würde, an dem neuen Ort zu bleiben, wenn er und Rebecca erst einmal nachhause zurückgekehrt wären.
Er konnte nur daran denken, wie Rebeccas Blick von einer Hoffnung erfüllt war, die ihr Gesicht leuchten ließ und ihm den Atem raubte. Und daran, dass er es gewesen war, der diesen Gesichtsausdruck bei ihr hervorgerufen hatte.
Er verbannte den Gedanken daran, dass Rebeccas Vater sie eines Tages mit Baka verheiraten würde, aus seinem Kopf. Heute konnte er die Dinge zum Guten wenden – selbst, wenn es nur für eine kurze Zeit währte.
»Auf meinen Befehl hin. Denn ich bin der Erzengel Raphael.«
5
Raphael saß unter dem Kirschbaum und starrte auf die Brücke jenseits der Gärten. Unter ihr hindurch floss der kleine Bach, der das Fenster zur Erde bildete. Seitdem die Brücke erbaut worden war, hatte er nie die Notwendigkeit verspürt, sie zu benutzen – bis jetzt. Seitdem er und Rachel zurückgekehrt waren, waren im Himmel erst wenige Stunden verstrichen. Er wusste, dass diese Stunden durch den Zeitunterschied mehrere Tage auf der Erde bedeuteten und fragte sich, wie es Rebecca ging.
Bakas Worte verfolgten ihn. Raphael hegte keinen Zweifel daran, dass der Soldat Rebecca zu seiner Frau machen würde. Und wie jeder andere Mann hätte Baka als ihr Ehemann das Recht, mit ihr zu machen, was er wollte. Ihm wurde übel beim Gedanken daran, wie Baka Rebecca berührte und seine ehelichen Rechte über sie ausübte.
Unfähig es noch länger zu ertragen, eilte Raphael zur Brücke und suchte nach ihr. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn er sie fand. Was konnte er tun? Vielleicht könnte er vorgeben, ihr Schutzengel zu sein und sie vor Baka warnen. Es waren schon andere Engel zur Erde hinabgestiegen, um Menschen vor dem zu warnen, was auf sie zu kam.
Frustriert schlug Raphael mit der Faust aufs Geländer. Er konnte es nicht tun. Es war den Engeln verboten, sich Menschen zu zeigen, außer sie waren ausdrücklich dazu aufgefordert worden. Und er war ein Erzengel, ein Vorbild, dem alle anderen nacheifern sollten. Ihm sank das Herz, als er fühlte, wie die Verantwortung schwer auf seinen Schultern ruhte.
»Siehst du irgendwas Interessantes?«
Beim Klang der Stimme fuhr Raphael zusammen.
»Luzifer.« Er stieß den Atem aus.
Luzifer legte eine schlanke Hand aufs Geländer und beugte sich darüber. »Ah, ich verstehe«, sagte er und in seinen grauen Augen funkelte es. »Sie ist entzückend.«
»Es ist nicht das, was du denkst, Luzifer.«
Raphael eilte zurück zu den Gärten und hoffte, dass ihm sein Freund folgen würde. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass Luzifer von ihr erfuhr. In der Vergangenheit hatte er seine Gedanken unbekümmert mit seinem Freund geteilt. Sie hatten interessante Gespräche über Himmlische Politik geführt: über den freien Willen des Menschen und darüber, ob er tatsächlich existierte oder nicht. Aber in letzter Zeit war Luzifer unruhig geworden. Es schien, als sei es für Luzifer nicht genug, Erzengel zu sein. Er wollte mehr. Damit fühlte Raphael sich nicht wohl.
»Was glaubst du denn, was ich denke?«
Raphael biss die Zähne zusammen. Luzifer war nur scheinbar behutsam, denn er wusste, dass er nicht lügen würde.
»Ich habe nach den Ausgestoßenen gesehen. Sie wurden an einen anderen Ort gebracht. Ich habe mich nur um ihr Wohlergehen gesorgt.«
»Ich könnte schwören, dass du dich um das Wohl von einigen mehr gesorgt hast, als um das von anderen.«
»Sie alle liegen mir Herzen«, erwiderte er und die Worte kamen ihm ein wenig unwirsch über die Lippen. »So, wie es sein sollte.«
»Friede, mein Freund.« Luzifer hielt inne und pflückte im Garten eine weiße Rose. »Dein Mitgefühl für die Menschen ist groß.«
Er schloss die Augen und atmete tief ein. Er verlor sich im Duft der Blüte, bevor er fortfuhr. »So groß, dass du Grenzen überschreiten würdest, um ihnen zu helfen. So, dass du vielleicht sogar deine Kräfte der Gedankenmanipulation nutzen würdest…«
Raphael spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
Luzifers Augen öffnete sich und er lachte. »Also das ist ein Gesichtsausdruck, den ich noch nie an dir gesehen habe.«
»Woher hast du es gewusst?« Seine Stimme war ein kaum hörbares Flüstern.
»Du bist nicht der Einzige, der der Brücke von Zeit zu Zeit einen Besuch abstattet.«
»Hat es sonst irgendwer gesehen?«
»Nur Uriel.« Luzifer warf die Blüte beiseite und setzte sich auf eine Steinbank im Garten. »Keine Sorge. Du musst dich nicht beunruhigen. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.«
Raphael ließ sich neben ihn sinken. »Nein. Ich sollte zu Michael gehen und um Vergebung bitten. Ich habe meine Gabe missbraucht und sollte bestraft werden.«
»Aber, aber, Raphael. Du und ich, wir wissen beide, dass wir unsere Kräfte gelegentlich zu… anderen Zwecken eingesetzt haben. Außerdem wurdest du ausgeschickt, um den Ausgestoßenen Trost zu spenden.«
»Ja, aber – «
»Ich würde sagen, du hast deine Mission ausgeführt. Baka und die anderen Soldaten dazu zu bringen, euch dabei zu helfen, alle Ausgestoßenen an einen neuen Ort zu bringen, der den Menschen von Ai verborgen ist, war genial. Obwohl ich persönlich mir nicht die Mühe gemacht hätte.«
Schuldgefühle stiegen in Raphael auf, als er darüber nachdachte, was er getan hatte. Er hatte Baka zum Sklaven jedes seiner Worte gemacht. Schlimmer noch, es hatte ihm tatsächlich gefallen, die Kontrolle über den bedrohlichen Heerführer zu haben. Baka hatte jedem Befehl gehorcht und ihn an seine Soldaten weitergegeben. Raphael war nicht einmal klar gewesen, was er da tat, bis er den fragenden Blick auf Rachels Gesicht wahrgenommen hatte. Sie hatte nicht danach gefragt, aber er wusste, dass sie sich fragte, weshalb er seine Kräfte hatte einsetzen können, um einzugreifen, wenn sie es nicht durfte. Seit ihrer Rückkehr hatte er sich wie ein Feigling von ihr ferngehalten in der Hoffnung, so ihrem anklagenden Blick auszuweichen. Die einzige Antwort, die er ihr geben konnte, war, dass es aus eigennützigen Gründen geschehen war. Das war genau das, was er jetzt war – ein eigennütziger Feigling.
»Es war falsch«, sagte er. »Und ich habe Rachels Respekt verloren.«
»Rachel?«
»Raguel. Sie hat ihren Namen um eines Menschen willen geändert, dem sie begegnet ist.«
»Raguel.« Luzifer spuckte aus. »Ich würde keinen einzigen Gedanken an einen Engel verschwenden, der es einem Menschen gestattet, ihm einen Namen zu geben wie einem Hund. Sie ist es nicht wert, dass du deine Zeit mit ihr verschwendest.«
Anspannung trat in Raphaels Blick. »Luzifer – «
»Aber, aber, mein Freund.« Luzifer tätschelte seinen Arm. »Lass uns nicht bei Dingen verweilen, die bereits geschehen sind. Ich habe einen Vorschlag für dich, der vielleicht dein Interesse weckt. Was, wenn ich dir sagte, dass du ein langes, glückliches Leben mit der Wüstenblume führen könntest, von der du so angetan bist?«
»Das ist nicht möglich.«
»Oh, aber das ist es allerdings.«
»Wie könnte es das sein… außer… sag mir, dass du nicht mit dem Gedanken spielst, auf der Erde zu leben.« Luzifer hatte schon zuvor davon gesprochen. Er hatte nie gedacht, dass Luzifer es tatsächlich tun würde – wenn man seine Verachtung den Menschen gegenüber bedachte.
»Das tue ich in der Tat, ebenso wie Uriel und einige andere, die sich trauen.«
»Was ist mit denen, die es nicht tun?« Das letzte Mal, als Raphael Luzifer gesehen hatte, hatte er mindestens zwanzig Seraphim und Schutzengel um sich gescharrt, die ihm folgten.
»Diese Narren. Sie fürchten Michaels Zorn.«
»Das sollten sie auch.«
Luzifer schnaubte. »Ich habe keine Angst vor ihm.«
Er erwiderte den Blick seines Freundes. Luzifer beneidete Michael. Er konnte es in seinen Augen erkennen.
»Sag mir, wozu soll es gut sein, wenn du auf die Erde gehst, um bei denen zu leben, die du so sehr verachtest?«
Luzifers Augen verengten sich, bevor sein Gesicht schnell einen neutralen Ausdruck annahm und seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. »Aus demselben Grund, aus dem du immer wieder über die Brücke nach deiner Wüstenblume Ausschau hältst.«
Raphael stutzte. »Du hast meine Sorge falsch verstanden. Ich bin nur sichergegangen, dass Rebecca nichts zugestoßen ist wegen meines Eingreifens.«
»Rebecca.«
Raphael erstarrte, als Luzifer ihren Namen aussprach und ihn mit der Zunge förmlich streichelte. Er sprang auf die Füße. »Es reicht, Luzifer.«
Luzifer lachte. »Entschuldige. Es ist nur – ich habe dich noch nie so fasziniert von jemandem gesehen. Geh nicht. Du hast meinen Vorschlag noch nicht gehört.«
»Ich habe genug gehört.«
»Raphael.« Luzifer trat auf ihn zu und versperrte ihm den Weg. »Wir werden bald fortgehen und ich möchte, dass du dich uns anschließt. Du musst dort nicht bleiben. Vielleicht gerade lange genug, um sicherzustellen, dass deine Wüstenblume vor einem gewissen Jemand in Sicherheit ist…«
Das Bild von Bakas Körper, der sich über Rebeccas aufrichtete, schoss durch seinen Kopf und er zuckte zusammen. Sein Herzschlag pochte ihm in den Ohren und verdrängte jeden rationalen Gedanken. Er gestattete sich selbst den Gedanken daran, noch einmal bei Rebecca zu sein. In seinem ganzen Leben hatte er noch nicht ein einziges Mal mit einem Menschen eine Beziehung eingehen wollen. Und jetzt stand er hier und erwog, sich von den Engeln loszusagen – für Rebecca.
»Vielleicht würde ein Tag nicht schaden.«
»Natürlich würde es das nicht«, entgegnete Luzifer.
»Ein Tag oder zwei wären genug, um die Dinge zwischen den Ausgestoßenen und den Menschen von Ai zu regeln.« Raphael sprach die Worte, aber tief im Innern wusste er, dass er die Zeit damit verbringen würde, einen Weg zu suchen, wie er Baka von Rebecca fernhalten konnte.
»Ein Tag… ein Monat auf der Erde bedeutet hier oben so gut wie keine Zeit«, redete Luzifer auf ihn ein. »Es wird wie ein Wimpernschlag vergehen. Niemand wird überhaupt wissen, dass du fort bist.«
Er sah Rebeccas liebliches Lächeln vor sich und das merkwürdige Gefühl, dass er gehabt hatte, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, stieg in ihm auf. Luzifer hatte recht. Niemand würde überhaupt wissen, dass er fort war.
»Wann gehen wir?«
»Ihr geht?«
Raphael fuhr beim Klang von Rachels Stimme herum. Einen Moment lang brachte ihn der verletzte Ausdruck auf ihrem Gesicht fast dazu, es sich anders zu überlegen.
Bevor er etwas erwidern konnte, trat Luzifer vor ihn. »Wie ich höre, hast du einen neuen Namen. Rachel, nicht wahr?«
Sie blinzelte, verwirrt, dass Luzifer ihr Beachtung schenkte. »Ich… ähm… ja.« Ihre Augen fuhren fragend zwischen ihm und Raphael hin und her.
»Das ist… reizend. Ich bin mir sehr sicher, dass Uriel das auch so sehen würde. Meinst du nicht, Raphael? Schade, dass er bald mit uns fortgehen wird, um auf der Erde zu leben.«
Sie beugte sich zur Seite und versuchte, Raphael anzusehen. »Uriel geht auch? Er wird doch wiederkommen, oder?«
»Es ist noch nicht zu spät«, antwortete Luzifer und ergriff sie am Arm, um sie von Raphael fortzuführen. »Uriel ist im Saal der Gaben. Wenn du dich beeilst, erwischst du ihn vielleicht noch.« Er setzte einen traurigen Gesichtsausdruck auf. »Das ist vielleicht die letzte Gelegenheit, um ihm zu sagen… du weißt schon.«
»Er kann nicht fortgehen«, flüsterte Rachel.
»Vielleicht kannst du ihn davon überzeugen.«
Rachel nickte und eilte mit wehendem Gewand davon.
Raphael schluckte schwer an dem Klumpen, der sich in seiner Kehle bildete, als er zusah, wie die kleine Gestalt verschwand. Wie konnte Luzifer so mit ihren Gefühlen spielen? Er wusste, dass es ausgeschlossen war, dass Uriel blieb und dass er sie mit einem gebrochenem Herzen zurücklassen würde. Trotzdem war da ein Teil von ihm, der dankbar war, dass Luzifer sie abgelenkt hatte. Er schämte sich.
Rachel hetzte durch die Korridore zum Saal der Gaben. Das Geräusch ihrer Füße hallte auf dem Marmorboden und in den Fluren wider.
Er kann nicht fortgehen. Er weiß es nicht.
Rachels Gedanken an Uriel kreisten rasend schnell in ihrem Kopf. Sie wusste nicht, was es ihm bedeuten würde. Wäre er jemals in der Lage zurückzukehren, wenn er erst einmal fort war? Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass irgendein anderer Engel je fortgegangen war, um auf der Erde zu leben.
»Hi, Raguel. Wie ich hörte, hast du deinen Namen…«
»Tut mir leid!«, rief Rachel, als sie an einem Engel mit dem Namen Marion vorbeieilte. »Ich kann jetzt nicht stehenbleiben, um mich zu unterhalten.« Der Gang war voller Engel. Sie alle sprachen im Flüsterton über Luzifer und Uriel. Die Nachricht von ihrer Abreise hatte sich schnell herumgesprochen.
Sie konnte ihre Blicke auf sich fühlen, als sie an ihnen vorbeieilte. Es war ihr egal. Zu jeder anderen Zeit hätte sie es vermutlich beschämend gefunden, dass sie von ihren Gefühlen für Uriel wussten. Jetzt konnte sie nur daran denken, zu ihm zu gelangen und ihn zum Bleiben zu überreden.
Als sie den Saal der Gaben erreichte, erstarrte ihre Hand auf der Türklinke, als ein tiefes, kehliges Lachen sich in Uriels Gelächter mischte. Jemand war bei ihm.
Sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Uriel liebte es, mit anderen Engeln zu flirten. Das wussten alle. Selbst, wenn er mit ihr flirtete, wusste sie, dass es einfach ein Teil von ihm war und nichts weiter. Trotz dieses Wissens hatte sie nicht verhindern können, dass sie sich in ihn verliebte und sich mehr wünschte.
Er war anders als alle, die sie kannte: Raphael, Luzifer, Michael. Sie waren alle so ernst. Uriel hingegen war lustig und sorgenfrei. Er liebe das Leben.
Es gab nicht viele Engel, die ihn so kannten, wie sie es tat. Während einiger von ihren vielen Spaziergängen durch die Gärten wurde Uriels schönes Gesicht manchmal ernst und er teilte seine tiefsten Gedanken mit ihr. Er erzählte ihr dann, dass er sich manchmal wünschte, er wäre nicht der Erzengel des Todes. Er liebte die Menschen und die Freiheit, die sie hatten ihr Leben zu leben und er hasste es, ihnen das wegnehmen zu müssen. Er hatte ihr erzählt, dass niemand sonst wusste, wie schwer seine Rolle als Engel auf seinen Schultern lastete. Das war etwas nur zwischen ihnen beiden gewesen.
Sie konnte nachvollziehen, dass er versucht war, seine Stelle im Himmel aufzugeben, um bei denen zu leben, die er beneidete.
Sie dachte an das letzte Mal, als sie sich unterhalten hatten, bevor sie mit Raphael aufgebrochen war.
»Weißt du, Luzifer sagt, die Engel sollten mehr Freiheiten haben. Wir sollten nicht nur damit beschäftigt sein, die ganze Zeit den Menschen zu dienen.«
»Das glaubst du doch nicht etwa. Oder?«
»Na ja, nein… nicht wirklich.«
»An Luzifer ist etwas Merkwürdiges. Ich weiß nicht, was genau es ist, aber ich traue ihm nicht.«
»Raphael scheint ihn gern zu haben.«
Sie seufzte. »Ja, das tut er. Es ist nur… ach, ich weiß auch nicht. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn um ihn geht. Er nimmt das Beste von dir weg, wenn du in seiner Nähe bist, weißt du.«
Uriel hob eine Braue. »Was meinst du damit?«
»Na ja, je länger du dich in seiner Nähe aufhältst, desto unglücklicher scheinst du zu sein.«
»Hmmm… Vielleicht bin ich tief im Innern schlecht und Luzifer hilft mir, das zu erkennen.«
»Du bist nicht schlecht.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Ich glaube, Luzifer ist es.«
Uriel schüttelte den Kopf. »Wenn du mein wahres Ich kenne würdest, würdest du das nicht sagen.«
Sie sah ihm in die Augen. »Ich sage es, weil ich dein wahres Ich tatsächlich kenne. Dein Herz ist rein, Uriel. Du bist gut. Nur, wenn du bei ihm bist, saugt das alles Gute aus dir heraus. Es ist, als könnte da, wo das Böse ist, nichts Gutes bestehen.«
»Willst du damit sagen, Luzifer sei böse? Er ist ein Erzengel.«
»Ich… ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass du anders bist, wenn du mit ihm zusammen warst.«
Uriel seufzte. »Oder vielleicht zeigt sich mein wahres Ich, wenn ich bei ihm bin.«
Rachel schüttelte den Kopf bei der Erinnerung und drückte die Klinke herunter.
Schwungvoll öffnete sie die Tür. Und dort, in der Mitte des Raumes, wo Teppiche und Läufer auf dem Marmorboden lagen, saß ein Engel Uriel gegenüber. Ihr langes Haar floss ihr in seidigen Wellen über den Rücken.
Als Rachel den Saal betrat, sah Uriel in ihre Richtung und sein Gesicht leuchtete auf. »Raguel! Oder sollte ich sagen: Rachel? Du kommst genau richtig. Komm herein und hilf mir, Gabrielle davon zu überzeugen, mit mir auf die Erde zu ziehen.«
Gabrielle drehte sich um und lächelte Rachel warm an. »Schon zurück? Ich dachte, du und Raphael würdet viel länger brauchen.«
»Die Pläne haben sich geändert.« Rachel wählte ihre Worte mit Bedacht. Sie wollte nicht, dass Raphael in Schwierigkeiten geriet, weil er seine Engelsfähigkeiten auf eine solche Art eingesetzt hatte. Es war allgemein bekannt, dass Gabrielle Raphael gern hatte, obwohl sie versuchte, es zu verbergen. Wie mit ihren eigenen Gefühlen für Uriel schien es, dass jeder Bescheid wusste – abgesehen von der Person, der ihre Zuneigung galt.
»Die Menschen haben ihre Meinung geändert«, erklärte Rachel. »Sie haben ihr Mitleid für die Ausgestoßenen entdeckt.«
»Da siehst du es, Gabrielle. Die Menschen sind ganz anständig. Komm mit mir und Luzifer. Du weißt doch, dass du es willst.« Er grinste und zeigte seine Grübchen.
»Dann stimmt es also«, sagte Rachel und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»Du gehst mit Luzifer und Raphael fort.«
»Raphael?« Der sorgenfreie Ausdruck verschwand von Gabrielles Gesicht.
Rachel sah sie überrascht an. »Ich dachte, du wüsstest es.«
»Was glaubst du denn, was ich versucht habe, dir zu erklären, Gabrielle?«, warf Uriel ein. »Wir gehen runter auf die Erde.«
»Ich dachte, du machst Witze.« Gabrielle stand auf und ging auf die Tür zu. »Das ist nicht richtig.«
»Wo liegt denn das Problem?« Uriel sprang auf die Füße. »Oder ist es Raphael, der… oh, ich verstehe«, sagte er und in seinen blauen Augen funkelte es.
Eine leichte Röte hatte sich über Gabrielles makelloses Gesicht gelegt. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Na klar.« Uriel wandte sich zu Rachel um. »Dann kommt Raphael also mit uns mit?«
»Ich glaube schon. Ich war gerade in den Gärten und Luzifer sagt, sie werden sich bald auf den Weg machen. Und ich wollte – «
»Siehst du, da hast du es«, unterbrach Uriel sie. »Selbst Raphael hält das Ganze für eine gute Idee.«
Einen Moment lang begegnete Rachel Gabrielles Blick. Die grünen Augen des blonden Engels schienen ihren Blick festzuhalten. Sie konnte Mitleid in ihnen erkennen. Es war nicht das erste Mal, dass Uriel so tat, als sei sie gar nicht anwesend. Einen Augenblick lang erkannte Rachel neben dem Mitleid einen Ausdruck des Verurteilens in den grünen Augen.
Sie versteht es nicht, dachte Rachel. Sie kennt Uriel nicht so, wie ich es tue.
»Hat er gesagt, weshalb er geht?«, fragte Gabrielle sie.
Sie zögerte mit der Antwort, als das Bild von Rebecca vor ihr aufstieg. Sie schluckte. »Ich weiß es nicht.«
»Das ist eine nette Überraschung«, sagte Uriel. »Ich hätte nicht geglaubt, dass der staubige, alte Raphael Interesse hätte.«
»Das ergibt keinen Sinn. Rachel, sag mir genau, was geschehen ist, als ihr auf der Erde wart. Was hat Raphael gemacht?«
»Das kann ich dir sagen.«
Beim Klang von Raphaels tiefer Stimme drehte Rachel sich um. Freundliche Augen blickten sie an. »Rachel, ich muss mich bei dir entschuldigen. Für das, was geschehen ist, als wir auf unserer Mission waren.«
»Hat das irgendwas damit zu tun, weshalb du uns verlässt… mit Luzifer?«, fragte Gabrielle. Ihre Stimme klang gepresst.
»Ja.«
Die Spannung, die im Raum stand, war förmlich spürbar.
»Ah, das ist mein Stichwort – ich muss los«, sagte Uriel und schritt auf die Tür zu. »Rachel?«
Rachel drehte sich zu Uriel um und fühlte, wie sie in seinen blauen Augen ertrank. Alles, was sie ihm hatte sagen wollen, blieb ihr in der Kehle stecken. Sie wollte ihm sagen, dass er bleiben sollte. Dass er mehr in ihr sehen sollte, als bloß eine Freundin. Dass sie sein wahres Ich sah und ihn liebte. All das war in ihrem Innern gefangen und fürchtete sich, ans Tageslicht zu kommen, und sie wusste nicht weshalb.
»Ja?«, flüsterte sie schließlich.
»Danke für… alles. Ich werde unsere kleinen Gespräche in den Gärten vermissen.«
»Ich… ich…« Es brach ihr das Herz. Wenn sie ihm sagte, was sie empfand und er trotzdem ging, würde sie das nicht ertragen.
»Ich werde sie auch vermissen«, stolperten die Worte schließlich heraus.
Sie konnte seinen hauchzarten Kuss noch auf ihrer Stirn spüren, nachdem er den Raum schon verlassen hatte.
Ein weißes Rauschen erfüllte ihre Ohren, durch das wie von Ferne Raphael und Gabrielles Stimmen klangen. Sie konnte Raphaels Berührung kaum spüren, als er ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie um Vergebung bat. Sie nickte. Ihr Kopf fühlte sich tonnenschwer an. Sie konnte nicht einmal hören, weshalb er sie um Vergebung bat. Alles, was sie hören konnte, war ihr Herzschlag und sie fragte sich verwundert, wie es einfach weiterschlagen konnte.
Raphael fuhr fort zu sprechen und sie bemühte sich, sich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Seine Gesichtszüge verschwammen hinter einem wabernden Nebel. Da war Traurigkeit in seiner Stimme und als sie die Worte »Ausgestoßene« und »Soldaten« hörte, wurde ihr bewusst, dass er Gabrielle erzählte, was er vor Ai getan hatte. Dann veränderte sich seine Stimme, als der Name »Rebecca« fiel. Der Tonfall in seiner Stimme war unmissverständlich.
Dann hallte Gabrielles Stimme im Saal wider und ließ ihren Brustkorb vibrieren. Die Worte »Tu das nicht« und »Das darfst du nicht« donnerten durch die Luft.
Durch den Schreck löste sich der Nebelvorhang vor Rachels Augen und sie sah Gabrielle an. Ihr normalerweise ruhiges und gelassenes Gesicht spiegelte genau die dumpfe Taubheit wider, die sich in Rachels Brust ausgebreitet hatte.
»Ich kann dich nicht bitten, meinen Standpunkt dazu zu verstehen, Gabrielle«, erklärte Raphael.
»Bist du hier nicht glücklich, Raphael?«
»Gabrielle, du machst dir zu viele Gedanken. Ich gehe nur für einen Tag. Und dazu nur einen irdischen Tag… vielleicht zwei, aber mehr als das nicht. Das ist das Geringste, was ich tun kann, um die Probleme zu beheben, die möglicherweise durch mein Eingreifen entstanden sind.«
»Bist du sicher, dass das alles ist?« Gabrielles grüne Augen hielten seinen Blick unbeirrt fest.
Das erregte Rachels Aufmerksamkeit. Die Worte hingen in der Luft – und ebenso Raphaels Zögern, auf die Fragen zu antworten. Raphael hatte noch nie nach Worten suchen müssen.
»Ja«, erklärte er schließlich. »Darauf hast du mein Wort. Ich werde sofort zurückkommen. Ein irdischer Tag ist hier oben im Himmel nur ein Herzschlag.«
»Rachel?«
Rachel blinzelte und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf Raphael.
»Ich werde alles tun, um Uriel zu überzeugen zurückzukommen. Das verspreche ich.«
Einen Moment lang herrschte Stille, als er den Raum verlassen hatte. Gabrielle stand neben ihr und starrte auf die geschlossene Tür.
»Sie werden nicht zurückkommen, oder?«, krächzte Rachel.
Langsam drehte sich Gabrielle zu Rachel um. Über ihr sanftes Gesicht legte sich eine Maske der Gleichgültigkeit. In der ganzen Zeit, seit der Rachel sie kannte, hatte Gabrielle noch nie ausgesehen, wie sie es in diesem Moment tat. Ihre zuvor lebhaften grünen Augen schienen jetzt leer zu sein.
»Nein, das werden sie nicht.«
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