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Kitabı oku: «Unsichtbare Bande: Erzählungen», sayfa 16

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Die Grabschrift

Heute beachtet gewiß keine Menschenseele das kleine Kreuzlein, das in einer Ecke des Svartsjöer Friedhofs steht. Heute gehen alle Kirchenbesucher daran vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen. Und es ist ja nicht wunderlich, daß keiner es bemerkt. Es ist so niedrig, daß Klee und Glockenblumen ihm bis über die Arme reichen und Timotheusgras darüber wächst. Auch nimmt sich keiner die Mühe, die Inschrift zu lesen, die da steht. Die weißen Buchstaben sind heute fast gänzlich vom Regen verwischt, und es scheint nie jemand einzufallen, sie zu Worten zusammenzufügen.

Aber es ist nicht immer so gewesen. Das kleine Kreuz hat seinerzeit viel Staunen und Verwunderung erweckt. Eine Zeitlang konnte niemand den Fuß auf den Svartsjöer Friedhof setzen, ohne zu dem Kreuze hinzugehen. Und bekommt ein Mensch aus jener Zeit es heute zu Gesicht, so sieht er sogleich eine ganze Geschichte vor sich …

Er sieht das ganze Kirchspiel Svartsjö in Winterschlummer versenkt und mit glattem, weißem Schnee bedeckt, der anderthalb Ellen hoch liegt. Es sieht dort so aus, daß es kaum menschenmöglich ist, sich zurechtzufinden. Man muß nach dem Kompaß gehen, wie auf dem Meere. Es ist keinerlei Unterschied zwischen Strand und See, das Brachfeld liegt ebenso glatt da wie die Erde, die hundert Ernten Hafer getragen hat. Die Köhlerleute, die auf großen Moorflächen und nackten Bergfirsten hausen, können sich einbilden, daß sie über ebensoviel gepflügten und bebauten Boden geböten wie der reichste Großbauer.

Die Wege haben ihre sichern Bahnen zwischen den grauen Zäunen verlassen und abenteuern nun über die Wiesen und den Fluß entlang. Selbst drinnen zwischen den Gehöften kann man leicht verwirrt werden. Man kann plötzlich entdecken, daß der Weg zum Brunnen quer über die Spireahecke des kleinen Rosenbeets gelegt ist. Aber nirgends ist es so unmöglich, sich zurechtzufinden, wie auf dem Kirchhof. Erstens ist die graue Steinmauer, die ihn vom Pfarrhof trennt, ganz überschneit, so daß er jetzt völlig mit diesem zusammenfließt. Zweitens ist der Kirchhof jetzt nur noch ein großes, weißes Feld: nicht die kleinste Unebenheit in der Schneedecke verrät die vielen Anhöhen und Hügelchen des Totenackers.

Auf den meisten Gräbern stehen Eisenkreuze, an denen dünne, kleine Herzen hängen, die im Sommer der Wind bewegt. Jetzt sind sie alle überschneit. Diese kleinen Eisenherzen können nicht mehr ihre wehmütigen Weisen von Schmerz und Sehnen erklingen lassen.

Leute, die drinnen in den Städten auf Arbeit waren, haben für ihre Toten daheim Trauerkränze mit Blumen aus Perlen und Blättern aus Eisenblech mitgebracht, und diese Kränze stehen so in Achtung, daß sie auf den Gräbern in kleinen Glaskasten liegen. Aber nun sind auch sie unter dem Schnee verborgen und begraben. Nun ist das Grab, das solchen Schmuck trägt, um nichts vornehmer als irgendein andres.

Ein paar Schneebeerenbüsche und Fliederhecken ragen aus der Schneedecke empor, allein die meisten sind verborgen. Die nackten Zweige, die aus dem Schnee hervorkommen, sind einander wunderlich gleich. Sie können dem nicht zur Richtschnur dienen, der sich auf dem Kirchhofe zurechtzufinden sucht. Alte Mütterchen, deren Brauch es ist, allsonntäglich einzutreten, um einen Blick auf die Gräber ihrer Lieben zu werfen, kommen jetzt des Schnees wegen nicht weiter als ein Stück über den Hauptweg hinaus. Dort bleiben sie stehen und versuchen zu erraten, wo „das Grab“ liegen mag. Ist es bei diesem Busch oder bei jenem? Und sie fangen an, sich nach dem Schmelzen des Schnees zu sehnen. Es ist, als sei der Entrissene so unsagbar weit von ihnen entfernt, seit sie die Stelle nicht mehr sehen können, wo er in die Erde versenkt worden ist.

Da sind auch ein paar große Steine, die sich über den Schnee erheben. Aber es sind ihrer so wenige. Und der Schnee hängt über ihnen, so daß man den einen nicht vom andern unterscheiden kann.

Ein einziger Weg auf dem Kirchhof ist gebahnt. Er führt den Hauptgang entlang zu einem kleinen Leichenhause. Soll jemand begraben werden, so wird der Sarg in das Leichenhaus getragen, und dort hält der Pfarrer die Grabrede und nimmt die Zeremonie der Beerdigung vor. Es ist nicht daran zu denken, daß der Sarg in die Erde kommen könnte, solange dieser Winter währt. Er muß im Leichenhause stehen bleiben, bis Gott Tauwetter sendet und der Boden wieder zugänglich wird für Hacke und Spaten.

Gerade wie der Winter in seiner strengsten Laune und der Kirchhof ganz unzugänglich ist, stirbt ein Kind beim Hüttenherrn Sander auf dem Werke Lerum.

Das ist ein großes Werk, Lerum, und Hüttenherr Sander ist ein mächtiger Mann. Er hat sich erst jüngst ein Familiengrab auf dem Kirchhof herstellen lassen. Man erinnert sich gut daran, wenn es jetzt auch unter dem Schnee verborgen ist. Es ist von einem behauenen Steinrand und einer dicken Eisenkette umgeben; mitten auf dem Grabe steht ein Granitblock, der den Namen trägt. Dort steht das eine Wort Sander mit großen Lettern eingegraben, die über den ganzen Kirchhof leuchten.

Aber jetzt, da das Kind tot ist und das Begräbnis zur Sprache kommt, sagt der Hüttenherr zu seiner Frau:

„Ich will nicht, daß dieses Kind in meinem Grabe liege!“

Mit einem Male sieht man sie vor sich. Da ist der Speisesaal auf Lerum, und da sitzt der Hüttenherr am Frühstückstisch und ißt allein, wie er zu tun pflegt. Seine Gattin Ebba Sander lehnt im Schaukelstuhl am Fenster, von wo sie die Aussicht über den See und die birkenbestandnen Inselchen hat.

Sie hat dagesessen und geweint, aber als der Mann dieses sagt, werden ihre Augen auf einmal trocken. Die ganze kleine Gestalt zieht sich vor Schrecken zusammen, sie beginnt zu zittern, als fühle sie starke Kälte.

„Was sagst du, was sagst du?“ fragt sie. Und sie spricht wie einer, der vor Kälte klappert.

„Es widerstrebt mir,“ sagt der Hüttenherr. „Vater und Mutter liegen da, und auf dem Steine steht Sander. Ich will nicht, daß dieses Kind dort liege.“

„Ah so, das hast du dir ausgeheckt?“ sagt sie und schauert dabei fortwährend zusammen. „Ich wußte wohl, daß du dich einmal rächen würdest.“

Er wirft die Serviette fort, erhebt sich vom Tische und steht breit und groß vor ihr. Es ist gar nicht seine Absicht, seinen Willen mit vielen Worten zu ertrotzen. Aber sie kann es ihm ja ansehen, wie er so da steht, daß er seinen Sinn nicht ändern kann. Der ganze Mann ist schwere, unerschütterliche Halsstarrigkeit.

„Ich will mich nicht rächen,“ sagt er, ohne die Stimme zu erheben. „Ich kann es nur nicht ertragen.“

„Du sprichst, als handelte es sich nur darum, ihn aus einem Bett in das andre zu legen,“ sagt sie. „Und er ist ja tot, ihm kann es wohl gleich sein, wo er liegt. Aber ich bin dann eine Verlorne.“

„Ich habe auch daran gedacht,“ sagt er, „aber ich kann nicht.“

Zwei Leute, die mehrere Jahre miteinander verheiratet sind, brauchen nicht viel Worte, um sich zu verstehen. Sie weiß schon, daß es ganz zwecklos wäre, wollte sie versuchen, ihn umzustimmen.

„Warum mußtest du mir damals verzeihen?“ sagt sie und ringt die Hände. „Warum ließest du mich auf Lerum bleiben als dein Weib und versprachst mir, du wollest mir vergeben?“

Er weiß bei sich, daß er ihr nicht schaden will. Er kann nichts dafür, daß er jetzt an der Grenze seiner Nachsicht angelangt ist. „Sag den Nachbarn, was du willst,“ sagt er. „Ich schweige schon. Gib vor, es sei Wasser im Grabe, oder sage, es sei nicht Raum für mehr Särge als die von Vater und Mutter und meinen und deinen.“

„Und das sollen sie glauben?“

„Du mußt dir helfen, so gut du kannst,“ sagt er.

Er ist nicht böse, sie sieht, daß er es nicht ist. Es ist, wie er selbst sagt. Er kann sich darin nicht überwinden.

Sie rückt sich höher in den Stuhl hinauf, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und sitzt und starrt zum Fenster hinaus, ohne etwas zu sagen. Das Entsetzliche ist, daß es so viel im Leben gibt, was einen überwältigt. Vor allem ist es furchtbar, daß in einem selbst Mächte emporsteigen, die man nicht lenken kann. Vor einigen Jahren, als sie schon eine besonnene, verheiratete Frau war, kam die Liebe über sie. So eine Liebe! Es war nicht daran zu denken, daß sie sie hätte regieren können. Und was nun Gewalt über ihren Mann bekam, – war es Rachbegier? Er ist ihr nie böse gewesen. Er hat ihr sogleich verziehen, als sie kam und alles gestand. „Du bist von Sinnen gewesen,“ hat er gesagt und hat sie weiter als seine Gattin leben lassen.

Aber obgleich es ein leichtes sein kann, zu sagen, daß man vergebe, es mag doch schwer genug fallen, es zu tun. Vor allem ist es schwer für einen Mann, der tiefsinnig und schwerblütig ist, der niemals vergißt und niemals aufbraust. Was er auch sagen mag, in seinem Herzen sitzt etwas, das hungert und danach schreit, sich sättigen zu dürfen an eines andern Leid. Ein wunderliches Gefühl hat sie immer gehabt, als ob es besser gewesen wäre, wenn er damals so gezürnt hätte, daß er sie geschlagen hätte. Dann hätte er nachher wieder gut werden können. Nun geht er umher und ist mürrisch und verdrossen, und sie ist schreckhaft geworden. Sie geht wie ein Pferd an der Deichsel. Sie weiß, daß hinter ihr einer sitzt, der die Peitsche in der Hand hält, – wenn er sie auch nicht gebraucht. Und nun hat er sie gebraucht. Nun ist sie eine Verlorne.

Die Menschen sagen, daß sie nie einen Schmerz gesehen hätten, wie den ihren. Sie sieht aus wie ein Steinbild. In diesen Tagen vor dem Begräbnis weiß man nicht, ob sie wirklich lebt. Es ist unmöglich, zu wissen, ob sie höre, was man sagt, ob sie wisse, wer zu ihr spricht. Sie scheint keinen Hunger zu fühlen, sie scheint draußen in der bittern Kälte gehen zu können, ohne zu frieren. Aber die Menschen irren sich, es ist nicht Schmerz, was sie versteinert, es ist Angst.

Sie denkt nicht daran, am Begräbnistag daheim zu bleiben. Sie muß mit zum Friedhofe, sie muß mit im Trauergefolge gehen, mitgehen und wissen, daß alle, die dem Sarge folgen, glauben, daß die Leiche zu dem großen Sanderschen Grabe geführt werde. Sie denkt, daß sie unter der Verwunderung und dem Staunen, das sich gegen sie wenden werde, zusammenbrechen müsse, wenn er, der an der Spitze des Zuges schreite, ihn zu einem unbemerkten Grabplatz hinführen würde. Es werde ein Murmeln der Verwunderung von Reihe zu Reihe gehen, obgleich dies ein Leichenzug ist. Warum darf das Kind nicht in dem Sanderschen Grabe liegen? Man werde sich der ungewissen, unbestimmten Gerüchte erinnern, die einmal über sie im Schwange waren. Es müsse wohl irgend etwas hinter diesen Geschichten gewesen sein, wird man sagen. Bevor der Leichenzug vom Kirchhofe wiederkehre, werde sie gerichtet und verloren sein.

Das einzige, was ihr helfen kann, ist: selbst mit dabei zu sein. Sie wird da gehen, mit ruhigem Antlitz, wird aussehen, als ob alles in Ordnung wäre. Vielleicht werden sie dann glauben, was sie sagt, um die Sache zu erklären.

Der Mann fährt auch mit zur Kirche. Er hat alles geordnet: die Begräbnisgäste geladen, den Sarg bestellt und bestimmt, wer ihn tragen soll. Er ist zufrieden und gut, seit er seinen Willen durchgesetzt hat.

Es ist Sonntag, der Gottesdienst ist vorüber, und der Leichenzug stellt sich vor dem Gemeindehause auf. Die Träger legen die weißen Tragtücher über ihre Schultern, alle Standespersonen von Lerum gehen in der Prozession mit und ein großer Teil der Kirchenbesucher.

Während die Prozession sich ordnet, denkt sie, daß sie sich jetzt aufstellten, um einen Verbrecher zum Richtplatz zu geleiten.

Wie sie sie ansehen werden, wenn sie zurückkehren. Sie ist gekommen, um sie vorbereiten zu können, aber sie hat kein Wort über ihre Lippen gebracht. Sie kann nicht ruhig und besonnen sprechen. Was sie tun könnte, wäre: so heftig und laut zu jammern, daß man es über den ganzen Kirchenplatz hörte. Sie wagt die Lippen nicht zu regen, damit dieser Schrei nicht über sie hereinbreche.

Die Glocken beginnen sich droben im Turme zu rühren, und die Menschen setzen sich in Bewegung. Und jetzt kommt es, ohne alle Vorbereitung! Warum hat sie nicht sprechen können? Sie tut sich Gewalt an, um ihnen nicht zuzurufen, sie möchten nicht auf den Kirchhof gehen mit dem Toten. Ein Toter sei ja nichts. Warum sie vernichtet werden solle für einen Toten? Sie könnten ja den Toten hinlegen, wohin sie wollten, nur nicht auf den Kirchhof. Sie will sie vom Friedhof verscheuchen. Er sei gefährlich. Er sei voll Pestkeimen. Man habe Wolfsspuren auf ihm gesehen. Sie will sie schrecken, wie man Kinder schreckt.

Sie weiß nicht, wo dem Kinde das Grab gegraben ist. Sie erfahre es zeitig genug, denkt sie. Wie jetzt der Zug in den Friedhof hineinschreitet, blickt sie über das Schneefeld, um ein frisch aufgeworfnes Grab zu entdecken …

Aber sie sieht weder Weg noch Grab. Dort draußen ist nichts als ein ungefurchtes Schneefeld. Und der Zug geht zum Leichenhause hinauf. So viele nur können, drängen sich hinein, und dort wird die Beerdigungszeremonie vorgenommen. Es ist nicht die Rede davon, zum Sanderschen Grabe zu gehen. Keiner kann wissen, daß der Kleine, der nun zur letzten Ruhe eingesegnet wird, niemals in das Familiengrab gebettet werden soll!

Hätte sie das nicht vergessen in ihrem Entsetzen, keinen Augenblick hätte sie sich zu fürchten brauchen. „Im Frühling,“ denkt sie, „wenn der Sarg versenkt wird, ist wohl kaum einer außer dem Totengräber zugegen. Jeder wird glauben, daß das Kind im Sanderschen Grabe liege.“ Und sie begreift, daß sie gerettet ist.

Sie bricht in heftigem Weinen zusammen. Die Leute sehen sie mitleidig an.

„Es ist furchtbar, wie sie es sich zu Herzen nimmt,“ sagen sie. Aber sie selbst weiß am besten, daß sie Tränen weint, wie eine, die aus Not und Lebensgefahr entronnen ist …

Ein paar Tage nach dem Begräbnis sitzt sie in der Dämmerung auf ihrem gewohnten Platz im Speisesaal. Während das Dunkel einfällt, ertappt sie sich darauf, daß sie dasitzt und wartet und sich sehnt. Sie sitzt und horcht nach dem Kinde. Jetzt ist ja die Zeit, wo es hereinzukommen pflegt, um zu spielen. Wird es heute nicht kommen? Da fährt sie empor und denkt: „Es ist ja tot, es ist ja tot.“

Am nächsten Tage sitzt sie wieder in der Dämmerung und sehnt sich, und Abend für Abend kommt diese Sehnsucht wieder und wird immer mächtiger. Sie breitet sich aus, wie das Licht im Frühling, bis sie schließlich alle Stunden des Tages und der Nacht beherrscht.

Es ist ja beinahe selbstverständlich, daß ein Kind, wie das ihre, mehr Liebe im Tode empfängt als im Leben. Die Mutter hat, solange es lebte, an nichts andres gedacht, als daran, ihren Mann wiederzugewinnen. Und für ihn konnte das Kind ja nicht erfreulich sein. Es mußte ferngehalten werden. Es mußte oft fühlen, daß es ihm zur Last war. Die Gattin, die ihren Pflichten untreu geworden war, hatte ihrem Manne zeigen wollen, daß sie doch etwas wert war. Sie hatte unablässig in Küche und Webkammer gearbeitet. Wo hätte sich Platz für den kleinen Jungen finden sollen, mitten in dem allem! Und jetzt nachträglich erinnert sie sich, wie seine Augen zu bitten und zu betteln pflegten. Abends wollte er, daß sie an seinem Bette sitze. Er sagte, er fürchte sich im Dunkeln, aber nun denkt sie, daß das vielleicht nicht wahr gewesen sei. Er hat es gesagt, damit sie bei ihm bliebe. Sie erinnert sich, wie er dalag und gegen den Schlaf kämpfte. Jetzt begreift sie, daß er sich wach gehalten hat, um lange liegen und ihre Hand in der seinen halten zu dürfen.

Er ist ein pfiffiges Kerlchen gewesen, so klein er auch war. Er hat seinen ganzen Verstand aufgewendet, um auch ein bißchen von ihrer Liebe abzubekommen.

Es ist erstaunlich, daß Kinder so lieben können. Sie hatte es nie begriffen, solange er noch lebte.

Eigentlich fängt sie erst jetzt an, das Kind zu lieben. Jetzt erst fühlt sie sich berückt von seiner Schönheit. Sie kann sitzen und von seinen großen, geheimnisvollen Augen träumen. Es ist nie ein rosiges, rundwangiges Kind gewesen, es war zart und blaß. Aber es war wunderbar schön.

Es steht vor ihr als etwas wunderbar Herrliches, herrlicher mit jedem Tag, der geht. Kinder müssen ja das Köstlichste sein, was die Erde trägt. Man bedenke doch nur, daß es kleine Wesen gibt, die jedermann die Hand entgegenstrecken und von allen Menschen Gutes glauben, die nicht danach fragen, ob ein Antlitz schön oder häßlich ist, sondern das häßliche ebenso gern küssen wie das hübsche, die alt und jung lieben können, reich und arm. Und zu alledem sind sie wirkliche kleine Menschen.

Sie kommt dem Kinde mit jedem Tage näher und näher. Sie wünscht wohl, daß es lebte, aber sie weiß nicht, ob sie ihm dann jemals so nahe gekommen wäre wie jetzt.

Zuweilen gerät sie in Verzweiflung darüber, daß sie den Knaben nicht glücklicher gemacht hat, so lange er am Leben war. Darum ist er mir wohl genommen worden, denkt sie. Aber nur selten trauert sie in dieser Weise.

Sie hat sich früher vor Trauer gefürchtet, aber sie findet jetzt, daß Trauer nicht das ist, was sie sich gedacht hat. Trauern heißt ja: ein Vergangnes wieder und wieder erleben. Trauern heißt: sich in das ganze Wesen des Knaben hineinleben, ihn nun endlich zu verstehen. Diese Trauer macht sie sehr reich.

Am meisten fürchtet sie sich jetzt davor, daß die Zeit ihn ihr entführen könnte. Sie hat kein Bild von ihm, vielleicht könnten seine Züge in ihrer Erinnerung auslöschen. Jeden Tag sitzt sie da und prüft sich: „Sehe ich ihn, sehe ich ihn recht?“

Wie der Winter vergeht, Woche um Woche, ertappt sie sich auf der Sehnsucht, ihn nicht mehr im Leichenhause, sondern in die Erde gebettet zu wissen, damit sie zu dem Grabe kommen und mit ihm sprechen könne. Er soll gegen Westen liegen, da ist es am schönsten. Und sie wird seinen Hügel mit Rosen schmücken. Sie will auch eine Hecke haben und eine Bank. Sie will dort sitzen können, lange, lange.

Aber die Menschen werden sich ja wundern. Die Menschen sollen es ja nicht anders wissen, als wenn ihr Kind im Familiengrabe liege. Wie werden sie staunen, wenn sie sie ein fremdes Grab schmücken und dort stundenlang sitzen sehen! Was soll sie sich ausdenken, um es ihnen zu sagen?

Manchmal denkt sie, daß sie es auf diese Weise machen müsse: Zuerst zu dem großen Grabe gehen und dort einen großen Strauß niederlegen und eine Weile dort sitzen. Dann würde sie sich wohl zu dem kleinen Grabe hinschleichen können. Er würde wohl zufrieden sein mit dem einzigen kleinen Blümlein, das sie ihm heimlich zustecken könnte.

Ja, er könnte sich wohl damit begnügen, aber kann sie es? Es ist, als würde sie auf diese Weise in keine Gemeinschaft mit ihm kommen. Und er würde es dann erfahren, daß sie sich seiner schämte. Er würde begreifen, welche brennende Schmach es für sie gewesen war, daß er geboren wurde. Sie muß ihn schützen, damit er das nicht erfahre. Er soll glauben, daß das Glück, ihn zu besitzen, alles überwogen hätte.

Endlich weicht der Winter. Man sieht, daß es Frühling wird. Die Schneedecke schmilzt, die Erde beginnt sich zu zeigen. Noch währt es vielleicht ein paar Wochen, bis der Frost aus dem Boden zieht, aber man hat doch die Hoffnung, daß die Toten nun bald aus der Leichenkammer kommen. Und sie sehnt sich, sie sehnt sich.

Kann sie ihn noch sehen? Sie prüft sich jeden Tag, aber es ist im Winter besser gegangen: im Frühling will er sich ihr nicht zeigen. Da gerät sie in Verzweiflung, sie muß auf dem Grabe sitzen können, um ihm nahe zu kommen, um ihn sehen, ihn lieben zu können. Kommt er denn niemals in die Erde hinunter?

Sie hat nichts andres zu lieben, sie muß ihn sehen können, ihn sehen können, ihr ganzes Leben lang.

Mit einem Male verschwindet alles Zögern und aller Kleinmut vor ihrer großen Sehnsucht. Sie liebt, sie liebt, sie kann nicht leben ohne den Toten. Sie fühlt, daß sie auf niemand Rücksicht nehmen kann als auf ihn. Und als die Frühlingsfluten wirklich kommen, als auf dem Kirchhofe wieder Anhöhen und Hügel hervortreten, als die Herzen an den eisernen Kreuzen wieder zu klingen anfangen und die Perlenblumen in ihren Glaskasten leuchten, und als die Erde sich endlich dem kleinen Sarge öffnen kann, hat sie schon ein schwarzes Kreuz machen lassen, um es auf den Hügel zu pflanzen.

Quer über das Kreuz von Arm zu Arm steht mit deutlichen weißen Buchstaben geschrieben:

Hier ruht mein Kind

Und dann, darunter auf dem Kreuzesstamm, steht ihr Name.

Sie fragt nicht danach, daß die ganze Welt erfährt, was sie getan hat. Alles andre ist eitel; nur das eine liegt ihr am Herzen, ohne Trug beten zu können an ihres Kindes Grab.

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
28 eylül 2017
Hacim:
320 s. 1 illüstrasyon
Tercüman:
Telif hakkı:
Public Domain