Kitabı oku: «Der Zorn der Hexe», sayfa 7
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
Das klang freundlich, aber das Mienenspiel ihres Gesichts und ihre Augen verrieten, dass sie es keineswegs so meinte. Dieses Miststück wünschte wohl jedem die Pest an den Hals, was?
„Nein, danke. Ich hab alles, was ich brauche. Vielen Dank.“
„Gut. Wenn Sie mich brauchen, ich bin nebenan.“
Das sagte ihr Mund, doch der Rest ihres Körpers sagte: Wenn sie was brauchen, lassen sie mich bloß in Ruhe!
Sabine ließ sich von dem eigenartigen Unmut nicht ins Bockshorn jagen. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und säuselte süß: „Haben Sie nochmals vielen Dank“
Das Luder zog nur die Augenbrauen empor, machte kehrt und verließ den Raum. Sabine weinte ihr keine Träne nach. In ihrer Studentenzeit hatte sie für Weiber solchen Schlages nur einen Satz übrig gehabt: Die gehört mal wieder so richtig durchgefickt. Aber diese Zeiten lagen weit zurück, und seitdem hatte sich vieles verändert. Auch sie selbst.
Doch der Satz brachte noch etwas zurück in ihre Erinnerung, etwas, von dem sie meinte, es eigentlich längst überwunden zu haben. Der Drang nämlich, eine Zigarette zu rauchen. Als Studentin hatte sie die Dinger gefressen, und wenn sie erkältet gewesen war, hatte sie eben Mentholzigaretten geraucht. Hauptsache, es qualmte und stank. Wenn es das tat, war sie zufrieden.
Für diese Erinnerungen war sie der Frau böse, richtig böse. Ein Glück, dass sie erst dann überkommen hatten, als sie den Raum verlassen hatte! Vielleicht war es auch nur der Stress der letzten Tage, der ihr Fell dünner hatte werden lassen. Jedenfalls war sie froh, endlich allein zu sein.
Der Regen pladderte an das Fenster. Unter anderen Umständen und wenn noch im Kamin ein schönes Feuerchen gebrannt hätte, hätte es fast romantisch sein können. Doch das war es nicht. Und ihr stand auch nicht der Sinn nach Romantik.
Sabine schloss kurz die Augen, versuchte, ihren Kopf von derartigen sinnlosen Gedanken freizubekommenen, öffnete sie wieder und konzentrierte sich endlich auf ihr Anliegen.
Der Ordner lag vor ihr, in einem schlichtem Grün, das die Stadt wahrscheinlich zu Hunderten geordert hatte. Dennoch kam er ihr ein wenig so vor, als sei er der Heilige Gral und verspräche ihr das Ewige Leben. Nun, den Kopf freizukriegen, schien ihr noch immer nicht ganz gelungen zu sein …
Aber sie konnte nicht Ewigkeiten hier hocken bleiben und die Zeit vertrödeln, sie musste endlich den Arsch hochkriegen, den verdammten Ordner aufklappen und lesen, was in ihm stand! Konnte es tatsächlich sein, dass sie, trotz aller Mühen, die endgültige Gewissheit scheute? War das möglich?
Und da hatte sie ihn aufgeschlagen. Siehst du, Sabine, war doch gar nicht so schwer, was?
Das erste Blatt beinhaltete nur die Adresse und konnte somit getrost überblättert werden. Aber dann wurde es interessant. Und schmerzhaft.
In den Papieren stand etwas, an das sie lieber nicht hatte denken wollen. Sie blätterte von einer Seite zur nächsten, und dann plötzlich sah sie es. Und obwohl es ihre eigene Familiengeschichte war, war sie so überrascht, dass es ihr Tränen in die Augen trieb. Sie hatte es vermieden, alle die Namen zu lesen, die in allen diesen Zeiten geboren und wieder gegangen waren. Doch bei einem Namen war das anders. Obwohl sie ihn nicht gelesen hatte, blieb ihr Blick an ihm haften. Es war der Name ihrer Mutter. Als sie ihn sah, wurde ihr klar, dass sie darauf nicht vorbereitet gewesen war. In keinster Weise.
Der Name ihrer Mutter war Jennifer. Und da sie jetzt auch noch ihren Geburtsnamen las, wusste sie endlich, dass ihre Mutter eine Nachfahrin der Hexe war. Sie war es, die den Fluch weitergegeben hatte. Bislang hatte sie immer geglaubt, ihr Vater sei es gewesen. Doch das war ein Irrtum. Ihr Vater hatte bei der Hochzeit den Namen seiner Braut angenommen: Jennifer Harms, stand da, und dann das Geburtsdatum, der 27. Juli 1949.
Sie war also mehr als zehn Jahre jünger gewesen als ihr Mann, Sabines Vater. Der Todestag trieb ihr weitere Tränen in die Augen: 12. August 1972. Gerade einmal zwei Monate nach Sabines Geburt. Hatte ihr Vater nicht gesagt, sie sei plötzlich schwer krank geworden? War es nicht eher so, dass sie dem Fluch zum Opfer gefallen war?
Halt! Halt! Halt! Wir wollen doch keine voreiligen Schlüsse ziehen!, protestierte es energisch in ihrem Inneren. Dass es so gewesen ist, ist gar nicht sicher! Ebenso kann es stimmen, was dein Vater gesagt hat! Außerdem: Du bist nicht wegen deiner Mutter hier! Also reiß dich gefälligst zusammen und blättere endlich weiter!
Na also, geht doch.
Sabine blätterte schweren Herzens weiter. Und fand auf der nächsten Seite das, wonach sie gesucht hatte. Da stand er nämlich, der Name ihres Vaters. Und während sie ihn sah, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie bis eben den Geburtsnamen ihres Vaters nicht gekannt hatte. Sie hatte fälschlicherweise angenommen, ihr Vater sei es gewesen, der den Fluch weitergegeben hatte.
Patrick Harms, geborener Hauser, stand da. He, einen Moment mal bitte, ja? Wenn es nicht ihr Vater war, war es ja eigentlich völlig egal, ob er einen Bruder oder eine Schwester gehabt hatte, oder? Dann sollte ich vielleicht mal bei meiner Mom nachsehen. Und tatsächlich: Jetzt, wo ihr der Gedanke gekommen war, sah sie, dass bei ihrem Vater nichts weiter stand. Doch das war auch nicht weiter verwunderlich; er war ja nur angeheiratet. Wollte man mehr über ihn wissen, musste man die Chronik seiner Familie, der Familie Hauser, aufschlagen.
Sie blätterte wieder eine Seite zurück. Wenigstens war sie jetzt vorbereitet und wurde von dem, was da stand, nicht ganz so arg durchgewirbelt. Am 27. Juli 1949 war sie also geboren. Seltsamerweise hatte Sabine auch das bis eben nicht gewusst. Ihr Todestag war der 12. August 1972. Sie war noch jung gewesen, als sie hatte sterben müssen, gerade einmal dreiundzwanzig, das war kein Alter …
Sie las das Blatt bis zum Ende und las es dann noch einmal und dann noch einmal und schließlich sogar noch einmal.
Doch eine Antwort auf ihre Frage fand sie auch hier nicht. Sie musste woanders suchen. In der Familienchronik war sie schon richtig, aber da sie nach einer Schwester oder einem Bruder ihrer Mutter suchte, musste sie weiterblättern. Dann fand sie sie vielleicht auf einem anderen Blatt.
Sabine pflügte durch den Ordner, als gälte es, so viele Seiten wie nur möglich herauszureißen. Doch selbst dazu war sie zu aufgeregt. Sie zog und zerrte nur an ihnen, während sie hastig umblätterte.
Und dann hatte sie etwas gefunden. Aber es war ganz und gar nicht das, wonach sie gesucht hatte. Ihre Mutter schien ein Einzelkind gewesen zu sein. Absolut nichts deutete darauf hin, dass sie noch einen Bruder oder eine Schwester gehabt hatte. Aus den Unterlagen war ersichtlich, dass ihre Eltern, also Sabines Großeltern, nur ein Kind gehabten hatten. Nämlich Jennifer.
Da hatte Sabine schon aufgeben wollen. Doch sie blätterte noch einmal durch den ganzen Ordner, und endlich entdeckte sie die Wahrheit, die sie übersehen hatte. Bis jetzt hatte sie immer schnell geblättert, und da sie sich dabei auch noch auf die Daten ihrer Mutter konzentriert hatte, hatte sie das wirklich Interessante übersehen. Aber jetzt brannte es sich in ihre Augen. Sie starrte das Blatt an und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Auf diesem Dokument stand, dass sie, Sabine, einen Bruder hatte. Ihre Mutter war ein Einzelkind gewesen, zumindest deutete nichts auf etwas anderes hin. Aber sie selbst war es nicht. Sabine hatte einen Bruder. Und wie sie den Daten entnehmen konnte, war er knapp zwei Jahre älter als sie selbst.
Ihren Zustand mit einem Schock zu beschreiben wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie schlotterte am ganzen Leib und konnte einfach nicht glauben, was sie las. Sie, Sabine, sollte einen Bruder haben? Sie sollte tatsächlich einen Bruder haben?
An das, was dann geschah, konnte sie sich später nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie kramte mit zittrigen Händen in ihrer Handtasche nach einem Stift und einem Stück Papier, schrieb den Namen und das, was sonst noch über ihn stand, hastig ab mit Kritzelschrift, stand auf (wobei der Stuhl quietschend über den Boden rutschte) und stürmte aus dem Raum.
Draußen, auf dem Korridor, schien sie regelrecht zu schweben. Sie schwebte wie eine Feder im Wind auf den Fahrstuhl zu, und dann stand sie plötzlich wieder an der Rezeption, wo die freundliche alte Dame ihr etwas zurief, was sie nicht verstand. Sie hob wie zum Abschied die Hand, und dann war sie auch schon draußen, vor der Tür.
Der Regen musste noch zugenommen haben, denn er schmetterte die Tropfen mit brachialer Gewalt in ihr Gesicht. Der Wind hätte sie fast umgeworfen. Ja, einen Moment war sie drauf und dran, das Gleichgewicht zu verlieren, zu stürzen. Sie schwankte wie ein betrunkener Seemann auf Landgang.
Doch dann war sie plötzlich an ihrem Auto und saß schon darin. Alles kam ihr vor wie ein Traum. Die Zeit schien wie im Zeitraffer zu laufen: Eben noch war sie dort gewesen, und gleich darauf schon wieder anderswo, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Einen Moment dachte sie, sie müsste gleich schreien und im nächsten, sie müsste sich totlachen. Endlich fragte sie sich, warum sie eigentlich so durch den Wind war. Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. Zugegeben: Das, was sie gefunden hatte, wich von dem, was sie gesucht hatte, ganz schön ab. Aber, verdammt noch mal, wichtig war nur, dass sie eine Spur hatte. Es hätte auch ganz anders kommen können. Dann wäre sie genauso schlau gewesen wie vorher. Wäre das wirklich so toll gewesen?
Doch sich selbst solche Dinge zu fragen, war in etwa so, als versuche sie, einer Türklinke die Relativitätstheorie zu erklären. Sie begriff einfach nichts und dachte noch weniger. Ihr Kopf war wie leergepustet, wie ein Kürbis, dem man zu Halloween das Fleisch herausgeschabt hat und der nur noch eine Maske ist.
So vieles hatte sich verändert. Sie war kein Einzelkind mehr, sie hatte jetzt einen Bruder. Einen älteren Bruder. Sie hatte …
Sie hatte eine Aufgabe, verdammt noch mal. Eben weil sie einen Bruder hatte.
Nervös huschte ihre Hand in die Handtasche. Einen Moment glaubte sie, den Zettel verloren zu haben. Doch er war noch darin. Er raschelte zwischen ihren Fingern.
Der Regen prasselte gegen die Scheiben und auf das Dach, und hier drinnen klang es, als feuerte ein Maschinengewehr. Es platschte und knatterte. Allmählich beschlugen die Scheiben. Sabine konnte schon jetzt kaum noch etwas sehen.
Sie startete den Motor, schaltete die Klimaanlage an und blieb noch ein paar Minuten stehen. Der Motor brummte im Leerlauf, und mit der Zeit wurden die Scheiben frei. Trotzdem fuhr sie noch nicht los. Sie musste erst einen freien Kopf bekommen.
8. Kapitel
8. Kapitel
Der Regen wollte den ganzen Tag über nicht nachlassen und hielt an bis in die Nacht. Aber noch ehe der Morgen graute, ließ er nach, und gegen zehn schien die Sonne. Sie hatte es zwar anfangs noch schwer, sich gegen die schwarzen Wolken zu behaupten, aber je mehr Zeit verstrich, umso intensiver strahlte sie. Gegen Nachmittag, wenn es schon auf den Abend zugehen würde, würde vielleicht gar keine Wolke mehr am Himmel hängen. Doch das war Zukunftsmusik.
Für Sabine war das Wetter unwichtig. Es interessierte sie nicht im Mindesten. Sie hatte Wichtigeres im Sinn.
Da war zum einen die Sache mit ihrem Bruder. Bis gestern hatte sie nicht einmal etwas geahnt von seiner Existenz, und nun zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie ihn finden konnte. Zum anderen wusste sie plötzlich nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie ihren Bruder überhaupt aufsuchen? Oder war es vielleicht doch besser, sie ließ ihn sein Leben leben, ohne sich einzumischen? Auch, wenn das vielleicht hieß …
Na und? Passieren wird es ohnehin! Ob er es nun weiß oder nicht. Hast du dir schon mal überlegt, dass Unwissenheit vielleicht gar nicht so schlecht ist? Dass es vielleicht ganz gut ist, wenn es einen aus heiterem Himmel trifft? Was ich meine, ist Folgendes: Du setzt alles daran, ihn zu finden und ihn über diesen vermaledeiten Familienfluch aufzuklären. Dabei ist es vielleicht viel besser, er weiß davon gar nichts. Schicksalsschläge geschehen schließlich immer wieder, auch ohne Fluch: Unfälle ereignen sich, Krankheiten brechen aus, nahe Menschen sterben überraschend und, und, und. Verstehst du, was ich meine? Du bist so überzeugt davon, das Richtige zu tun, dass du vollkommen übersiehst, was Wahrheit bedeutet! Was sie heißt. Was sie verändert. Und vor allem, und das ist wohl das Wichtigste, wie sie schmerzt!
All dies geisterte Sabine im Kopf herum, und es klang alles ziemlich überzeugend. Sie, Sabine, hatte die Wahrheit unbedingt wissen wollen. Doch das hieß noch lange nicht, dass es bei ihrem Bruder auch so war. Vielleicht war er ja ganz anders gestrickt? Vielleicht wollte er von alldem gar nichts wissen und in aller Ruhe sein Leben weiterleben? Schließlich bestand diese Möglichkeit durchaus. Sie kannte ihren Bruder nicht. Vielleicht war er anders als sie. Vielleicht …
Verdammt, Sabine. Dieses ganze Gerede, vielleicht und wenn und aber … es hält dich nur ab und bringt dich nicht weiter! Triff eine Entscheidung! Aber überlege gut! Es kann schon begonnen haben. Dann bist du die einzige, die darüber Bescheid weiß!
Sie machte es sich nicht leicht. Sie dachte über alles nach und wog alles gegeneinander ab. Um ein Haar war sie drauf und dran, ihren Bruder sein Leben einfach leben zu lassen. Sie war kurz davor, die Sache zu vergessen und sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Was sie davon abhielt, war ein einziger Gedanke. Oder vielmehr eine Frage: Hatte er Kinder?
Bei dieser Vorstellung schauderte sie. Wenn dem so war, sah die Sache anders aus. Kinder waren unschuldig. Sie waren noch klein, sie sollten etwas vom Leben haben. Und, rein vom Logischen her, musste er Kinder haben. Schließlich musste, so makaber es auch klingen mochte, der Fluch fortgesetzt werden. Sie, Sabine, hatte keine. Blieb also nur er.
Schön und gut. Sabine hatte sich also insofern mit sich selbst geeinigt, dass sie etwas unternehmen musste. Blieb noch immer die Frage, wie dieses „etwas“ aussehen sollte. Was das anging, hatte sie keinen blassen Schimmer. Sie tappte im Dunkeln. Und wie es schien, würde das noch ein Weilchen so bleiben.
Sie saß nun schon seit längerem auf der Couch, hatte die Füße an sich gezogen, die Hände umfassten ihre Füße und hielten sie fest, die Knie waren nah bei ihrem Gesicht. So saß sie einfach nur da, ohne etwas zu tun. Und war erschrocken darüber, wie machtlos sie war. Selbst wenn sie ihn fand, machte das einen Unterschied? Würde es etwas nützen? Würde sich dadurch auch nur im Ansatz etwas ändern?
Wahrscheinlich nicht. Trotzdem musste sie etwas tun. Es war ihr Bruder, verdammt, nicht irgendein Familienmitglied, nein, ihr leiblicher Bruder. Sie hatten ein und dieselbe Mutter, und wenn die keine Dummheiten gemacht hatte, auch den gleichen Vater …
Sabines Kopf brummte wie ein Dieselgenerator. Wie oft hatte sie sich nun schon die Frage nach der Richtigkeit ihres Vorhabens gestellt? Wie oft? Und noch immer war sie zu keinem Entschluss gekommen.
Sie hielt das Stück Papier, das sie gestern in Eile geschrieben hatte, in den Händen wie eine vollgeschissene Windel, mit den Fingerspitzen, ein Stück vom Körper entfernt. Dennoch musste sie es in der Hand halten. Und sie musste es lesen, immer und immer wieder. Das Papier war schon völlig zerknittert, es sah inzwischen so ramponiert aus, als sei es durch tausend Hände gewandert. Dabei war es nur einen Tag alt.
Auf dem Zettel hatte sie ein paar interessante Dinge vermerkt. Allerdings war das nicht bewusst geschehen. Oh nein, sie hatte einfach alles aufgeschrieben, was sie in der Chronik gesehen hatte. Um es dann, zuhause, in sich aufzunehmen.
Dieser Moment war nun gekommen und schon wieder gegangen, und seitdem saß sie reglos auf der Couch, starrte Löcher in die Luft und machte den Eindruck einer geistig verwirrten Frau – zumindest von einer, die in Gedanken so weit von der Realität entfernt ist, dass man sie als durchgeknallt hätte betrachten können.
Doch Sabine war keineswegs durchgeknallt, und sie war auch nicht verwirrt. Sie war nur in sich gekehrt. Und das musste sie auch, schließlich hatte sie über etwas nachzugrübeln, was in seinen Auswirkungen so mächtig war, dass es nicht nur ihr Leben betraf, sondern auch das ihres Bruders und seiner Familie. Er hatte ganz gewiss eine Familie. Schließlich musste der Fluch ja weiterhin Bestand haben …
Das Brummen des Dieselgenerators in ihrem Kopf nahm zu; jetzt klang es wie ein vollgeladener Öltanker, der schwerfällig durch die Wellen der Ozeane pflügt.
Auf diesem Zettel, diesem dreimal verdammten Zettel, stand etwas, das sie gestern nicht registriert hatte. Entweder war sie dafür zu aufgeregt gewesen oder (das war das Wahrscheinlichste) oder sie hatte es einfach verdrängt, weil es zu viel für sie geworden war. Was es auch gewesen war: Es hatte einen Zweck erfüllt. Hätte sie es gestern schon gemerkt, hätte sie nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollte. Vielleicht wäre sie so überwältigt gewesen, dass sie schreiend durchs Haus gestürmt wäre.
Alles in allem war es gar nicht so viel, was da noch auf dem Zettel stand, nur ein Datum und die Adresse eines Kinderheims.
Diese Adresse war es, die ihr zu schaffen machte. Sie führte ihr nämlich etwas vor Augen: Alles, was sie in den letzten Tagen erlebt, an Eindrücke gesammelt, gedacht und gefühlt hatte, war real. Und alles lief auf eine bestimmte Sache hinaus. Nämlich, dass ihre Familie schon lange, schon sehr, sehr lange unter dem Fluch litt. Und dass sie, Sabine, leider nicht die erste war, die etwas dagegen zu unternehmen versuchte. Alles deutete darauf hin, dass auch ihre Eltern dagegen zu kämpfen versucht hatten. Warum sonst hätten sie ihren erstgeborenen Sohn weggegeben? Nur weil sie sich erhofften, ihn so in Sicherheit zu wissen!
Aber leider (und das hatte ihr Vater schließlich einsehen müssen) ließ der Fluch sich nicht so einfach austricksen. Das bewiesen die Lebensläufe der anderen. Sie verstreuten sich über den halben Erdball, hinterließen Spuren auf jedem Kontinent. Und das taten sie gewiss nur, um dem Fluch zu entkommen. Wahrscheinlich glaubte jeder, so wie auch Sabine, ausgerechnet er könne etwas dagegen unternehmen, das Verhängnis endlich beenden. Doch dem war nicht so, wie die Familienchronik bewies. Egal, wohin sie auch verschwanden, wohin sie auswanderten oder wie viele Meilen sie zwischen sich und ihren Geburtsort brachten: Am Ende war es immer der Fluch, der triumphierte.
Genau das machte ihr Angst. Bislang hatte sie geglaubt, sie sei die erste, die etwas dagegen tun wollte. Aber so wie es jetzt aussah, schien es, als sei der Kampf gegen den Fluch ebenso alt wie der Fluch selbst. Das aber war nicht das eigentlich Schlimme. Nein, das wirklich Entsetzliche war, dass sie nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatten. Sollte es tatsächlich so sein, dass es absolut nichts gab, was man unternehmen konnte? War alles immer schon zum Scheitern verurteilt?
Jeder andere hätte an dieser Stelle aufgegeben. Warum kämpfen, wenn man ohnehin verlor? Aber Sabine nicht. Sie war eine Kämpferin. Sie versuchte es selbst dann noch, wenn der Kampf längst verloren schien. Darum nagte diese Erkenntnis zwar an ihr, aber sie schaffte es nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Zu dem Datum stand nichts weiter. Aber sie vermutete, dass es entweder das Datum der Geburt ihres Bruders war oder der Tag, an dem er in das Kinderheim gebracht worden war. Egal, was es war: Es war auf jeden Fall eine heiße Spur.
Sabine kannte die Adresse inzwischen auswendig. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Heim. Zumindest malte sie sich aus, wie es aussehen mochte. Und zwar sollte es ein riesiges Schloss sein, mit zwei gigantischen Türmen, hoch in den Himmel ragend. Der Eingang war ein gewaltiges Tor, bewacht von einer Zugbrücke, die in der Nacht hochgezogen wurde, ein breiter Graben umgab das Schloss, und es lag in einem Wald, wo die Kinder spielten …
Doch dann ließ sie von diesem Bild, dieser Vision ab. Sie merkte, dass sie alles andere als realistisch war. In Wirklichkeit sah kein Kinderheim so aus. Im Gegenteil, es war eher wahrscheinlich, dass es eine sterile Kaserne war, mit Gittern vor den Fenstern und strengen Erziehern, die keinen Spaß an ihrer Arbeit hatten. Wenn sie es so sah, mochte ihr Bruder alles andere als eine Bilderbuchkindheit gehabt haben. Zumindest keine, um die sie ihn beneidete. Da stellte sich ihr noch eine Frage: Wie würde er es aufnehmen, dass sie, Sabine, so plötzlich aus dem Nichts erschien? Wie würde er reagieren, wenn sie ihm eröffnete, dass er zwar in einem Waisenhaus gelebt hatte, er aber keineswegs eine Waise gewesen war? Dass seine leiblichen Eltern sogar recht wohlhabend gewesen waren? Er hätte es gut haben können. Stattdessen hatte er seine Kindheit in einem Heim verbringen müssen, ohne Eltern, ohne Geschwister. Bestimmt würde er sich fragen, warum.
Da plötzlich tauchte in ihrem Denken noch etwas auf. Und dieses Etwas war hochinteressant. Es war die Frage, warum ihre Eltern sie, Sabine, nicht weggegeben hatten. Warum hatte ihr Vater sie unbeirrt großgezogen? Und nur zwei Jahre zuvor seinen einzigen Sohn weggegeben? Was hatte sich in dieser Zeit verändert? Was war anders geworden? Warum hatte er …?
Da beantwortete diese Frage sich von selbst. Es hatte sich tatsächlich etwas verändert. Etwas Verheerendes. Ihre Mutter, Jennifer, war gestorben. Sie war überraschend von ihm gegangen, und da hatte er nicht mehr weitergewusst. Gewiss war er verzweifelt gewesen. Und um nicht ganz allein zu sein, hatte er sie, seine Tochter, behalten. Vielleicht hatte er Angst gehabt, allein zu sein. Vielleicht hat er auch nur eingesehen, dass es egal war, ob sie woanders war oder bei ihm, weil am Ende der Fluch ohnehin siegte. Und da wollte er sie doch lieber bei sich wissen, als irgendwo ganz auf sich allein gestellt …
Doch noch einmal zurück zu der Frage, wie ihr Bruder dieses Wissen aufnehmen würde. Das konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Was sie aber wusste, war, dass sie es ihm unbedingt sagen musste. Falls er es nicht schon wusste … Die ganzen Wenns und Abers machten sie verrückt! Sei’s drum: Es gab wirklich Schlimmeres als so einen richtig schönen, hausgemachten Gehirndünnschiss, nicht wahr? Au ja, nämlich genau das, worin sie gerade steckte.
Sie nahm ihren Blick zum ersten Mal seit Stunden von dem Papier, und ihr wurde schwummerig vor Augen. Doch das legte sich schnell wieder, und nun sah sie aus dem Fenster. Der Wolkenbruch hatte auf den Scheiben Schlieren hinterlassen, doch die waren ihr egal. Wäre alles noch beim Alten, wie noch vor einigen Wochen, hätte sie jetzt wahrscheinlich die Fenster geputzt. Aber da das nun einmal nicht der Fall war, waren schmutzige Fenster nicht mehr wichtig.
Endlich erhob sie sich, allerdings schwerfällig wie ein Tattergreis. Ihre Knochen knackten wie trockene Zweige, und ihre Muskeln ächzten. Dennoch ließ sie sich von den Geräuschen nicht beirren und bewegte sie sich einfach weiter, ignorierte die Schmerzen, richtete sich auf. Dann stand sie da, starrte noch immer in Richtung Fenster und hatte damit zu tun, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Doch irgendwann ging auch das fast von allein, und sie konnte es riskieren, sich in Bewegung zu setzen. Sie musste noch einmal in den Keller und nachschauen, ob sie noch etwas fand, was ihr weiterhalf. Und wenn es nur einen Schnipsel gab. Es musste einfach etwas zu finden sein!
Warum ihr Vater sie nicht weggegeben hatte, gab ihr immer noch zu denken. Lag es wirklich nur daran, dass er nach dem plötzlichen Tod seiner Frau allein gewesen war? Oder gab es noch einen anderen Grund? Und wenn ja, welchen? Gewiss hatte es auch damit zu tun, dass er zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte, es sei egal, ob die Kinder bei ihm waren oder nicht; der Fluch würde sie ohnehin finden. Aber das war es bestimmt nicht nur allein. Nein, da war noch mehr. Mehr, als sie jetzt ahnte. Und darum musste sie noch einmal in den Keller. Auch, wenn sie es nicht wollte und am liebsten keinen Fuß mehr dorthin gesetzt hätte.
Nach mehr als drei Stunden intensiver Suche gab sie auf. Sie hatte nichts gefunden und war fix und fertig. Die Kopfschmerzen hatten zugenommen und hämmerten jetzt nicht mehr nur wie ein Dieselaggregat, sondern dröhnten und kreischten wie ein Bataillon Panzer. Und auch ihre Muskeln wollten nicht mehr. Sie fühlten sich an, als hätte sie einen Marathon hinter sich und bräuchte unbedingt ein paar Tage frei. Ihre Glieder zitterten vor Erschöpfung, und ihre Augen fielen schon fast von allein zu. Es war wirklich besser, wenn sie sich ein bisschen ausruhte. Sie konnte ja immer noch…
Genau, das konnte sie. Sie würde nur ein wenig ruhen, aber sie würde die Suche nicht aufgeben. Nur ein paar Stunden schlafen, ein bisschen an der Matratze lauschen und dann gestärkt wieder ans Werk gehen. Das würde ihr guttun.
Es blieb aber noch ein Problem. Sie war nämlich so fertig, dass es ihr unmöglich erschien, sich hinauf ins Obergeschoss zu schleppen. Hier unten bleiben wollte sie aber auch nicht. Eher würde sie sich quälen und die zwei Etagen meistern. So hatte sie zumindest gedacht. Doch das Ende vom Liedes sah anders aus: Sie schaffte es gerade einmal, sich aus dem Keller zu schleppen und bis in die Stube. Dann versiegte ihre Kraft. Doch wenigstens hatte sie es bis hierher geschafft und schlief nicht im dunklen Keller. Nicht, dass sie Angst hatte, es war eher ein beklemmendes Gefühl, wenn sie dort unten war. Sie war schon früher nicht allzu gern dort unten gewesen, aber seit ihr Vater dort unten gestorben war, hatte sie noch weniger das Verlangen, dort zu sein.
Bis zum Schlafzimmer fehlte ihr eine Treppe, das war eine Etage höher, aber man musste nehmen, was man bekam. So ziemlich alles war besser, als in der Dunkelheit zu liegen, die eigene Hand nicht vor Augen zu sehen und nicht zu wissen, was in der Finsternis kreuchte und fleuchte. Dann schon lieber die Couch hier in der Stube. Hier riskierte sie wenigstens nicht, dass sie wach wurde, weil irgendetwas über ihre Hand kroch, oder schlimmer noch, etwas Glitschiges nach ihr griff …
Kurz bevor Sabine einschlief, sinnierte sie, warum sie eigentlich im Keller gewesen war. Sie hatte es vor lauter Müdigkeit vergessen. Es war wichtig gewesen. Vielleicht aber auch nicht. Momentan war es ihr gleichgültig. Denn noch ehe sie diesen Gedanken weiterführen konnte, war sie auch schon eingeschlafen. Und ebenso schnell, wie sie eingeschlafen war, begann sie zu träumen.
Und sie träumte …
Sie lief durch dichten Wald. Der Weg war schmal und von Unkraut überwuchert. Er war fast nicht auszumachen. Das einzige, was ihn kennzeichnete, war der Umstand, dass hier keine Bäume wuchsen. Und auch die kamen ihr seltsam vor. Sie standen so dicht beieinander und waren so artenreich, wie sie es noch nie gesehen hatte: Da stand eine Buche neben einer Kiefer, eine Eiche wuchs im Schatten einer Fichte, und eine Tanne erhob sich neben einer Birke. In dem Wald herrschte einfach keine Ordnung. Und doch sah es aus, als sollte alles so sein, als hätte alles seine Richtigkeit. Vielleicht ja gerade, weil hier alles scheinbar aufs Geratewohl spross. Auch der Waldboden sah eigenartig aus. Da gab es Jungwuchs, der im Schutz der Bäume wucherte, Moos schimmerte an den mächtigen Stämmen, und Farne rankten sich wild an ihnen empor.
Sabine blieb einen Moment stehen und lauschte in den Wald hinein. Irgendwie kam er ihr befremdlich vor, gleichzeitig aber so, dass er ganz genauso aussehen musste. So und nicht anders. Geräusche schwappten ihr wie eine Welle entgegen: Unterholz knackte, Vögel zwitscherten, Spechte klopften. Und wie es neben und vor ihren Füßen raschelte!
Es war wunderbar. Und diese Luft. Ein Hochgenuss. Es machte Freude, sie einzuatmen.
Sabine setzte sich in Bewegung, während die Sonne ihr ins Gesicht schien und der leise Wind mit ihrem Haar spielte. Es war angenehm, hier zu wandern. Auch wenn sie gar nicht wusste, wo sie war. Doch das war egal. Warum sollte sie es wissen? Warum? Was änderte das?
Sie schlenderte den zugewucherten Weg entlang, und plötzlich hörte sie Stimmen. Sie drangen aus dem Nichts. Eben noch hatte sie nur die Geräusche des Waldes gehört, und jetzt kamen Stimmen dazu. Sie waren laut, so laut, dass sie die des Waldes verdrängten.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie stehen geblieben war. Aber nicht nur das, nein, sie machte ihren Hals lang und reckte ihren Kopf in die Höhe. Das überraschte und belustigte sie. Sabine hatte nicht mit Menschen gerechnet. Sie hatte geglaubt, dieses Paradies gehöre ihr allein. Na, da hatte sie sich offenbar getäuscht …
Sie lief weiter in Richtung der Stimmen. Sie waren ganz nah, mussten hinter der nächsten Anhöhe sein, die sich kaum zwanzig Schritte vor ihr erhob und gerade hoch genug war, um nicht drüber gucken zu können. Sie ging ohne Scheu auf sie zu und verringerte ihr Tempo. Sie tat es unbewusst, als hätten ihre Beine einen eigenen Willen. Ihre Schritte wurden langsamer und langsamer und setzten schließlich sogar aus. Also, das ist ja … da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt! Sabine war überrascht. Warum taten ihre Beine nicht, was sie sollten?
Und dann taten sie es doch. Sie liefen weiter, aber nicht so, wie Sabine es gewollt hatte. Sie führten sie vom Weg hinunter, in den Wald hinein. Was sollte das nun wieder? Nun begannen sie auch noch zu rennen, und Sabine konnte nichts tun, als zu parieren. Was ging hier vor? Sie rannte ungefähr dreißig, vierzig Schritte in den Wald, blieb kurz stehen, sah sich um, rannte noch einmal ein paar Schritte, scheinbar aufs Geratewohl, in irgendeine Richtung und warf sich in eine Senke. Also wirklich, nun war es aber genug!