Kitabı oku: «Die letzte Seele», sayfa 2
Der Weg dorthin war nicht allzu steinig. Genaugenommen ging es, bildlich gesprochen, fast nur bergab. Und so erfüllte sich sein Wunsch schneller, als es ihm lieb gewesen wäre. Anfangs spürte er nur diesen Schwindel, später dann wurden seine Glieder schwer wie Blei, und eine Sekunde später so leicht wie eine Feder. Immer abwechselnd. Kein unangenehmes Gefühl.
Wenig später (er hatte noch nicht mal fünf Zigaretten geraucht und sein Glas war noch halbvoll) musste er auf die Toilette. Über dem Pissoir war ein Fenster, das offen stand, und von dort strömte frische Luft herein. Sie fühlte sich gut an auf der heißen Haut. Sie kühlte, und außerdem senkte sie die Übelkeit. Aber die frische Luft hatte nicht nur Vorteile. Sie bewirkte auch, dass der Alkohol noch schneller in sein Blut gelangte, und das Ende vom Lied war, dass auf einmal (er stand noch am Pissoir und musste sich an der Wand stützen, um nicht der Länge nach auf die Fliesen zu knallen) alles um ihn herum schwarz wurde.
Das war’s. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Der Rest war Dunkelheit. Klassischer Filmriss.
Jetzt lag er auf dem Bett und glotzte an die Decke. Er hatte pochende Kopfschmerzen und verströmte einen stechenden Geruch. Es war sein Erbrochenes, das so stank. Er ekelte sich; er war außerstande aufzustehen. Wenigstens im Moment. Vielleicht scheute er auch den Anblick des Zimmers. Wer wusste, wie er das Haus in seiner Schnapslaune zugerichtet hatte? In seiner jetzigen Verfassung wäre es kein Wunder gewesen, wenn er es niedergebrannt hätte.
Das Bett war klitschnass, teilweise von seinem Schweiß, aber größtenteils lag es daran, dass er sich eingepisst hatte. Es kümmerte ihn nicht. Es war ihm schnurz, dass er in seiner eigenen Pisse lag, die kalt und nass auf seiner Haut klebte.
Er blieb noch eine Minute so liegen. Dann sammelte er alle seine Kräfte und richtete sich schwerfällig auf. Ein harter Job; er stöhnte. Sein Kopf schmerzte, als würde sein Hirn von tausend Nadeln durchbohrt, seine Haut glühte und schien zugleich aus Eis zu sein, er schwitzte und fror wie bei einem Infekt, und seine Knochen ächzten. Paul verfluchte sich, weil er so bescheuert gewesen war und so viel in sich hineingeschüttet hatte, und er schwor sich, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren.
Auf wackligen Beinen, die so weich waren wie Schokopudding, stand er da. Kurz überlegte er, sich einfach wieder rückwärts aufs Bett fallen zu lassen, entschied sich aber dann dagegen, weil er befürchtete (und das kam ihm in diesem Moment sehr plausibel vor), nie wieder aufstehen zu können.
Ihm war hundeelend zumute, er kam sich vor wie durch den Fleischwolf gedreht. Doch es gab auch etwas Positives: Mittlerweile hatten seine Beine nicht mehr die Konsistenz von Schokopudding, sondern fühlten sich fester an, etwa so wie Gummi. Mit hängenden Schultern schlich er ins Bad. Dort empfing ihn der nächste Kampf. Er musste dreimal auf den Lichtschalter schlagen, denn das verdammte Mistding wich immer aus. Als es ihm endlich gelungen war, den Flüchtling zu stellen, sah er, dass es vergebliche Mühe gewesen war: Das Licht erhellte den Raum nur spärlich, von außen fiel ja schon genug Tageslicht hinein. Er schlurfte in Richtung Spiegel, schaute hinein und bekam einen Schrecken. Er trug noch die Kleider von gestern Abend. Seine Augen waren blutunterlaufen und kaum größer als Schlitze. Seine Haut war gelb, und in Gesicht, Haar und Kleidung klebte Erbrochenes.
„Zeit für eine Dusche, alter Junge“, versuchte er sich zu motivieren. Entschlossen legte er die nassen, stinkenden Kleider ab und duschte.
Zehn Minuten später fühlte er sich schon besser; zwar nicht wie neugeboren, aber es würde reichen für den Anfang. Ein frisch aufgebrühter Kaffee wird das Übrige tun, dachte er und lief in die Küche. Während der Kaffee durch die Maschine lief, ging er noch einmal ins Schlafzimmer, um das Bett abzuziehen. Oh nein, er hatte nicht vor, es zu waschen. Wozu auch? Was sollte die Mühe? Es ging viel besser, die nassen Teile einfach zu entsorgen. Und er öffnete die Fenster. Paul hatte sonst keine empfindliche Nase, aber hier stank es wie in einer Kläranlage und das war sogar ihm zu viel.
Nur wenig später saß er am Küchentisch und trank langsam Kaffee. Essen konnte er noch nichts. Er wusste, dass er keinen Bissen runterkriegen würde.
Mittlerweile war es sechzehn Uhr achtzehn. An einem normalen Tag hätte er jetzt schon mehr als die Hälfte seines Arbeitspensums geschafft. Seit Monaten war er schon nicht mehr so faul gewesen. Aber er machte sich keine Hoffnung, dass dieser Tag produktiver sein würde als der letzte. Dazu war der Schmerz noch zu frisch, noch zu bissig.
Langsam führte er die Kaffeetasse zum Mund, und in diesem Moment spielte sich etwas vor seinem geistigen Auge ab, woran er schon seit wer weiß wie vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte. Die Erinnerung kam so plötzlich und jäh, dass er wie ein Stehaufmännchen vom Stuhl hochschnellte und die Tasse losließ, die scheppernd zerbrach. Er sah zu ihr hinunter und bemerkte die Splitter gar nicht, die in der schwarzen Flüssigkeit taumelten. Er war wie weg. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nur auf das, was vor seinem geistigen Auge ablief. Es war wie ein Film. Ein Film, in dem er die Hauptrolle spielte, aber gleichzeitig nichts zur Handlung beitragen konnte.
Er sah …
Wie die Sonne unterging! Fast so, als wolle sie noch nicht aufhören zu scheinen. Langsam, als tauche sie in dickes Gelee, versank sie am roten Horizont. Der Tag war heiß gewesen, fast zu heiß. Doch da die Hitze des Tages überstanden war und sich dieser Teil der Welt auf eine kühle Nacht vorbereitete, wurde es angenehm. Noch war es hell, doch der Abendhimmel war rot, und die Natur, die in der sengenden Nachmittagshitze eine Pause eingelegt hatte, erwachte wieder zum Leben.
Vögel segelten über die Kornfelder, immer nur um Haaresbreite über den prallen Ähren. Sie flogen übermütig umher, vollführten akrobatische Kunststücke und begrüßten die abendliche Kühle mit Gezwitscher. Die ersten Mücken verließen summend ihren Unterschlupf und machten sich auf die Suche nach Opfern. Nur vereinzelt schwebten Wolken am Himmel. Ein leichter Wind strich über die Weizenfelder, über denen noch eine letzte Hitze flimmerte und wiegte die gelben Ähren. Zwischen den Feldern duckte sich ein schmaler Pfad. Schmetterlinge flatterten umher und präsentierten ihre Schönheit: Ein Meer aus gelben Flügeln, roten Flügeln, weißen Flügeln, blauen Flügeln und den exotischsten Farbvariationen, die nur die Natur hervorzubringen vermochte.
Plötzlich schreckten sie auf und flogen davon. Noch immer lag der Weg verlassen, doch der Wind trug jetzt das Gemurmel von Stimmen heran. Nicht laut, aber auch nicht leise genug, um es zu ignorieren. Über einer Anhöhe, kaum dreihundert Meter entfernt, tauchten Köpfe auf, die wie Bälle über die Straße hüpften. Aus dem Stimmengemurmel wurde Gejohle, das sich mit Gelächter mischte. Eine Stimme, dem Klang nach die eines Mädchens, schrie: „Nimm deine dreckigen Finger von mir!“ Worauf eine andere, diesmal eindeutig die eines Jungen, laut lachte …
Die Verbindung riss kurz ab; Paul befand sich wieder in der wirklichen Welt, im Hier und Jetzt. Er war über die Bilder, die er gesehen hatte, geschockt, aber er wusste, was sie bedeuteten. Er begriff zwar nicht, wie, aber er wusste, dass er einen Blick in die Vergangenheit geworfen hatte. Und darüber war er schockiert, weil es das intensivste Gefühl war, das er je erfahren hatte. Gleichzeitig war es aber auch angenehm. Weil er sich genau erinnerte, was an jenem Tag noch alles gewesen war, umspielte ein Lächeln seine Lippen. Wie um ihm das zu bestätigen, flimmerte vor seinem geistigen Auge nun die Fortsetzung des Films (Ende des Werbeblocks – kommt vom Klo zurück, Herrschaften!).
Die Jugendlichen machten einen Lärm, als zöge ein Bataillon in die Schlacht. Es waren Pauls Jugendfreunde. Und er tummelte sich mitten unter ihnen. Nur eben vierundzwanzig Jahre jünger. Amüsiert registrierte er, wie aus seiner modischen Drei-Haare-Frisur, wie er sie scherzhaft nannte, wieder ein dichter Schopf geworden war. Die Unterhaltung wurde mit jedem Schritt lauter. Der Wind trug die Stimmen heran. Schnellen Schrittes liefen sie die Anhöhe hinunter und gackerten.
Paul wusste, wo sie hinwollten. Und er wusste auch, was an diesem Abend noch alles geschehen würde. Er stand da, mitten auf dem Feld, bis zu den Hüften im Korn, und beobachtete alles fasziniert. Es war ein Déjà-vu, aber gleichzeitig auch viel mehr als das. Es war viel realer, greifbarer, intensiver. Es schien gerade erst zu passieren. Nicht nur ein Kapitel aus der Vergangenheit, sondern so real und tatsächlich, wie es nur sein kann.
Paul holte Luft und versuchte das Wunder zu begreifen. Er roch das Getreide und den Duft des Sommers, sah den ehemaligen Freunden zu, die schon so nah waren, dass er mühelos ihre Gesichter erkennen konnte. Sie trugen die modischen Frisuren, die damals, Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger, der letzte Schrei gewesen waren.
Langsam setzte auch Paul sich in Bewegung. Er wollte den Anschluss an die Gruppe nicht verlieren. Er lief durch den Weizen, beschleunigte seinen Schritt, rannte fast, wobei die Ähren gegen ihn klatschten. Dann sprang er auf den Weg und schaffte es gerade noch, sich vor der Gruppe aufzubauen. Es war unfassbar, er stand keine fünf Meter vor ihnen und konnte jede Regung in ihren Gesichtern sehen. Er wollte sie ansprechen, sie fragen, wohin sie gingen.
Sie kamen näher. Paul streckte den Arm aus, wollte einen von ihnen an der Schulter berühren. Doch der Arm glitt einfach durch ihn hindurch, und sie liefen an ihm vorbei. Damit hatte er nicht gerechnet, obwohl es vielleicht zu erwarten gewesen war. Schließlich war es nicht real. Es waren nur Geister, Gespenster, Illusionen aus der Vergangenheit. Paul schüttelte sich, als wolle er eine Kälte auf seiner Haut abschütteln. Dann lief er eilig hinter ihnen her.
Er blieb etwa auf ihrer Höhe, um kein Wort zu verpassen.
Und dann tat er etwas, was er weder geplant noch bedacht hatte: Er kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an und lief durch die Gruppe hindurch. Warum er das tat, wusste er nicht. Er vermutete, dass es intuitiv geschah. Abermals griff Kälte nach ihm, doch intensiver als ein Windhauch. So mussten sich die Stürme auf der Venus anfühlen. Nicht nur die Kälte irritierte ihn. Er hatte für einen Moment den Eindruck, den Boden unter den Füßen zu verlieren, zu fliegen. Dann war es auch schon wieder vorbei, und er war durch sie hindurch.
Paul drehte sich um, öffnete die Augen und sah sich verdattert um. Er lief jetzt vor ihnen her; ihre Stimmen im Rücken hatten nichts von ihrer Fröhlichkeit eingebüßt. Er entschied sich, rückwärts zu gehen. Das war zwar einerseits beschwerlich, andererseits aber konnte er so wenigstens die Gesichter sehen, von denen er die meisten seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Während er das tat, versuchte er sich an die Namen zu erinnern und war entsetzt, dass es ihm nicht gelang. Waren vierundzwanzig Jahre denn eine so lange Zeit?
Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen. Ehe er sich davon ablenken lassen konnte, besann er sich und kam zu der Erkenntnis, dass es vielleicht normal war. Wer weiß, vielleicht erginge es den anderen, träfe er sie im realen Leben, ebenso? Er konzentrierte sich wieder auf die lärmende Meute vor ihm und war bemüht, höchstens zehn Schritte Abstand zu ihnen zu haben, um ihre Gesichter zu sehen. Er wollte die jugendlichen Gesichter in sich aufsaugen; wie ein Vampir das Blut seiner Opfer in sich aufsaugt, wollte er den Anblick der Jugend in sich aufnehmen.
Zwei Mädchen (sie sahen noch jünger aus als der Rest) kreischten angeekelt, als zwei Jungen, die vor ihnen liefen, ihre Hosen herunterließen und ihnen ihre nackten Hinterteile präsentierten. Der Rest kreischte so laut, dass das Kreischen der Mädchen darin fast unterging.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis es langsam wieder abebbte. Ein Junge, er trug einen Dreitagebart (wenn man den Flaum auf seiner Oberlippe so nennen wollte) sagte grinsend, als müsse er gleich wieder losbrüllen: „Oh Mann, oh Mann, hat einer von euch diesen Megapickel auf der Arschbacke gesehen? Das Ding war so riesig, dass er schon einen eigenen Mond hatte, der in einer Umlaufbahn um ihn kreiste. Igitt, wenn ich nur dran denke, muss ich kotzen!“
Wieder lachten alle. Sogar die beiden Mädchen.
„He, Jan“, schrie ein zweiter spöttisch, „ich will ja nicht in deiner Nähe sein, wenn die Dämme brechen! Der ist imstande und spült uns weg!“
Das Gelächter wurde noch lauter, und die Gesichter liefen rot an wie Hummer im Kochtopf. Nur eines nicht. Es wirkte vielmehr wie versteinert. Aha, kombinierte Paul, wenn mich nicht alles täuscht, ist der Bengel mit dem säuerlichen Gesichtsausdruck da besagter Jan und somit rechtmäßiger Besitzer des mächtigsten Pickels unter der Sonne. Auch Paul grinste, allerdings nicht halb so breit wie die anderen. Wahrscheinlich bin ich einfach zu alt für diese Scheiße, dachte er.
Das Gelächter schwoll immer mehr an, und der Junge, der den Grund dieses Freudenfeuerwerkes auf dem Arsch trug, es sozusagen ausgebrütet hatte, schien den Tränen nahe zu sein. Er stand da wie ein Häufchen Elend. Die Schultern hingen schlaff an ihm herunter, und seine Hände fuhren immer wieder über den Stoff seiner Hose. Die anderen konnten sich immer noch nicht beruhigen, und so bemerkte keiner von ihnen, dass ihm schon die erste Träne die Wange herunterlief. Das Licht der untergehenden Sonne reflektierte sich in ihr, und kurz meinte Paul, einen Regenbogen in ihr zu sehen. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er ein ganzes Farbspektrum in der Träne.
Vier oder fünf Minuten später war der Witz verflogen, und das Gelächter senkte sich langsam auf einen erträglichen Level. Und Jan heulte wie ein Schlosshund.
Jetzt erst bemerkten es die anderen und hielten inne. Sie näherten sich ihm, und die so plötzlich aufgetretene Stille war direkt unheimlich. Aber das war nur ein Moment, denn noch ehe man die Ruhe richtig begreifen konnte, wurde sie von einem herzzerreißenden Jammern unterbrochen. Die anderen sahen einander ratlos an, zuckten mit den Schultern und fragten sich flüsternd, was für eine Laus ihm über die Leber gelaufen war. Als sie schließlich bei ihm standen, wurde sein Jammern leiser, brach aber nicht ab.
Einer legte den Arm auf seine Schulter (Paul sah, dass er selbst derjenige war, der es tat) und fragte ihn: „Was ist mit dir?“
„Ich … ich … ich … ihr Arschgeigen macht euch immer über mich lustig!“ Jan schluchzte wieder.
„Was?“, fragte der vierundzwanzig Jahre jüngere Paul verdutzt, „und deshalb heulst du wie ein Weib?“
„Nana, ich muss doch bitten“, protestierte ein Mädchen. „Von uns hier jammert keine!“
Paul verdrehte die Augen. „Ach, vergiss es einfach.“
„Warum soll ich es vergessen? Los, dreh dich um! Ich rede mit dir!“
Sie ging langsam auf ihn zu. Doch noch ehe sie ihn erreichen konnte, boxte eine Freundin sie in die Seite und zischte: „Lass ihn doch! Verdammt, er versucht doch nur, die Heulboje zu beruhigen.“ Das leuchtete ihr ein. Paul konnte sich wieder um Jan kümmern.
„Hör mal“, begann er wieder, und das Jammern wurde eine Nuance leiser, „ich weiß gar nicht, warum du so eingeschnappt bist.“
„Na, weil … na, weil …“
„Jetzt krieg dich doch wieder ein, Menschenskind! Ist doch kein Weltuntergang, so ’n blöder Pickel auf ’m Arsch! Hatten wir alle schon mal, richtig, Jungs?“
Ein Raunen ging durch die Runde. Einer murmelte: „Na ja, ein gottverdammter Vulkan ist schon ein Scheißdreck gegen dieses Unikum“, und ein anderer, er schien der Älteste der Truppe zu sein, meinte: „Also, ich für meinen Teil pflege meinen Körper täglich mit Cremes und so `nem Zeug“, und noch einer murmelte etwas, das ungehört unterging.
„Siehst du“, fuhr Paul fort und tat, als hätte er die anderen gar nicht gehört, „ist alles kein Beinbruch. Jetzt wisch deine Tränen weg!“
Jan beruhigte sich.
„Jan, alter Junge, wir haben dich nur verarscht. Sollte nur ein Scherz sein.“
Das Schluchzen wurde leiser.
„Nun komm schon. Wir konnten ja nicht ahnen, dass du gleich so ein Drama draus machst.“
Das Schluchzen war jetzt zu einem Wimmern geworden. Der junge Paul setzte noch eins drauf: „Jetzt reiß dich aber mal zusammen, ja? Wir sind gleich auf dieser doofen Party und, mal ehrlich, willst du da mit tränenüberlaufenen Augen antanzen? Die Mädels riechen das zehn Meilen gegen den Wind! Dann kannst du gleich wieder abmarschieren, dann lässt dich nämlich garantiert keine mehr von ihrem Sahnetörtchen kosten, wenn du verstehst, was ich meine!“ Er grinste verschmitzt.
Hoffnungsvoll sahen alle Jan an.
Zwei, drei Sekunden passierte gar nichts. Paul fürchtete schon, sein Enthusiasmus war umsonst gewesen. Jetzt verstummte auch das Wimmern. Er sah ihn an, versuchte in den Augen Pauls zu ergründen, ob das auch stimmte. Doch eigentlich war es sonnenklar. Die Mädels wollten harte Kerle – solche, die mit dem rechten Arm Blumen für die Angebetete pflückten und mit dem linken Bäume mitsamt Wurzeln ausrissen. Solch Kerle wollten sie haben und keine Laschies. Und genau das wäre er in ihren Augen, wenn er seine Schleusen nicht bald wieder unter Kontrolle brachte.
Jan schniefte noch einmal, spuckte Rotz auf die Straße, kramte verlegen nach einem Tempo, fand sogar eins (Paul hätte um ein Haar gekotzt, als er es sah, es wurde nur noch von Popeln zusammengehalten) und wischte sich hastig die Tränen weg. Der jüngere Paul speicherte in seinem Gehirnhinterstübchen: Jan bei nächster Gelegenheit mal ein neues Taschentuch schenken.
Wenig später lief die Truppe weiter. Keiner verlor mehr ein Wort über das gigantische Furunkel. Zwanzig Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Einigen war es in dieser Zeit schwer gefallen, keine Witze mehr über einen bestimmten Körperteil mit einer seltsamen Erhebung zu reißen.
Sie standen auf dem Festplatzgelände des Nachbarortes und sahen sich um. Von überallher dröhnte Musik. Kinder liefen mit Luftballons in den Händen und tonnenweise Zuckerwatte im Gesicht vorbei. Sie waren auf dem Jahrmarkt. Über den Festplatz verteilt standen Karussells, Losbuden, Würstchenbuden und Eiswagen. Und vor jedem Stand pries der Inhaber lautstark seine Waren an: „Knackige heiße Würstchen! Knackige, heiße Würstchen! …Versuchen Sie Ihr Glück! Jedes zweite Los gewinnt! Versuchen Sie ihr Glück! … Lecker Eis für die Kleinen, probieren Sie! Nur fünfzig je Kugel! Probieren Sie! … Die Kinder lieben dieses Karussell! Nur einmal mitfahren und Sie sind begeistert!“
Es roch nach Pferdeäpfeln und frisch gemähtem Gras. Sie standen inmitten des Treibens und sahen sich ratlos an. Das, was sich um sie herum abspielte, war ganz und gar nicht, was sie erwartet hatten. Wie auf Kommando steckte sich jeder eine Kippe in den Hals, zündete sie an und versuchte cool auszusehen. Sie waren hier fehl am Platz. Sie trugen die falschen Klamotten. Sie hatten sich für eine Disco angezogen, nicht für einen Kindergeburtstag.
„Also“, begann einer (mit einem Mal konnte Paul sich wieder an seinen Namen erinnern), „entweder sind wir zu früh oder wir haben uns hier verlaufen.“ Jerome war sein Name, und Paul erinnerte sich deshalb so genau, weil sein Agent und späterer Freund genauso hieß – aber vor allem, weil dessen Gesicht so von Akne verunstaltet war, dass er sich wunderte, wie er ihn überhaupt hatte vergessen können. Soweit er sich erinnerte, hatte er sein Leben lang niemanden mehr gesehen, dessen Gesicht auch nur annähernd so von dieser Krankheit gezeichnet war wie das von Jerome.
Jerome zog einmal kräftig an seiner Zigarette, spuckte zu Boden und sah die anderen an. Auch sie wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten und blickten fragend zurück.
„Auch das noch!“, meinte Jerome missmutig. „Hat denn keiner einen Plan, wie’s weitergehen soll?“
Eines der Mädchen (sie hatte lange braune Haare, eine Brille und eine Spange, die bei jedem Wort blitzte) fragte: „Was haltet ihr davon, erstmal eine Kleinigkeit zu essen? Allmählich hängt mir mein Magen in der Kniekehle.“
Der ältere Paul war erstaunt, wie mühelos er sich jetzt an die Namen erinnern konnte. Sie drangen zwar noch zähflüssig zu ihm durch, doch mit jeder Sekunde kamen die Erinnerungen schneller. Das Mädchen hieß Gamelia und wäre heute so alt gewesen wie er selbst. Doch sie hatte das Pech gehabt, einmal zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein: Sie war bei einem Schiffsuntergang ums Leben gekommen. Das Tragische an der Geschichte war, dass sie die Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte. Gamelia, ein ungewöhnlicher Name. Paul hatte seinerzeit davon in der Zeitung gelesen und schon damals bestürzt festgestellt, dass er bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an sie gedacht hatte. Da sie in die selbe Klasse gegangen waren, hatte er an der Beerdigung teilgenommen, ihr das letzte Geleit gegeben. Danach war er in seinen schwarzen Volvo geklettert, hatte sich die Krawatte abgerissen, sie auf die Rückbank gepfeffert und Gamelia wieder vergessen bis … bis heute. Auf einmal plagte ihn so etwas wie schlechtes Gewissen. Doch für diese Art von Gefühlen war jetzt keine Zeit.
Sie standen vor einer Würstchenbude und mampften zufrieden vor sich hin. Keiner sagte etwas.
Auf einmal begann Jan zu lachen. Er lachte so heftig, dass die Hälfte seines Würstchens in hohem Bogen davonflog. Die anderen sahen ihn fragend an. Er konnte nichts sagen, er konnte ihnen nur durch Kopfnicken verständlich machen, dass sie sich umdrehen sollten. Sie taten es und schlossen sich sogleich seinem Lachen an.
Hinter ihnen stand ein großes Werbeplakat, und eine Horde Kinder stand davor. Vielmehr standen sie um einen Erwachsenen herum, hatten ihn förmlich eingekesselt, und der Erwachsene machten ein gestresstes Gesicht, als wüsste er nicht, wo ihm der Kopf stand. Sie tänzelten um ihn wie Indianer um den Totempfahl und kicherten und gackerten, als wäre das Leben ein einziges Wunschkonzert. Im Gesicht des Eingekesselten konnte man lesen wie in einem Buch. Er hatte Mühe, den Ameisenhaufen ruhig zu halten und schien auch nicht mehr viel Geduld zu haben. Er war ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Die Kinder ließen sich davon nicht aus der Hektik bringen und machten weiter, was dem Mann die Zornesröte ins Gesicht trieb. Er kaute nun schon auf der Luft in seinem Mund herum.
Doch eigentlich war dieses Treiben nur Nebensache. Die Jugendlichen interessierten sich mehr für das Werbeplakat. Vielmehr für das, was es in großen schwarzen Buchstaben verkündete:
Sonnabend, den 26.07.1978
Diskothek am Abend
Große Festwiese
Beginn: 21.30 Uhr
Einlass: 21.00 Uhr
Eintritt frei
Und in der linken unteren Ecke das Wichtigste von allem. Der Hauptgrund, warum vor allem die Jungen Feuer und Flamme waren:
Striptease kurz nach Mitternacht
Naomi lässt alle Hüllen fallen
Der junge Paul sah auf seine Armbanduhr. Er war der einzige, der eine trug und verkündete mit gewichtiger Stimme: „Gleich zwanzig Uhr fünfundvierzig.“ Die anderen nickten zustimmend. Die restlichen paar Minuten würden sie auch noch irgendwie totschlagen.
Auf einmal wurde es schwarz vor Pauls innerem Auge. Doch nur für einen kurzen Moment, denn einen Augenblick später zeichneten sich bereits wieder erste Konturen ab. Sie waren verschwommen, wurden klarer, verschwammen wieder und wurden wieder klarer, als könne jemand sich nicht entscheiden, welche Brille er nehmen soll. Schließlich blieben sie klar.
Es war jetzt um einiges dunkler, und Paul brauchte keine innere Uhr, um zu wissen, dass die Party bereits in vollem Gange war. Die Musik dröhnte, etwas Rockiges. Paul kannte den Song, der Name war ihm momentan aber entfallen. Garantiert was von den Stones. Er nahm sich vor, wenn er wieder in der Realität, in seiner Zeit war, unbedingt in seiner CD-Sammlung nachzusehen. Er war überzeugt, den Song dort zu finden. Es roch nach Alkohol und Erbrochenem.
Die Disko fand unter einer riesigen Zeltplane statt. Man wollte schließlich sichergehen, dass das Fest nicht durch einen Wolkenbruch ins Wasser fiel.
Das Herz des älteren Paul setzte vor Vorfreude einen Moment aus und schlug dann mit doppeltem Tempo weiter. Seine Hände waren schweißnass. Er wusste, dass es jeden Moment soweit sein würde. Gleich würde das geschehen, warum er, seiner Vermutung nach, hierhergekommen war.
Der vierundzwanzig Jahre jüngere Paul saß an der Bar und hielt sich an einem Bier fest. Er war noch nicht betrunken, aber schon angeheitert. Die Freunde hatten ihn vor einiger Zeit alleingelassen. Sie waren entweder tanzen oder in irgendeiner Ecke beim Knutschen. Er hatte sich diesen Abend anders vorgestellt und war betrübt. Aber bei weitem nicht genug, um den Kopf komplett hängen zu lassen. Warum auch? Es war Sommer, er war jung, und der Abend gehörte ihm. Da störte es auch nicht, dass er allein hier saß und Bier trank. Er schnippte die Zigarette weg, trank und zündete eine neue an. War das Leben nicht wunderschön? Dann sah er gelangweilt auf die Armbanduhr. Die Zeiger verkündeten, dass es zehn vor zwölf war.
Von der Tanzfläche (wenn man das so nennen konnte, es waren nur Holzplatten so auf dem Boden verteilt, dass sie eine zusammenhängende Fläche bildeten) kam einer der Freunde auf ihn zugewankt. Er hatte schon ein paar mehr intus als Paul, und das sah man auf den ersten Blick. Seine Augen waren glasig, sein Gang nicht mehr sicher, und er grinste bescheuert. Obwohl er nicht mehr nüchtern war, hatte er mehr Spaß als Paul. Unter jedem Arm hatte er ein Mädchen untergehakt. Sie waren zwar keine Schönheitsköniginnen, aber ihm schien das gleich zu sein. Paul dachte an das Sprichwort: Im Suff sind alle Frauen schön. Auch die Begleiterinnen hatten schon Mühe, aufrecht zu gehen.
„Paulchen“, lallte der Freund, als er sich mit seiner Begleitung vor ihm aufbaute, „darf ich dir diese beiden entzückenden Täubchen vorstellen?“ Er deutete mit Kopfnicken nach rechts. „Dies reizende Geschöpf hier ist Ophelia. Ist Ophelia nicht ein wunderschöner Name?“
Paul nickte zustimmend. Nicht, weil er von dem Namen so angetan war (um ehrlich zu sein, fand er ihn scheußlich), sondern weil er nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Während sein Gegenüber ihn darüber informierte, dass das zarte Geschöpf auf der linken Seite Natascha hieß, sann er noch immer darüber nach, wie es sein konnte, dass er, Paul, hier noch immer allein saß und sein besoffener Freund bereits Anhang hatte, sogar das Doppelte von dem, was ihm zustand. Was mache ich nur falsch, fragte er sich und trank den letzten Schluck Bier.
Sein wackliger Freund war kaum zur Stelle, da hatte er auch schon Bier bestellt: eines für sich, eines für Paul und natürlich auch für seine Damen. Und noch ehe Paul sich bedanken konnte, wurde er mit den vier Bier alleingelassen. Der Freund verschwand einfach wankend, wie er gekommen war. Er schien die Bestellung vergessen zu haben.
Paul sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Aber da er offenbar Wichtigeres zu tun hatte (und das hatte er garantiert, wenn man sah, wie begeistert er die Zunge mal der einen, mal der anderen in den Mund steckte), kümmerte er sich nicht mehr um ihn. Er würde das schon allein schaffen. Derartig beruhigt, widmete er seine Aufmerksamkeit den vier Biergläsern, die nur darauf warteten, getrunken zu werden. Nur fünf Minuten später hatte er bereits das erste geleert und schickte sich an, die Finger nach dem zweiten auszustrecken, als seine Hand plötzlich blieb, wo sie war – in der Luft hängend, wie auf einem Foto.
Seine Augen waren über die Tanzfläche gewandert, von dort zum Ausgang, wo gerade eine wüste Schlägerei entbrannte und von dort zur Bar gegenüber. Und genau in diesem Moment war die Bewegung erstarrt, als wäre er zu Stein geworden.
Der ältere Paul verlor den Boden unter den Füßen, und während er fiel, merkte er, dass sein Herz raste, sein Blut kochte, seine Muskeln zum Zerreißen gespannt waren, seine Nerven vor Aufregung zitterten und sogar sein Atem aussetzte. Obwohl er gewusst hatte, was ihn erwartete, war es, als es schließlich geschah, einfach zu viel für ihn. Und während ihm das noch durch den Kopf ging, kehrte er wieder auf den Jahrmarkt zurück, und das war ohne Zweifel ein Glück für ihn, so bemerkte er wenigstens die unsanfte Landung nicht.
Der jüngere Paul saß noch immer so da, er hatte sich keinen Millimeter bewegt. Seine Hand hing ungefähr fünfzehn Zentimeter vom Bierglas entfernt in der Luft. Das einzige an ihm, was sich geändert hatte, waren seine Augen. Die waren so groß wie Scheunentore und glotzten ungläubig an die Bar. Und mit einem Mal war es still um ihn. Nur weit hinter ihm, es schien am anderen Ende des Universums zu sein, dudelte leise Musik.
Das erste, was er sah, waren diese langen, blondgelockten Haare. Sie leuchteten heller als die Sonne. Eine einzelne Strähne war schwarz gefärbt und hing ihr mitten übers Gesicht. Sie hatte vereinzelt kleine Sommersprossen (er fragte sich einen Moment, wie es möglich war, dass er all diese Kleinigkeiten aus dieser Entfernung entdeckte), und Paul sah, dass ihre Augen ruhelos mal hierhin, mal dorthin wanderten. Auch sie konnte er genau sehen. Sie waren grün und, in der linken oberen Pupillenhälfte war ein kleines braunes Dreieck. Er hatte etwas Derartiges noch nie zuvor gesehen.
Jetzt sah sie ihn direkt an.
Vor Schreck blieb Paul die Spucke weg. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er wusste noch nicht einmal, ob er den Mut hatte, ihrem Blick standzuhalten. Er kam sich vor wie ein scheues Reh, das in die Gewehrmündung des Jägers blickt. Und während ihm dieser Vergleich in den Sinn kam, sah er hastig zu Boden und schimpfte sich einen Idioten. Super, echt erste Sahne, das hast du mal wieder großartig hingekriegt! Phänomenal! Ohne Scheiß, da kann man nicht meckern! Kannst stolz auf dich sein!