Kitabı oku: «Gotthardfantasien»
Inhaltsverzeichnis
Warum Gotthardfantasien? Eine Einführung
Boris Previšić
INFRASTRUKTUR, NATUR
Gefährdete Gotthardpost Literarische Abschweifungen in die schweizerische Katastrophenkultur
Peter Utz
Door to Door
Nora Gomringer
Unterwegs mit der Gotthardbahn um 1900. Die Kirche von Wassen und die Inszenierung von Landschaft
Daniel Speich Chassé
Ab nach Paradiso – Ein Reisebericht
Michael van Orsouw
Die neuen Postillione Erzählpassagen am Gotthard
Alexander Honold
Warum der Gotthard so wichtig ist. Der Einklang von Ursprung und Fortschritt als nationaler Traum
Peter von Matt
Heidelbeeren und der heilige Antonius
Verena Stössinger
Bahntechnik Gotthard-Basistunnel. Vision und Verwirklichung eines Grossprojekts
Lars Dietrich
Die Polyfräse
Peter Weber
KONTRAPUNKTE
Der Gotthard im russischen kulturellen Gedächtnis. Die Alpenüberquerung Suvorovs (1799) als Erinnerungsort
Frithjof Benjamin Schenk
Hannibals Manöver in den Wolgasteppen. Brodsky tunnelt Suvorov
Jens Herlth
denkmal / im sandkasten
Katharina Lanfranconi
Ein Gotthard auf dem Balkan? Wie sich die Schweiz von der südslawischen Romantik inspirieren lassen kann
Anna Hodel
Sasoun. Mythos eines armenischen Bergréduits
Elke Hartmann
Über den Gotthard
Arno Camenisch
Vom «Felsenthron Europas» zum neuen Kanton Tessin. Gotthard-Reisen von 1770 bis 1800
Thomas Fries
«Kennst du das Land?» Goethes transalpine Rätsel
Daniel Müller Nielaba
Auf der Gotthardstrasse. Vom Dach Europas zum Zentrum der Erde
Luigi Lorenzetti
Brüllt der Stier oder der Ochs?
Iso Camartin
BILANZEN, SZENARIEN
Der Schatten des Passheiligen, das letzte Wort des heiligen Gotthard und was daraus wurde. Eine historische Miniatur
Pirmin Meier
Der San Gottardo, Leid und Freude des Tessins. Ein Transitweg zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen
Marco Marcacci
Das Wunder von Ambrì. Ein Dorf, ein Hockey-Team und ihr unvermuteter Beitrag zur Integration von Inländern
Nenad Stojanović
Die Gotthard-Region – schwarzes Loch oder globaler Exportschlager? Zur divergierenden Wahrnehmung der Berge in der Schweiz nach 1970
Jon Mathieu
hoher berg
Katharina Lanfranconi
Wege zum Gotthard-Mythos
Guy P. Marchal
Gotthard-Mythen und Geschichtspolitik. Kontinuitäten und Gegennarrative
Damir Skenderovic
Berg unter, oder wie der Gotthard auf die Malediven kam. Ein Prozess
Walter Leimgruber
Fragmente aus Gotthard Super Express
Matteo Terzaghi
Klaus Schädelin, Yoko Tawada, Hermann Burger. Literarische Gegenkonstruktionen am Gotthard
Boris Previšić
Autorenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Warum Gotthardfantasien?
Eine Einführung
Boris Previšić
2015 wurde die Geschwindigkeit der Versuchszüge im Gotthard-Basistunnel Stufe um Stufe erhöht. Die konstante Beschleunigung im Tunnelinnern konkretisiert den abstrakteren Vorgang der Modernisierung, der Automatisierung, der Vernetzung, des unbeschränkten Waren- und Personenverkehrs in einem Ausmass, wie es die Menschheit von Beginn der Industrialisierung bis in unsere Tage noch nie gekannt hat. Der Gotthard-Basistunnel ist zugleich Motor wie Symptom unserer Zeit. Er bricht mit seinen 153,3 Kilometern ausgebrochenen Tunnels unzählige Rekorde.1 Der Alpenbogen, das grösste geologische, topografische und meteorologische Hindernis, das Wasserschloss, aber auch die Kulturgrenze zwischen Norden und Süden Europas, wird erstmals ohne Höhenüberwindung technisch untergangen. Dennoch stehen wir vor einem Dilemma: Es hat sich noch nicht eine «Geschichte im Sinn eines etablierten Narrativs und eines in unseren Köpfen lebenden Geschichtsbildes» entwickelt.2 Wie kann das Abstrakte, vielleicht auch das unheimlich Unfassbare dieses Riesenbauwerks, dessen Ausbruchmaterial einen Güterzug von der Strecke von Luzern nach New York füllt, überhaupt erzählt werden? Gerade heute sind wir dazu angehalten, Sinnangebote zu konstruieren und anzubieten. Die Erzählung muss für ihre Sinnhaftigkeit perspektiviert werden – im Unterschied zum Mythos, der wie schon der Sirenengesang dem Odysseus uns vielleicht am verlockendsten erscheint.
Mythos
Der Mythos bringt die kohärenteste Erzählung hervor. Spricht man von Mythos, geht es nicht um die umgangssprachliche Unterscheidung zwischen falscher und richtiger Geschichte, sondern um eine mythentheoretische Einordnung des Gotthards. Weil Mythostheorien auf viele verschiedene Gegenstandsbereiche der Ethnologie, der Altertumswissenschaften, der Gegenwarts- oder der Alltagsgeschichte abzielen, fallen sie entsprechend unterschiedlich aus.3 Folgt man der Unterscheidung von Mythos und Geschichte durch den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, so ist die Geschichtsschreibung als offenes System zu verstehen, welches die Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft darlegt. Die Mythologie hingegen funktioniert statisch als geschlossenes System. Ihr geht es um Kohärenzbildung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.4 Lévi-Strauss spricht in diesem Fall von narrativer Bricolage zwischen Geschichte und Mythologie, Guy P. Marchal von «Gebrauchsgeschichte». Roland Barthes unterstreicht, dass der Mythos Geschichte in Natur umformt, naturalisiert (in der französischen Doppeldeutigkeit von Naturalisierung und Nationalisierung) und somit im alltagskulturellen Kontext nicht mehr hinterfragbar macht.5
Die Anfänge einer Gotthardmythos-Genealogie sind in der Aufklärung anzusetzen – zu einem Zeitpunkt, als Mitglieder der «ersten gesamtschweizerischen Vereinigung, der Helvetischen Gesellschaft» auf der Basis einer Tugendphilosophie nach Rousseau den homo alpinus als den guten Wilden schufen. Dabei stützte man sich auf ausgewählte Literatur über die Alpen, die angesichts eines einsetzenden deistisch grundierten Erhabenheitsdiskurses ins Blickfeld der Aufklärer gelangten. Dazu sind in erster Linie Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), Albrecht von Haller (1708–1777) und Johann Caspar Lavater (1741–1801) zu zählen.6 So fanden erst im 18. Jahrhundert die Alpen richtig Eingang ins Imaginationsarsenal der Alten Eidgenossen. Der richtige Schweizer sei nur in den Alpen zu finden. Und so hat das «Schweizeralpenland» «bis heute seine Decodierbarkeit und damit seine Wirkung behalten». Nirgends kam es «zu einer dermassen wirksamen Kombination von Geschichte und Alpen […] wie in der Schweiz».7 Umso erstaunlicher ist es, wie spät das breitenwirksame Nation Building, die «Narration of Nation»,8 einsetzt und sich in entsprechenden Denkmälern niederschlägt. Erst 1859 und somit zwölf Jahre nach dem Sonderbundkrieg kam das Rütli als Symbol des neu entstandenen Bundesstaates in den Besitz der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft; erst 1879/80 wurde die Tellskappelle, wie wir sie heute kennen, errichtet. Die Verbreitung von nationalen Standards konnte erst mit einer gewissen zeitlichen Distanz zu den innerhelvetischen Zerwürfnissen einsetzen und fiel just in jene Jahre, in denen man den Gotthard-Scheiteltunnel plante, ausbrach und in Betrieb nahm. Dass der Gotthard in einem breiteren öffentlichen Bewusstsein überhöht werden konnte, war der Koinzidenz von nationaler Symbolpolitik und technischer Errungenschaft geschuldet. Der Gotthard als Kultur- und Wasserscheide, als Ursprung von vier wichtigen Flüssen; der Gotthard als Zentrum der Schweiz, der Gotthard als Zentrum der europäischen Kulturen.
Dem Gotthard kommt exemplarische Bedeutung zu, da Staatsgründungs- und Technikerzählungen miteinander verschränkt werden. Die Kohärenz des Gotthard-Mythos kulminiert in der Geistigen Landesverteidigung, in welcher ländliche Ursprünglichkeit und technischer Fortschritt eine einzigartige Symbiose bilden.9 Zwar formuliert Ernst Cassirer seinen Mythus des Staats (1949) im Hinblick auf das Aufkommen des totalitären modernen «Mythus» im nationalsozialistischen Deutschland. Dennoch gilt die «Technik der modernen politischen Mythen»10 auf eigenartige Weise auch für die Schweiz in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. So erreiche der Mythus «seine volle Kraft, wenn der Mensch einer ungewöhnlichen und gefährlichen Situation begegnen muß».11 Selbst in indigenen Gesellschaftsformen werden Mythen nur punktuell und gezielt eingesetzt, wo «ein Geschäft» «gefährlich und sein Ausgang ungewiß ist».12 Die subjektiv empfundene Bedrohungslage in der Schweiz, eingeklemmt zwischen dem totalitären Deutschland und Italien, ist nicht zu unterschätzen – vielleicht weniger in strategisch-militärischer als in ideologischer Hinsicht. Auch die Schweiz war anfällig für antidemokratische Ideen. Während aber der nationalsozialistische «Mythus der Rassen» in Deutschland im Alltag Fuss fassen konnte, musste die Schweiz auf ein anderes ideologisches Versatzstück zurückgreifen.
Es musste eine «emotionale Atmosphäre» geschaffen werden, in welcher Worte Gefühle erzeugen. Gleichzeitig kommt diesem Mythos Alleinstellungsmerkmal und Alleingültigkeit zu. Man kann sich in etwa ausmalen, welche Vorstellungen und Gefühle Begriffe wie Alpen, Granit, Gotthard zunehmend erzeugen mussten – bis hin zu «semantischen Analogien […] zwischen dem Klischee der bankgeheimnisgehärteten Vermögensbastion der Steuerflüchtlinge und der stereotypen Bilderwelt der Alpen als eines natürlichen Fortifikationssystems».13 An einer Überhöhung des Gotthards arbeitete der Fribourger Schriftsteller und (Literatur-)Historiker Gonzague de Reynold schon seit dem Ersten Weltkrieg und wurde dadurch nicht nur zum Lehrer des wertkonservativen Bundesrats der Geistigen Landesverteidigung Philipp Etter mit der «Botschaft des Bundesrates über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung» – als Bundesbeschluss im April 1939 vom Parlament genehmigt –, sondern auch zum Mitglied der im selben Jahr gegründeten Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.14 Sein Gedankengut einer «Nationalen Revolution»15 brachte er auch in den 1940 von Denis de Rougemont gegründeten Gotthard-Bund ein, welcher die Réduit-Strategie ideologisch untermauerte und bis 1969 aktiv blieb.
Unter solchen Umständen ist es schwierig, eine Geschichte des Gotthards jenseits des Mythos zu schreiben. Deutschland hatte mit seinem modernen «Mythus der Rassen» radikal zu brechen,16 die Schweiz mit ihrem Mythos hingegen nicht.17 Und im Kalten Krieg wurde dieser Mythos beharrlich perpetuiert. Man hatte im Unterschied zu Deutschland keinen Grund, ihn zu hinterfragen. Die Identitätsproduktion über den Gotthard funktionierte in derselben kohärenten Weise fast tadellos weiter.18 Unabhängig davon, wie sich die Schweiz historisch konstituiert hat, kann zumindest die Genealogie des Gotthardmythos skizziert werden. Die Konstruktion des Ineinanderfallens von Gotthardpasserschliessung und Rütlischwur ist spät anzusetzen. Carl Spitteler fordert kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in seiner programmatischen Rede Unser Schweizer Standpunkt (1914) das Zusammenstehen der Willensnation über die Sprachgrenzen hinweg, ohne für Deutschland oder Frankreich Partei zu ergreifen. In seinem Reiseführer Der Gotthard (1897) formuliert er als einer der ersten das Desiderat an die Historiker, in Zukunft die beiden Erzählstränge der Passerschliessung und der Gründung der Alten Eidgenossenschaft zusammenzubringen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der historiografische Beweis für den Zusammenhang zwischen Gotthard und Rütli somit noch nicht erbracht.
Im Gegenteil: Zunächst kommt es zu einer Konkurrenzgeschichte. So erbringt der junge Archivrat zu Karlsruhe und begeisterter Gotthardbahnfahrer Aloys Schulte den Beweis, dass der Gründer der Schweiz «nicht der sagenhafte Tell» sei, «sondern der Mann der die stäubende Brücke ersann und ausführte». Trotz Sympathien für die Idee des «Passstaates» wollte man in der Schweiz der Entthronung des Nationalhelden in der Zwischenkriegszeit nicht zustimmen. Das Entweder-oder wurde durch ein Sowohl-als-auch ersetzt: So formuliert der Schweizer Historiker Karl Meyer – welcher in erster Linie die mittelalterlichen Ursprünge zu stärken versuchte –, «die Eidgenossenschaft sei nicht wegen, sondern trotz dem Gotthard entstanden».19
NEAT-Geschichte
Bei der NEAT kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zukunft fast besser als die Vergangenheit zu erfassen ist. Eine gute Prognostizierbarkeit ergibt sich aus dem einfachen Mittel der linearen Extrapolation. Um zum Eingangsbild zurückzukehren: Wie die Dampfzüge mit einer Maximalgeschwindigkeit von 50 Kilometer je Stunde den Gotthard-Scheiteltunnel bei der Eröffnung 1882 passieren durften und sich dieser Wert allmählich auf mehr als das Doppelte steigern liess, so ist Ähnliches vom Basistunnel zu erwarten: Die Strecke, die aus sicherheits- und bahntechnischen Gründen jetzt noch auf maximal 230 Kilometer je Stunde Betriebsgeschwindigkeit ausgelegt ist, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit in hundert Jahren auch mit doppelter Geschwindigkeit befahrbar sein. Doch die Geschwindigkeit allein ist nicht ausschlaggebend. Eine wesentlichere Rolle spielen Taktung und Haltestellen. Dies ist jedoch nur eine Frage des Bedarfs und ist von der Entwicklung des Rollmaterials abhängig. Die jetzige Auslegung des Tunnels spielt daher nur eine untergeordnete Rolle, ist aber Bestandteil eines europaweiten Netzes. Das Tessin rückt zeitlich genau bestimmbar näher an die Deutschschweiz, Zürich an Lugano, Genua an Rotterdam heran. Die «Zeit-Raum-Verdichtung» erhöht sich im Zuge der Globalisierung.20 Europa wird chronometrisch kleiner.
Dennoch ist die lineare technische Beschleunigung kein Garant dafür, dass sich die verschiedenen Regionen auch kulturell annähern. Die Vergangenheit belehrt uns eines Komplizierteren: Weil jede Unifizierung und Internationalisierung mit Diversifizierung, Regionalisierung und Peripherisierung Hand in Hand geht, ist der kulturelle und ökonomische Effekt des technischen Fortschritts nicht extrapolierbar. Exemplarisch lässt sich die Nichtvoraussehbarkeit anhand des Gebiets aufzeigen, welches unterquert wird: anhand der Alpen. Die Tendenz ist unübersehbar, dass die breiten, zentrumsnahen Alpentäler jetzt schon zur Agglomeration mutieren, die touristischen Ressorts zusehends nur noch potemkinsche Kulissenerlebnisse anbieten und die Artenvielfalt der jahrhundertealten kleinbäuerlichen Bewirtschaftung in der Verwaldung zivilisationsferner Gegenden verloren geht.21 Die «alpine Brache», wie sie das Städtebauliche Portrait der Schweiz unter der Federführung der Stararchitekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron vor zehn Jahren definierte,22 degradierte das Gebirge und insbesondere das Gotthardgebiet nolens volens nicht nur zur schweizerischen Peripherie, sondern – wenn überhaupt – zum eigentlichen non-lieu des reinen Transits, wovon die NEAT beredtes Zeugnis ablegt.
Gleichzeitig entstehen aber in den Alpen Modelle der ökologischen Nachhaltigkeit, die sich auf die jahrhundertalte Tradition berufen können. Die Landwirtschaft in den Alpen ist nur schon aus rein topografischen Gründen nicht industrialisierbar. Die Zulieferer, welche heute einen Nischenmarkt in den Städten zu entdecken beginnen, könnten in Zukunft ein Modell für eine dekarbonisierte Landwirtschaft mit geschlossenen Kreisläufen bilden. Die ökologische Vielfalt erfordert nicht mehr industrialisierte monotone Arbeiten, sondern bringt vielfältige Beschäftigung zwischen Alpwirtschaft, Landschafts- und Umweltschutz, Verwaltung und Tourismus, ortsabhängigen und ortsunabhängigen Arbeiten. Dass in einem solchen visionären Kontext der Ausbau der Gotthard-Autobahn quer in der Landschaft steht, ist zumindest zu bedenken – da die NEAT ja ein Grossteil des Transits übernehmen kann. Genau dafür wurde sie auch gebaut, wie wir aus der Geschichte lernen.
Aus diesem Grund lohnt sich immer ein genauerer Blick zurück, um die Frage nach der Bedeutung von Geschichte für unsere Gegenwart und Zukunft zu beantworten. Warum wird die NEAT eigentlich für absolut notwendig erachtet, sodass man diese Rieseninvestition auch wirklich wagt? Dazu sind die bundesrätliche «Alptransit-Botschaft» und die parlamentarischen Beratungen der Jahre 1990/91 zu zentral.23 Bereits in den späten 1980er-Jahren sah man sich «zwei Hauptsorgen» ausgesetzt: «der Sorge, umfahren, und der Sorge, überrollt zu werden».24 Noch lange hielt man an den Partikularinteressen der einzelnen Schweizer Regionen fest – was dazu führte, dass zum Beispiel die Splügen-Variante als ebenso valabel verhandelt wurde. Die Lötschberg-Simplon-Ergänzung wurde auch in die NEAT eingebunden, damit eine sichere Mehrheit in der Bevölkerung für den Gotthardbasistunnel gewonnen werden konnte. Doch letztlich lenkten die regionalpolitischen Geplänkel nur davon ab, dass es sich um eine Transitachse von europäischer Dimension handelt.
Mit diesem Bauwerk konnte die Schweiz in erster Linie ihre finanzielle Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Ging man anfangs noch davon aus, dass das Riesenunternehmen nur mit der Unterstützung der EG/EU gestemmt werden könne, hat die Schweiz sämtliche Kosten allein übernommen – und dies ganz im Unterschied zum Gotthard-Scheiteltunnel, dem Jahrhundertwerk des 19. Jahrhunderts, das vor allem Italien, Deutschland und Private finanzierten, während die Schweiz nur einen Bruchteil dazu beitrug. Doch letztlich handelt es sich um ein europäisches Projekt, in das sich die Schweiz mit allen Kräften involvieren liess. Blickt man weiter zurück, lässt sich die Internationalität des Projekts zusätzlich belegen. Dazu gehört die Ausarbeitung des «fertigen Baukonzepts» für eine Flachbahn durch die SBB zu Beginn der 1970er-Jahre,25 aber auch das von Ingenieur Eduard Gruner 1947 vorgeschlagene Projekt «Europa-Afrika-Express» mit den entsprechenden Zügen von Berlin nach Karthum, die technische Vision als gross angelegtes Friedensprojekt kurz nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs.
Fantasien
Wie kann man den Gotthard erzählen, ohne in den nationalen Tunnelblick der 1930er- und 1940er-Jahre und der Folgezeit des Kalten Kriegs zurückzufallen, in denen wichtige historische Tatbestände ausgeblendet werden mussten, um die mythische Kohärenz und Durchschlagskraft zu behaupten? Der «moderne Mythus», an den der Gotthardbasistunnel problemlos anschliessbar wäre, lässt sich nur mit losen Versatzstücken ausstatten, welche die Komplexität der gesamten Gemengelage nicht in den Blick bekommen. Die Urgeschichte der Schweiz – wie im Übrigen jeder anderen Nation auch – gibt es nicht. Es kann uns also nicht nur darum gehen, «den Gotthardmythos [zu] lesen […], [zu] erleben und zugleich [zu] verstehen».26 Was wollen wir hier verstehen – ausser der Konstruiertheit von Natürlichkeit? Mit den Gotthardfantasien lade ich Sie ein, einen Schritt weiter zu gehen.
Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels nehmen wir zum Anlass, die neu-alte mythische Gemengelage aus verschiedenen Blickwinkeln zu untersuchen. Dabei soll der Gotthard nicht nur physisch ein drittes Mal (nach dem Eisenbahntunnel 1882 und dem Autobahntunnel 1980) untertunnelt werden, sondern ebenso metaphorisch in seiner Symbolik: Wie entwickelt sich das nationalistische Eigenbild der Schweiz nach 1945 am Gotthard? Welche Fragestellungen, die sich am Gotthard entzünden, finden wir in der Literatur – aus der Schweiz, aus Europa, aus der ganzen Welt? Wie überkreuzen sich europafreundlicher und weltoffener Umweltschutzdiskurs und konservativer Mobilitätsdiskurs im Gotthard? Gibt es vergleichbare, vielleicht auch nicht realisierte Réduit-Modelle in anderen Nationalprojekten? Wofür steht der Stachel (alias Tunnel oder russische Ansprüche) im Herzen der Schweiz? Welche Sehnsüchte kanalisiert der Tunnel – nur Richtung Süden oder auch Richtung Norden?Bedeuten die Transitrouten und -waren denn auch etwas? Welche Fantasien setzt heute der Gotthard bei Autorinnen und Autoren, bei Historikern, Politologen, Kultur- und Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern frei?
Für die Beantwortung dieser Fragen ist ein spezifischer Blick gefragt, der aktuelle Debatten historisiert und historische Diskurse wiederum kontextualisiert und aktualisiert. Dieser Blick impliziert eine Perspektive von aussen wie von innen, aus der Nähe wie aus der Fremde, einen spezifischen europäischen oder globalisierten Blick. Wichtig dabei ist sowohl eine topografisch-kulturelle als auch eine methodische Transversalperspektive, welche das kulturelle Erbe des Gotthards vor dem Hintergrund und dennoch jenseits der altbekannten Mythen befragt. Dadurch soll die Rolle einer europäischen und zugleich globalisierten Schweiz in Bezug zur ganzen Welt neu belichtet werden. Die mythische Überhöhung von Natur – welche die Naturalisierung der technischen Errungenschaft bereits miteinbezieht – soll zugunsten von Analysen des Zusammenspiels zwischen Natur- und Zivilisationsgewalt im ersten Teil «Infrastruktur, Natur» konsequent hinterfragt werden. Der eindimensionalen Mythologisierung werden im zweiten Teil historische «Kontrapunkte» und damit Alternativgeschichten und im dritten Teil «Bilanzen, Szenarien» die Vielfalt, aber auch die Dringlichkeit von Fragen an die Gegenwart entgegengesetzt.
Der Gotthard ist nicht nur in seiner technischen Materialisierung27 – wie man sie in Zukunft trotz gegenwärtigen Zweifeln am Willen der SBB28 sicherlich noch touristisch erfahrbar machen wird –, sondern vor allem in seiner Unbestimmtheit und Offenheit Anlass zur Fantasie. Hier ist die Rolle der Fiktion entscheidend: Denn Erinnerung und Fantasie bilden gleichermassen die kollektive Erinnerung aus und modellieren auf diese Weise neue Geschichtsbilder, welche für jegliche Entwicklung der Gesellschaft notwendig sind.29 Es gibt kein besseres Bauwerk als die NEAT, das uns so deutlich vor Augen führen kann, wie stark die Schweiz in Europa eingebunden ist und sich einen Sonderweg (wenn überhaupt) nur in beschränktem Ausmass leisten kann, ohne sich ökonomisch, ökologisch, forschungstechnisch und sozial selber am meisten Schaden zuzufügen. Unser Ziel ist doppelt angelegt, zum einen thematisch, zum anderen methodisch. So fragen wir sowohl nach dem Gegenstand, nach dem Gotthard-Transittunnel und nach den damit verbundenen Identifikationsmodellen, als auch nach den Diskursmodi von Mythos, Geschichte und Fantasien. Es geht in erster Linie darum, den thematisch-methodischen Fächer möglichst weit aufzuspannen.
Breite und Tiefe zugleich zu bieten ist nur möglich, wenn das Hebelgesetz der Fantasie in Anspruch genommen wird. Folgt man der Stellungnahme Carl Spittelers in seinem Gotthard-Reiseführer, so sprengt die Fantasie die Grenzen von Glauben und Erfahrung: «Denn die Fantasie folgt ihren eigenen Trieben und Gesetzen, die mächtiger sind als die Einreden [sic] des Verstandes.»30 Weil sich die Fantasie als Methode nicht der Rhetorik einer reinen Faktizität zu verschreiben hat, eröffnet sie neue Möglichkeitsräume des Denkens. Besonders in den Fantasien kristallisiert sich heraus, wie sehr Form und Inhalt des Denkens korrelieren. Darum folgt die Anordnung der Beiträge weder rein historischen noch rein thematischen Gesichtspunkten. Und obwohl alle Artikel höchsten Ansprüchen des jeweiligen Fachs genügen, bedienen sie sich manchmal auch unüblicherer literarischer Formen des Essays oder des Dramas. Dadurch wird die Perspektivität des jeweiligen Beitrags oder der jeweiligen Figur offengelegt und exponiert. Die Multiperspektivität der literatur-, kulturwissenschaftlichen, historiografischen und politologischen, aber auch technischen Beiträge wird regelmässig durch literarische Interventionen durchbrochen, welche für die Gotthardfantasien neu geschrieben und zusammengestellt worden sind. Sie vervielfachen nochmals die Stimmen; die persönlichen Ich-Erzählungen, die aufs Wesentliche reduzierten Verszeilen, die minutiösen Alltagsbeobachtungen entlarven das Korsett der Inszenierung. Gleichzeitig erweitern sie das Arsenal an Fantasien, welche dem Gotthard neue Dimensionen verleihen.