Kitabı oku: «Minarett», sayfa 2

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Zwei

Ich nahm Brieftasche, Notizbuch und Federmäppchen aus meiner Strohtasche und liess sie auf der Ablage neben der Bibliothekstür. Zwei Mädchen aus meinem Kurs kamen gerade heraus, und wir lächelten einander zu. Ich wusste ihre Namen nicht mit Bestimmtheit. Sie trugen beide einen weissen Tob,5 und eine war besonders hübsch, mit ihren tiefen Grübchen und funkelnden Augen. Sie kamen aus der Provinz, und ich war ein Mädchen aus der Hauptstadt, darum waren wir keine Freundinnen. Ihretwegen machte mich meine Kleidung zum ersten Mal im Leben verlegen: meine zu kurzen Röcke und zu engen Blusen. Viele kleideten sich wie ich, ich fiel nicht auf. Trotzdem fühlte ich mich unwohl in Gesellschaft dieser Mädchen aus der Provinz. Ich nahm ihre bescheidene Anmut wahr, den Tob, der ihre schlanken Körper bedeckte – reine weisse Baumwolle über den Armen und auf ihrem Haar.

Im Erdgeschoss der Bibliothek schnauften die Klimaanlagen, und die Fächer an der Decke surrten. Ich legte meine Sachen auf den Tisch und musterte die Regale. Etwas Russisches, um ihm näherzukommen und ihm etwas zu sagen zu haben. Marxistische Theorie, Dialektik. Nein, davon würde ich gar nichts verstehen. Schliesslich griff ich nach einem dicken Wälzer im Regal und nahm Platz, um in einer Sammlung übersetzter Gedichte zu lesen.

Ich verstand die Zeile »Ich überlebte all mein Sehnen«6. Aber ich wusste nicht, woher dieses Verständnis kam. Ich führte ein glückliches Leben. Meine Eltern liebten mich und waren stets grosszügig. Im Sommer machten wir in Alexandria, Genf und London Urlaub. Es gab nichts, was ich nicht hatte, nicht haben konnte. Keine Träume verrosteten, und keine Wünsche wurden begraben. Und trotzdem lauerte in mir manchmal Schmerz wie von einer verheilten Wunde und Traurigkeit wie von einem vergessenen Traum.

»Ich mag russische Schriftsteller«, gestand ich Anwar beim nächsten Mal, denn es gab ein nächstes Mal, eine zweite Chance, die nicht so zufällig wie die erste war. Wir gingen zusammen an der Post und an der Universitätsbuchhandlung vorüber.

»Wen denn?«

»Puschkin«, sagte ich, aber meine Antwort beeindruckte ihn nicht.

»So«, sagte er, »hilfst du mir ein paar Flugblätter verteilen?«

»Ich kann nicht. Ich habe meinem Vater versprochen, ich würde mich nicht in Studentenpolitik einmischen.«

Er zuckte die Achseln und hob die Brauen, wie um zu bemerken: Wer sagt’s denn?

»Was sind denn deine eigenen politischen Ansichten?«, fragte er.

»Ich weiss nicht. Ich hab keine.«

»Was soll das heissen, du weisst es nicht?«

»Jeder scheint jedem die Schuld zu geben.«

»Gut, aber jemand muss die Schuld auf sich nehmen für das, was geschieht.«

»Und warum?«

»Damit diese Leute den Preis zahlen können.«

Diese Bemerkung gefiel mir nicht: den Preis bezahlen.

»Dein Vater steht dem Präsidenten nahe?«

»Ja, sie sind befreundet.«

»Bist du ihm schon mal begegnet?«

»Natürlich. Und er ruft meinen Vater zu Hause an, und ich gehe ans Telefon.«

»Einfach so«, sagte er lächelnd.

»Ja, ganz normal. Einmal vor Jahren, als ich noch in der Grundschule war, rief er an, und ich antwortete auf sehr englische Weise mit hello.« Ich hielt einen eingebildeten Hörer ans Ohr, äffte mich selber nach und sagte: »Hello, 44959.« Es gefiel mir, wie Anwar mich beobachtete, mit amüsierten Blicken. »Daraufhin«, fuhr ich fort, »wurde der Präsident wütend und sagte: ›Sprich anständig, Kind! Sprich arabisch mit mir.‹«

Anwar brach in Gelächter aus. Es freute mich, dass ich ihn zum Lachen gebracht hatte.

»Ich unterhalte mich gern mit dir«, sagte er langsam.

»Warum?« Ja, so bekam man Komplimente zu hören. Fragt doch, warum.

Wenn ich Jahre später zurückschaute und mich an Zeichen verborgener Anspannung hinter der Fassade der Heiterkeit zu erinnern versuchte, denke ich an das ständige Ringen, das ich einfach hinnahm. Der Geruch nach Staub und Kloaken rang mit dem Duft des Jasmins und der Guaven, und keiner war stärker. Der Blaue Nil strömte aus dem Äthiopischen Hochland, und die Sahara drang vor, doch weder der eine noch die andre gewann. Omar wollte weggehen. Die ganze Zeit wollte Omar weggehen, und ich, sein Zwilling, wollte bleiben.

»Warum durfte Samîr und ich nicht?«, fragte er Baba beim Mittagessen. Wir assen aus Porzellantellern mit Silberbesteck. Wir wischten uns den Mund mit Servietten ab, die täglich gewaschen und gebügelt wurden.

»Weil Samîrs Noten nicht gut genug waren«, sagte Mama. Sie war frisch vom Friseur zurück, und das Haar floss in Wellen über ihre Schultern. Sie roch nach Haarspray und Zigaretten. Ich wünschte, ich wäre so bezaubernd wie sie, offen und grosszügig und mit der Gabe, stets das Richtige zu sagen und im richtigen Moment zu lachen. Eines Tages würde ich es schaffen.

»Aber ist es denn fair«, kam ich Omar zu Hilfe, »dass der mit den schlechten Noten ins Ausland darf und der mit den guten Noten hierbleiben muss?« Samîr war unser Cousin, der Sohn von Onkel Sâlich, Mamas Bruder. Samîr war jetzt am Atlantic College in Wales, wo er das internationale Abitur machte.

»Kommst du auch noch?« Baba funkelte mich an.

»Nein, ich will nirgendwohin gehen. Ich will hier bei euch bleiben.« Ich lächelte Mama an, und sie erwiderte das Lächeln. Wir standen einander zu nahe, als dass ich sie hätte verlassen mögen, um im Ausland zu studieren.

»Nadschwa ist sehr patriotisch«, sagte Omar sarkastisch.

»Das solltest du auch sein«, tadelte Baba.

»Esst jetzt, und streitet später«, sagte Mama, aber sie achteten nicht auf sie.

»Ich will nach London gehen. Ich hasse es, hier zu studieren.« Es war Omar ernst. Ich hörte es seiner Stimme an, dass es ihm ernst war.

»Das tut dir gut«, sagte Baba. »Härtet dich ein wenig ab. Dieser ganze Privatunterricht hat dich verwöhnt. An der Universität siehst du, wie man auf der anderen Seite lebt. Du wirst verstehen, wie dein Land wirklich ist und in was für einem Umfeld du einmal arbeiten wirst. Als ich so alt war wie du …«

Omar stöhnte, und ich befürchtete schon eine Szene. Ich schluckte leer und hatte Angst, dass Baba herumschreien und Omar davonlaufen würde. Dann konnte ich den ganzen restlichen Tag herumtelefonieren und ihn suchen.

Ich stand allein unten im Garten. Mein Verehrer fuhr auf seinem Rad vorbei. Seine Kleider waren schrecklich und seine Frisur fürchterlich. Es war nicht schmeichelhaft, von seinesgleichen bewundert zu werden. Ich fühlte den wohlbekannten Ärger in mir aufsteigen. Aber es machte Spass, sich über ihn zu ärgern. Ich warf ihm finstere Blicke zu, obwohl ich wusste, dass ihn jede Reaktion nur noch ermutigen würde. Er grinste hoffnungsvoll und pedalte davon. Ich wusste tatsächlich rein gar nichts von ihm.

»Komm mit, Nadschwa«, sagte Mama. Sie trug ihren uniblauen Tob und schwarze Sandalen mit hohen Absätzen. Sie trommelten gegen den Marmor der Vorderterrasse. Mama hielt eine Plastiktüte voller Lutscher und Süssigkeiten in der Hand.

Mûssa, der Fahrer, brachte den Wagen, und das Knirschen von Kies rührte die Nachmittagsstille auf. Er öffnete den Schlag für sie und holte im Haus noch mehr randvolle Plastiktüten mit alten Kleidern und zwei Dosen selbstgemachte Kekse. Ich erkannte Omars altes Coca-Cola-T-Shirt und ein rosa Kleid, das ich nicht mehr trug, weil es aus der Mode war.

»Wo gehst du hin?« Ich konnte ja Mamas bedeckter Kleidung entnehmen, dass es kein angenehmer Ort war.

»Cheshire Home«, sagte sie und nahm auf dem Rücksitz Platz. Sie sagte »Cheshire Home« so munter, als wäre ein Besuch dort ein Vergnügen. Dazu war bloss Mama imstande.

Ich zögerte ein wenig. Die dünnen, verrenkten Glieder der Kinder verstörten mich, und ich ging lieber zur Gehörlosenschule mit. Dort konnten die Kinder zwar nicht richtig sprechen, aber sie rannten sorglos herum und nahmen mit wachen, verständigen Augen auf, was sie nicht hören konnten.

Trotzdem setzte ich mich neben sie in den Wagen, und als Mûssa den Motor anliess, öffnete sie ihre Tüte und gab mir einen Minzkaugummi.

»Du hättest mal das Waisenhaus sehen sollen, zu dem deine Tante mich gestern geschleppt hat!«, sagte sie. »Im Vergleich dazu ist Cheshire das Paradies. Unglaublich, wie dreckig es dort war.«

Ich rümpfte angewidert die Nase und war erleichtert, dass sie am Morgen gegangen waren, als ich an der Uni war. So hatten sie mich nicht mitschleppen können.

»Und sie haben rein gar nichts«, fuhr sie fort. »Aber kann das eine Entschuldigung dafür sein, die Kinder nicht zu waschen?«

Sie erwartete keine Antwort von mir. Mûssa lächelte und nickte auf seinem Fahrersitz, als spräche sie mit ihm. So war sie eben. So redete sie. Manchmal war sie lebhaft, und manchmal war sie bedrückt und still. Und seltsamerweise war sie auf Partys und Hochzeiten oft kühl und nachdenklich, während sie in kritischen Momenten zu ihrer Hochform auflief. Wenn ich hörte, wie sie über das Waisenhaus sprach, wusste ich, dass sie keine Ruhe geben würde. Sie würde an allen Fäden ziehen und meinem Vater und Seiner Exzellenz in den Ohren liegen, bis sie bekam, was sie wollte.

Cheshire Home war schattig und kühl und lag in einem freundlichen Teil der Stadt mit Bungalows und alten grünen Gärten. Ich beneidete meine Mutter um die Natürlichkeit, mit der sie mit ihren Tüten voll Süssigkeiten und Keksen ins Haus segelte, während ihr Mûssa alles Übrige nachtrug. Die Kinderschwester, Salma, hiess sie wie eine alte Freundin willkommen. Salma war sehr grossgewachsen und dunkel, mit hohen Wangenknochen und strahlend weissen Zähnen. Ihre langweilige weisse Uniform konnte ihrer eleganten Erscheinung nichts anhaben: Sie wirkte würdevoll, mit weissen Strähnen im Haar. »Gratuliere«, sagte sie zu mir, »du hast es an die Universität geschafft.« Sie hatte mich schon lange nicht mehr gesehen.

»Du hältst dieses Heim gut in Schuss«, begann Mama Salma zu loben.

»Ach, früher war Cheshire noch besser.«

»Ich weiss, aber es ist immer noch gut. Da war ich doch gestern in dem Waisenhaus da, und es starrte vor Dreck, unglaublich.«

»Wo war das denn?«

Der Saal war gross, mit einer Tafel auf einer Seite und ein paar Kindertischen und -hockern. Eine Reihe von Betten stand an der Wand, und dazwischen lagen da und dort ein paar Bälle und Spielsachen. Sie kamen mir bekannt vor – vielleicht hatte Mama sie bei einem früheren Besuch mitgebracht. Ein paar Plakate an der Wand erklärten, wie wichtig das Impfen sei, und daneben hing ein schreckliches Bild von einem Baby mit Pocken. Salma brachte Stühle für Mama und mich, während sie selbst auf einem Kinderhocker Platz nahm. Die Kinder kämpften sich in ihren Laufstühlen zu uns, und manche robbten über den Boden. Ein Junge aus dem Süden war sehr schnell, weil er seine Arme und ein Bein ungehindert gebrauchen konnte.

»Jetzt einer nach dem andern, und ich gebe euch die Lutscher«, sagte Mama. Ein Ansatz zu einer Schlange bildete sich, verlor sich jedoch im Gewimmel der ausgestreckten Hände. Mama gab jedem Kind einen Lutscher.

»John«, rief Salma dem Jungen aus dem Süden zu, »hör mit diesem Herumkaspern auf, und hol dir deinen Lutscher!«

Er hievte sich mit einem lässigen Grinsen in unsere Richtung, und seine Augen leuchteten.

»Welche Farbe möchtest du?«, fragte ihn Mama.

»Rot.« Seine Augen schossen hierhin und dorthin, als ob er alles kritisch prüfen oder an etwas anderes denken würde.

»Hier. Da hast du einen roten«, sagte Mama. »Das ist der letzte rote, alle übrigen sind gelb.«

Er nahm den Lutscher und begann ihn auszuwickeln. »Ist das dein Auto da draussen?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Mama.

»Was geht dich das an?«, schimpfte Salma mit ihm.

Er ignorierte sie und wandte kein Auge von Mama. »Was für ein Auto ist es?«

»Ein Mercedes«, sagte Mama lächelnd.

Er nickte und lutschte an seinem Stängel. »Ich fahr mal einen grossen Laster.«

»Dummer Junge«, lachte Salma, »wie willst du denn mal fahren?«

»Schaff ich schon«, sagte er.

»Mit bloss einem Bein?« Salma zog spöttisch amüsiert die Brauen hoch.

Da veränderte sich etwas an ihm: sein Blick. »Du brauchst zwei Beine, um ein Auto zu fahren«, fügte Salma hinzu. Er machte kehrt und schleppte sich davon.

»In Europa gibt es Spezialanfertigungen«, sagte ich, »für Leute ohne … für Behinderte.« Zum ersten Mal seit unserer Ankunft hatte ich den Mund aufgemacht; meine Stimme klang dämlich, und alle ignorierten mich.

Auf einmal stiess John einen Tisch um und schleifte einen Hocker durch den Saal, mit dem er nach allen Seiten schlug.

»Hör auf, John, benimm dich!«, brüllte Salma.

Er achtete nicht auf sie und stiess den Hocker durch den Saal. Wäre der nicht mit einem anderen Hocker zusammengestossen, so hätte er Salma voll getroffen.

»Wart nur, ich rufe die Polizei.« Salma stand auf. »Sie sollen kommen und dir eine Abreibung verpassen.«

Er muss ihr geglaubt haben, denn er hielt inne und wurde ganz still. Er lehnte sich an die Wand. Sein Bein stand in einem bizarren Winkel ab, und er neigte den Kopf gegen die Wand, den Lutscher im Mund. Auf einmal still.

In der Stille hörten wir das Weinen. Sie war vielleicht elf oder zwölf, ein ganz dünnes Mädchen mit Gehschienen an beiden Beinen und einem rosa Kleid, das zu klein für sie war. Wie sollte sie mal heiraten, wie sollte sie arbeiten können …? Das dürfe ich nicht fragen, sagte Mama immer, es habe keinen Zweck, das zu denken, wir dürften einfach nicht aufhören mit den Besuchen.

»Warum weint sie?«, fragte Mama Salma.

»Ich weiss nicht.«

»Komm und nimm dir einen Lutscher«, rief Mama dem Mädchen zu, aber es hörte nicht auf zu weinen.

»Los jetzt, komm dir deinen Lutscher holen!«, schrie Salma das Mädchen an.

»Lass sie, Salma. Sie braucht Zeit.« Als das Mädchen sich nicht rührte, ging Mama zu ihr hinüber, gab ihr Schleckzeug und streichelte ihr zerzaustes Haar. Es nützte nichts. Sie sass mit den Süssigkeiten im Schoss wimmernd da, bis unser Besuch vorüber war. Erst als wir aufstanden, um zu gehen, sah ich, dass sie sich beruhigte und den Lutscher auswickelte. Sie blinzelte vornübergebückt, und Schleim tropfte ihr aus der Nase über den Mund. Es war ein Kampf für sie, den Lutscher auszuwickeln und ihn in den Mund zu kriegen. Ich hatte geglaubt, ihr Problem seien die Beine, aber auch mit den Händen stimmte etwas nicht.

Drei

Die Party im American Club war in vollem Gang, als Omar und ich eintrafen. Wir tauchten in die aufreizenden roten und blauen Discolichter ein und in Oops Up Side Your Head von der Gap Band.

»Wo hast du bloss gesteckt?«, kreischte meine beste Freundin Randa und versuchte die Musik zu übertönen. »Komm mit mir auf die Toilette.«

»Aber ich bin gerade erst angekommen«, versuchte ich abzuwehren, doch sie packte mich am Arm und zog mich mit.

»Du siehst umwerfend aus«, sagte ich zu ihr. Sie trug ein rückenfreies schwarzes Shirt und einen mittellangen, weitschwingenden Rock. Ich hatte mir nicht halb so viel Mühe gegeben wie sie. Die Toilette war übelriechend und heiss. Randa legte Lipgloss mit Erdbeeraroma auf und strich ihre Brauen glatt. Sie trug Flitter im Haar und auf ihren nackten Schultern.

»Bist du beim Friseur gewesen?«

»Klar bin ich beim Friseur gewesen.«

»Meine Hose sitzt zu eng.« Ich verrenkte mich, um meine Hüften im Spiegel zu sehen.

»Deine Hose ist toll – wie hast du sie angekriegt?«

»Aaah …«

»War nicht ernst gemeint.«

»Ist er hier?«

»Ja, Hoheit sind vor zwei Minuten erschienen, dabei bin ich schon seit sieben hier!«

Hoheit war der rätselhafte Amîr, mit dem sie seit einem halben Jahr ausging. Er hatte sich in letzter Zeit seltsam benommen.

»Heute Nacht soll er mal endlich zur Sache kommen«, sagte sie.

Ich wich ihrem Blick aus. Man munkelte, dass Amîr einem Mädchen aus dem Arabischen Club schöne Augen machte. Ich hatte nicht den Mut, es Randa zu erzählen. Stattdessen sagte ich: »Du siehst wirklich klasse aus heute.«

»Danke, Liebes.«

»Raus hier jetzt, ich ersticke noch.«

»Wart.« Sie zauberte den unvermeidlichen Minzespray aus ihrer Handtasche. Sie machte den Mund auf und sprühte, dann wandte sie sich mir zu. Ich hasste den Geschmack und öffnete trotzdem den Mund.

Vor der Toilette war die Luft frisch, und ein paar Kinder schwammen noch im Pool. Aus der Küche roch es verlockend nach Kebab und Pommes.

»Ich hab Hunger«, sagte ich.

»Wer denkt denn jetzt ans Essen?«

Ich liess mich von ihrer Aufregung anstecken, und wir gingen Arm in Arm kichernd die Treppe hinunter und tauchten wieder in die flirrende Finsternis der Party ein. Mein Lieblingslied lief: Brown Girl in the Ring von Boney M. Ich begann mitzusingen. Mitten auf dem Dance-floor tanzte die Inderin Sundari mit ihrem Marine. Ihr glattes schwarzes Haar fiel ihr bis auf die Taille, und wenn sie herumwirbelte, flog es auf und nieder. Ich konnte mich nicht sattsehen an ihr. Ihr Tanzstil war so, dass sie sich weit von ihrem Partner entfernte und auf ihren Stilettos wieder zu ihm zurückhüpfte. Er sah so sudanesisch aus, dass man sich leicht täuschen könnte, aber Randa und ich hatten ihn genau inspiziert und entschieden, er müsse Amerikaner sein, was man nur schon an seiner Haltung erkenne – weil es ihm peinlich sei, dass er in eine so unattraktive Weltgegend abkommandiert worden sei.

Ich musste nicht lange warten. Einer von Omars Freunden forderte mich auf, und wir entfernten uns von Randa zur Mitte der Tanzfläche. Weisser Rauch stieg aus dem Boden auf wie in Saturday Night Fever. Ich wirbelte herum, dass meine Ohrringe schaukelten, und die Arme der anderen Tänzer streiften die meinen.

Leider kamen nach Boney M. die Bee Gees mit How Deep Is Your Love an die Reihe, und das Volk auf der Tanzfläche schrumpfte auf höchstens fünf Paare zusammen. Erhitzt vom Tanzen, kaufte ich mir eine Pepsi und lief grüssend an den Tischchen vorbei, bis ich Randa in Gesellschaft von Omar und dem ewig ernsten Amîr fand. Seine Brille blitzte im Dunkeln und verbarg seine Augen; Randa lächelte hoffnungsvoll.

»Und wie geht’s an der Uni?«, fragte sie ihn.

»Ganz gut«, sagte er einsilbig.

»Wann kriegt ihr dieses T-förmige Lineal?«, fragte ich. Die Architekturstudenten fielen auf dem Campus nämlich immer auf, wenn sie mit ihrem Lineal rumspazierten.

»Nächstes Jahr.« Sein Langweilertum war ansteckend. Ich gab auf, lehnte mich in meinem Stuhl zurück, goss Pepsi in mein Glas und schaute den Tänzern zu. Einige Paare tanzten engumschlungen, andere linkisch auf Armeslänge Abstand. Sundari und ihr Marine tanzten dicht an dicht – seine Hände umschlossen ihre schmale Taille, und ihre lange Mähne berührte sie. Sie hob den Kopf von seinen Schultern, warf ihn in den Nacken und flüsterte ihrem Freund etwas zu. Er lächelte. Ich stellte mir vor, ich würde mit Anwar so tanzen, und ermahnte mich gleich, nicht so dumm zu sein, denn für genau so was hatte er doch bloss Verachtung übrig: westliche Musik und westliche Sitten. Ich hatte Randa nicht von ihm erzählt. Sie würde es nicht begreifen. Zwar würde sie ihn auch attraktiv finden, aber er war keiner von uns, nicht wie wir … Und Mitglied der Demokratischen Front; sie wüsste nicht einmal, was die Front war.

Omar bot Amîr eine Zigarette an. Ein Windstoss kam plötzlich auf und blähte das Tischtuch. Bald kam der Winter, und wir würden Strickjacken tragen, und es wäre zu kalt zum Schwimmen.

»Nächsten Monat gehe ich weg«, stiess Randa plötzlich hervor.

»Was!«, riefen Omar und ich gleichzeitig. »Wohin gehst du?« Omar und ich bedrängten sie mit Fragen.

Amîr zuckte nicht mit der Wimper und sagte kein Wort. Sie antwortete uns und liess ihn dabei nicht aus den Augen, um seine Reaktion zu beobachten und ihn zu prüfen.

»Ich gehe nach England, um dort Abitur zu machen.«

»Aber wolltest du nicht die mittlere Reife noch mal versuchen, um es dann vielleicht doch an die Uni Khartum zu schaffen?«

»Meine Eltern wollen, dass ich gehe.«

»Wie bei meinem Cousin Samîr«, sagte Omar. »Er hat es nicht geschafft und darf ins Ausland. Und wir sitzen hier fest.« Er sah Amîr an, der ihm zustimmen oder wenigstens die Ironie des Schicksals würdigen sollte. Es kam keine Reaktion.

»Oh, Randa, ich bin völlig durcheinander.« In den ganzen höheren Klassen hatte ich gehofft, wir würden zusammen an die Uni gehen. Und als ihre Noten nicht gut genug waren, hatte ich gehofft, sie würde es noch mal versuchen und ein Jahr später nachkommen. Ich hatte geträumt, wir wären zusammen, und sie würde Anwar kennenlernen und endlich auch wissen, was die Front war.

»Ich kann ja nach dem Abitur wiederkommen.« Ein harter Ton lag in ihrer Stimme. Und auf einmal verloren der Flitter im Haar und das Lipgloss etwas von ihrem Reiz.

»Was meinst du dazu, Amîr?« Sie wandte sich erneut ihm zu, und ihre Stimme war fast schon schneidend und konzentriert.

Er zuckte die Schultern. »Warum nicht?«

»Genau, warum nicht?« Sie liess sich in ihrem Stuhl zurückfallen.

So, das war’s dann, sie war ihm egal. Es tat mir leid für sie, und dazu kam der Schock, dass sie fortgehen würde. Wollte sie jetzt mit mir zur Toilette gehen und weinen? Verzweiflung lag auf ihrem Gesicht.

»Komm, Omar, gehen wir tanzen«, sagte sie.

Es gab eine Pause, bis mein Bruder begriffen hatte, was sie sagte, und entschieden hatte, ob er seine Zigarette ausdrücken oder mitnehmen wollte. Ich starrte auf den Boden. Sie begaben sich auf die Tanzfläche und versperrten mir die Sicht auf Sundari und ihren Marine. Ich schaute ihnen nicht beim Tanzen zu und ergab mich stattdessen den süsslichen Gesängen der Bee Gees. Amîr sagte nichts, und ich trank meine Pepsi aus und biss auf den letzten Eisklümpchen herum. Ich wartete, bis die langsamen Songs zu Ende waren und Omar und Randa zurückkommen würden.

Nach der Party ging ich mit zu ihr. Omar brachte uns hin und fuhr dann zu einer anderen, diesmal privaten Party weiter – einer dubiosen Veranstaltung, an der er mich nicht dabeihaben wollte. Sie wurden zahlreicher, seine rätselhaften Eskapaden, und damit auch die Orte und die neuen Freunde, zu denen ich keinen Zugang hatte.

Randas Eltern hatten gerade Gäste zum Dinner. Um der Gesellschaft auszuweichen, gingen wir durch die Küchentür ins Haus, an den fieberhaft arbeitenden Dienstboten vorbei und über einen Fussboden, der von Frittieröl und Küchenabfällen ganz klebrig und rutschig war. Randas Zimmer im Obergeschoss war sauber, und die Klimaanlage blies sanft. Randa zog eine langärmlige Bluse über ihr rückenfreies Shirt. »Damit wir uns was zu essen holen können«, sagte sie. Ich zupfte meine Bluse aus meiner Hose, und obwohl der untere Teil ganz zerknittert war, bedeckte er wenigstens meine Hüften und machte meine Kleidung etwas schicklicher.

Randas Eltern waren ein wenig verrückt, fanden meine Eltern. Sie hatten aus England, wo sie studiert hatten und Randa geboren worden war, auch exzentrische englische Gewohnheiten mitgebracht. Sie gingen spazieren, luden zum Dinner mit Kartenspiel ein und hatten einen jungen Hund. Randas Mutter war eine der allerersten Professorinnen im Land. Darum war Randas Unvermögen, es an die Universität zu schaffen, eine herbe Enttäuschung. Und jetzt wollten sie sie nach England auf die Schule schicken – auch dies ein kühnes Unterfangen, denn nur wenige Mädchen gingen allein im Ausland studieren.

Die Erwachsenen hatten fertiggegessen und waren im Garten, wir mussten also nicht alle begrüssen und Konversation machen. Kurz bevor das Dienstmädchen im Speisezimmer abzuräumen begann, füllten wir unsere Teller mit Essen und verzogen uns wieder in Randas Zimmer. Sie hatte wohl Liebeskummer wegen Amîr und ass nicht viel. Ich jedoch putzte meinen Teller leer und ihren noch dazu.

»Hast du Sundari mit ihrem Marine gesehen?« Ich lachte. »Das wird allmählich ernst …«

»Stell dir vor, ich hab ihr Auto neulich auf dem Parkplatz vor dem Marine House gesehen.«

»Das soll wohl ein Witz sein?«

»Nein, und es war während der Siesta!«

Ich kreischte und Randa lachte. Sie wurde wieder sie selbst, und bald kicherten wir zusammen und hechelten alle aus der Disco durch (ausser Amîr, natürlich) – was sie anhatten, mit wem sie getanzt hatten und wie eng. Ich wartete, bis sie Amîr erwähnen würde, aber sie tat es nicht. Sie trug die leeren Teller in die Küche und sagte, sie werde ein Dessert mitbringen.

Allein in ihrem Zimmer, tat ich das, was Mama mir jahrelang vergeblich abzugewöhnen versucht hatte: Ich schnüffelte herum. Ich öffnete Randas Schränke und begutachtete ihre Schubladen. Ich fand ein Foto von uns beiden in der Schule in der gleichen Uniform – dunkelblaue Schürze und weisser Gürtel. Arm in Arm lächelten wir in die Kamera. Es war schön damals, Randa jeden Tag zu sehen; neben ihr in der Klasse zu sitzen, während der Stunden zu schwatzen und die Lehrer zu ärgern, Sandwiches auszutauschen und aus derselben Flasche Double Cola zu trinken.

Ich blätterte in einer Jackie7 und fand sie kindisch – warum Randa sie sich wohl noch immer aus London zuschicken liess? Ich stöberte in einem alten Time Magazine. Chomeini, der Iran-Irak-Krieg, Mädchen, die im schwarzen Tschador marschierten, Studentinnen … Eine Frau hielt eine Flinte in der Hand. Sie war von Kopf bis Fuss verhüllt und verborgen.

Randa kam mit zwei Schalen Karamellcreme, Äpfeln und Bananen ins Zimmer.

Ich legte das Heft auf den Boden und griff nach meiner Schale.

»Völlig zurückgeblieben«, sagte sie mit einem Blick auf das Foto und gab mir einen Löffel. »Wir sollten vorwärtsgehen und nicht ins Mittelalter zurück. Wie kann eine Frau in diesem Aufzug arbeiten? Wie kann sie in einem Labor tätig sein oder Tennis spielen oder irgendwas tun?«

»Ich weiss nicht.« Ich löffelte die Karamellcreme, starrte auf das Heft und überflog den Artikel.

»Die sind verrückt«, sagte Randa. »Im Islam heisst es nirgends, dass man das tun soll.«

»Was wissen wir schon davon? Wir beten ja nicht einmal.« Ich hatte manchmal Gewissensbisse deswegen.

»Ich bete ab und zu«, sagte Randa.

»Ach ja, wann denn?«

»Vor den Prüfungen … Hat mir viel genützt.« Sie lachte.

»Ich bete, wenn ich im Ramadan faste. Ein Mädchen an der Schule hat mir gesagt, dass Fasten nicht zählt, wenn man nicht betet.«

Randa zog die Brauen hoch. »Dabei behauptest du doch den halben Monat lang, du hast deine Tage und kannst nicht fasten!«

»Nicht den halben Monat. Ich schummle ein bisschen, aber keinen halben Monat lang.«

»Letztes Jahr waren wir in London und haben überhaupt nicht gefastet.«

»Wirklich?« Ich konnte mir den Ramadan in London oder London im Ramadan nicht einmal vorstellen.

»Wie kann man in London auch fasten? Der ganze Spass wäre dahin.«

»Stimmt.« Ich sah auf das Bild hinunter und dachte an all die Studentinnen, die den Hidschab,8 und an jene, die den Tob trugen, Haar und Arme von unserer Nationaltracht bedeckt.

»Würdest du je einen Tob tragen?«, fragte ich sie.

»Ja, aber ein Tob ist auch was anderes als das.« Sie stach mit dem Finger ins Time Magazine. »Er ist nicht so streng. Bei einem Tob sieht man den Haaransatz und die Arme.«

»Kommt drauf an, wie du ihn trägst und was du darunter anhast. So wie ihn manche Studentinnen tragen, sind sie wirklich verschleiert.«

»Pah«, schnaubte sie, und ich sah ein, dass ich nichts von der Uni hätte sagen sollen, denn das tat weh. Ich legte das Heft weg und ass meine Karamellcreme auf.

»Ich hab nicht genug gelernt«, sagte sie verdrossen. »Ich hab diese Prüfungen einfach nicht ernst genommen.«

»Es ist so ungerecht. Du bist nämlich klüger als ich.« Ich hatte es bloss an die Universität Khartum geschafft, weil ich stundenlang auf meinem fetten Hintern sitzen und auswendig lernen konnte.

»Ich sollte wohl glücklich sein«, sagte sie leise. »Und ich bin ja wohl auch glücklich, dass ich nach London gehe, obwohl ich vielleicht gar nicht dorthin gehe. Vielleicht irgendwohin ausserhalb Londons.«

Ich wartete, bis sie von Amîr anfangen und sich beklagen würde, dass er sie den ganzen restlichen Abend geschnitten hatte. Das tat sie, und ich erzählte ihr die Gerüchte über ihn und das Mädchen vom Arabischen Club.


Es war nach drei Uhr morgens, als Omar mich abholte. Ich hatte mir allmählich schon Sorgen gemacht und nach ihm herumtelefoniert. In Randas Haus schliefen alle, nur wir blieben auf und schauten Dallas-Videos. Zum Glück waren Mama und Baba in Kairo, sonst hätte Omar Schwierigkeiten bekommen. Als er schliesslich erschien, um mich abzuholen, sah er müde aus und roch nach Bier und noch etwas, es roch süsslich.

»Du fährst«, sagte er, und das gefiel mir nicht. Ich fuhr nach Hause, und er legte nicht Bob Marley in den Kassettenspieler wie sonst. Er sass einfach neben mir, ruhig und abwesend, aber er schlief nicht. Er roch, und ich erriet den Geruch, bloss, dass ich es nicht glauben wollte. Haschisch? Marihuana?

Wir hörten den Ruf zum Morgengebet, als wir zu unserem Haus einbogen. Der Wächter erhob sich von seinem Schlafplatz am Boden und öffnete uns das Tor. Der Gebetsruf, die Worte und ihr Klang drangen in mich, durch den Geruch im Auto hindurch und durch den Spass in der Disco bis an einen mir unbekannten Ort. Eine hohle Stelle. Eine Finsternis, die mich einsaugen und auslöschen würde. Ich parkte den Wagen, und der Wächter schloss das Tor hinter uns. Er legte sich nicht wieder hin.

»Omar, wir sind daheim … Omar.« Ich lehnte mich hinüber und öffnete die Autotür für ihn. Er machte die Augen auf und sah mich mit leerem Blick an. Wir stiegen aus, und ich schloss den Wagen ab. Kein Hauch war zu spüren. Die Nacht war wie versiegelt, kühlte nicht, floss nicht. Ich konnte den Gebetsruf immer noch hören. Er ging immer weiter, und nun hörte ich in der Ferne eine zweite Moschee die Worte aufnehmen, und sie klopften an meine Trägheit, stupsten eine verborgene Taubheit an, wie wenn mir die Füsse eingeschlafen wären und ich sie dann berührte.

Die Dienstboten regten sich, und aus dem hinteren Teil des Hauses hörte ich das brausende Wasser, jemand räusperte sich und nieste, Pantoffeln schlurften über den Betonboden ihrer Unterkunft. Eine Glühbirne ging an. Sie machten sich zum Gebet bereit. Sie hatten sich aus dem Schlaf gequält, um zu beten. Ich war hellwach und betete nicht.

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