Kitabı oku: «Minarett», sayfa 4

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Sechs

Pizza, Pepsi, Pommes und Ketchup. Cupcakes und taamîja.11 Samosas und Schokoladeneclairs aus der Bäckerei. Sandwiches mit Thunfisch, Ei, Wurst, Frischkäse mit Tomaten, Frischkäse mit Oliven. Vanilleeis in kleinen Pappbechern. Ich liess sie im Dunkeln zirkulieren und schliesslich Plastiklöffelchen in die Blumentöpfe fallen. Grauschwarz auf der Veranda, mauvefarbene Schatten über den Autos. Wir waren alle wunderschön im Mondlicht.

»Tut mir leid, Leute, der Generator will nicht anspringen …«

»Ich habe das verflixte Ding einfach nicht anbekommen.«

»Was schalten sie die Elektrizität mitten im Winter ab? Wie ticken diese Leute?«

»Pass auf, ihr Vater ist die Regierung.«

»Habt ihr keine Batterien für den Kassettenrecorder?«

»Batterien. Omar, hol Batterien. Geh schon.«

»Ich geh ein paar kaufen.«

»Nein, nein.«

»Sie ist zum Heiraten nach Nairobi gegangen.«

»Fünf Minuten mit dem Auto …«

»Du hast perfekt weisse Zähne, hat dir das schon mal jemand gesagt? Ich kann sie im Dunkeln sehen!«

»Du bringst den Typ in Verlegenheit.«

»Das soll meine Abschiedsparty sein. Das?«

»Randa!«

»Ich bin ja froh, dass ich gehe … wenn ihr nichts Besseres zu bieten habt.«

»Jetzt hört euch mal die an!«

»Übermorgen ist Schluss mit den Stromausfällen. Dann beginnt das zivilisierte Leben.«

»Nimm dir ein Sandwich! Das da sieht wie Ei aus … ich weiss nicht. Riech daran … Also das hier ist sicher Wurst …«

»Kommt ja vielleicht wieder …«

»Was ist denn überhaupt mit eurem Generator los? Warum kriegt ihr den nicht zum Laufen?«

»Komm, wir gehen …«

»Keiner geht irgendwohin. Untersteht euch! Samîr … du verdirbst die Party.«

»Wenn wir bloss Musik hätten …«

»Was macht er denn da? Nein, du kannst nicht gehen. Bitte geh nicht.«

»Du kannst uns nicht im Stich lassen, Samîr.«

Das Scheinwerferlicht fiel auf Samîr, auf seinen Afrolook und seinen frischen Schnurrbart. Er sass auf dem Beifahrersitz, ein Bein noch draussen, bei geöffneter Tür. Er hatte den Blick auf das Autoradio gesenkt und drehte an den Knöpfen, bis der Kassettenspieler auf einmal mit Boogie Nights von Heatwave loslegte.

Er begann auf uns zuzutanzen. Randa lachte laut.

»Samîr, du bist ein Genie!« Ich versuchte die Musik zu übertönen.

»Lass den Motor an, Mann. Lass den Motor an … sonst ist deine Batterie bald futsch.«

Ich fühlte mich nicht gut, nachdem sie gegangen waren. Ich sass auf der Veranda, während die Dienstboten aufräumten. Es war immer noch Nacht, weil die Lichter noch nicht wieder angegangen waren, aber meine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und ich konnte die Nachbarhäuser und die Gartenschaukel sehen. Die Party war ein Flop gewesen. Und inzwischen waren Omar und die meisten Gäste weitergezogen. Randa war nach Hause gegangen, um zu packen. Sie hatte mir gedankt und die Party gelobt, aber das war nicht ihr Ernst gewesen. Ich sah, dass es nicht ihr Ernst war. Der Stromausfall hatte alles verdorben. Im einen Moment tanzten wir drinnen zu lauter Musik, und die Stimmung war genau richtig. Doch im nächsten Augenblick herrschte das dunkle Schweigen von draussen, unter dem majestätischen Himmel. Die Lichter gingen nicht wieder an, und der Generator war unbrauchbar. Sie würden darüber lästern und sagen, wir seien so reich, aber für einen Generator, der anständig funktioniere, seien wir zu geizig. Ich wusste, dass sie das sagen würden, denn ich hätte es an ihrer Stelle auch getan.

Ich dachte an Anwar und an die Welten, die ihn von dieser Party trennten. Er kannte weder Randa noch meinen Cousin Samîr. Wenn ich ihn jetzt an der Uni traf, sagte er hallo, und ich sagte auch hallo, und das war’s. Manchmal sah er mich an, als wollte er mehr sagen, aber er liess es sein. Er schien mit seinen Aktivitäten für die Front sehr beschäftigt zu sein. Was er mir erzählt hatte, ging mir nicht aus dem Kopf, und ich versuchte mir einen Reim darauf zu machen. Warum ich erschrocken war, als er sagte: »So kann es in unserem Land nicht weitergehen« oder »Dieses System ist dem Untergang geweiht«. Er hatte mir inzwischen erzählt, dass seine jüngste Schwester blind war und in Deutschland operiert werden könnte, wenn sie das Geld zusammenbrächten. Wir reisten jedes Jahr nach Europa, verbrachten den Sommer in unserem Apartment in London oder in Hotels in Paris und Rom und gingen auf Shoppingtour. Wenn wir in einem Sommer mal zu Hause blieben, könnte Anwar das gesparte Geld haben und seiner kleinen Schwester die Operation ermöglichen. Als ich noch ein Kind war, bevor ich in die Oberstufe kam, hatte ich mich mit Mama und Baba solcher Dinge wegen angelegt. Ich gab das ganze Geld, das ich zum Id12 bekommen hatte, einer Mitschülerin. Ich schenkte meinen goldenen Ohrring dem äthiopischen Dienstmädchen. Sie wurde gefeuert, und das Mädchen bekam Schwierigkeiten mit der Schulleiterin. »Es gibt da Regeln«, sagte Mama immer, »du kannst nicht nach Lust und Laune Almosen verteilen – man wird dich dafür verachten und für dumm halten.«

Ich lernte diese Regeln: Gib nur Kleider weg, die du getragen hast. Gib gerecht, und gib angemessen. Gib, was erwartet wird. Du kannst die Leute beleidigen, wenn du ihnen zu viel gibst. Du kannst sie verwirren. Du bringst vielleicht Leute in Verlegenheit mit teuren Geschenken, die sie nicht erwidern können. Gib nie einem Einzelnen etwas und seinen Freunden und seinen Geschwistern nichts. Denk nach. Denk nach, bevor du gibst. Erwartet man es von dir?

Ich blieb auf, bis Omar nach Hause kam. Einer seiner Freunde brachte ihn bis zum Tor, und er wankte die Auffahrt herauf, stolperte auf den Stufen zur Veranda und fiel einmal fast hin. Er sah mich nicht, bis ich ihn ansprach. Auf einer Seite unserer Veranda war eine Bank in die Mauer eingelassen. Dort legte er sich hin, starrte zum Himmel hinauf und liess eine Hand herunterbaumeln. Er roch wieder, ein süsslich-rauchiger Geruch, anders als Bier.

»Du sitzt tief in der Tinte«, sagte ich zu ihm. Er drehte nicht einmal den Kopf nach mir. »Ich hab ein Pulversäckchen in deiner Schublade gesehen.«

»Hast du’s genommen?« Seine Stimme klang ruhig, aber wacher.

»Nein, aber ich werde es Baba sagen.«

»Keine Bange, Nadschwa.« Er lallte. »Es ist bloss Hasch. Macht nicht süchtig – etwas stärker als eine Zigarette, das ist alles.«

»Denkst du, es wird Baba gefallen, dass sein Sohn Haschisch raucht?«

»Wird es ihm denn gefallen, dass seine Tochter mit einem Kommunisten geht?«

»Es ist aus zwischen mir und Anwar.«

»Ihr habt euch bloss gestritten, das wird schon wieder.« Er rollte sich auf die Seite und sah mich im Dunkeln an. »Und weisst du, was Baba dann tun wird? Er wird ein paar Schläger ausschicken, die ihn verprügeln sollen. Und wenn er seinen Abschluss macht, wird er dafür sorgen, dass keiner ihm einen anständigen Job gibt.«

Ich atmete schwer. »Du erzählst Unsinn – dieses Zeug hat dich durcheinandergebracht. So was würde Baba nie tun.«

Er lachte. »Er würde alles tun, um seinen Augenstern zu beschützen.« Er drehte sich wieder auf den Rücken, und wir waren still. Er begann regelmässig zu atmen, als ob er gleich einschlafen würde.

»Du gehst besser rein, bevor sie zurück sind.«

Er grunzte.

»Hier, nimm die Taschenlampe.« Ich drückte sie ihm in die Hand.

Er ging ins Haus, und schon sah ich die Scheinwerfer von Babas Auto näher kommen. Er hupte, und unser Nachtwächter ging das Tor aufschliessen. Räder knirschten über den Kies, und ich hörte Mama beim Aussteigen fragen: »Wann sind denn die Lichter hier ausgegangen?«

Ich ging zu Baba hinüber und drückte ihn, als fürchtete ich mich vor etwas und er könnte die Angst verscheuchen. Er roch nach Grillfleisch und offiziell verbotenem Whisky. Ich wich vor ihm zurück. Mama sah müde aus und liess die Schultern hängen. Selbst im Mondlicht konnte ich sehen, dass die Mascara um ihre Augen verschmiert war. Wir stiegen die Stufen zur Veranda hinauf. Sie erkundigten sich nicht nach der Party und setzten das Gespräch fort, das sie schon im Wagen geführt hatten.

»Er wird es durchstehen«, meinte Baba, »er hat nicht zum ersten Mal mit Widerstand zu kämpfen.«

»Hoffentlich«, sagte sie. »Alles, was ihm schadet, wird auch uns schaden.«

Ich öffnete die Haustür. Das Licht war wieder da und blendete mich.

Sieben

Baba teilte nicht oft seine Wünsche mit uns, aber an jenem Tag tat er es. Wir waren auf der Farm, und er trug ein Safarihemd. Er war ein wenig gereizt, weil er die Familientreffen, die meine Mutter organisierte, nicht mochte. Er zog Treffen mit Geschäftsfreunden und nützliche Kontakte diesen Picknicks vor, bei denen man den ganzen Tag Karten spielte und pausenlos ass. Er lehnte sich in seinem Liegestuhl zurück und blickte auf, als ein kleines Flugzeug vorbeiflog, das Pestizid versprühte. »Eines Tages werde ich meinen eigenen Privatjet haben«, verkündete er. »In höchstens drei Jahren – es ist alles geplant!«

»Wow«, sagten Omar und ich gleichzeitig. Wir sassen auf einer Picknickdecke im Gras.

»Denkt an euren Vater, Kinder. Ich habe mal mit nichts angefangen. Kein Vater, keine gute Ausbildung, nichts. Und jetzt werde ich mir einen Privatjet leisten können.«

»Ich werde ihn fliegen lernen«, sagte Omar. »Ich werde mich ausbilden lassen dafür.«

Baba musterte uns über seine Brillengläser mit Goldrand und fragte: »Wie alt seid ihr jetzt eigentlich?«

»Neunzehn«, antwortete Omar.

»Neunzehn schon? Und du auch, Nadschwa?«

»Ja.« Ich lächelte.

Er neckte uns: »Ich hatte geglaubt, ihr wärt achtzehn.«

»Das war letztes Jahr«, sagte Omar. Ich lachte. Es war selten der Fall, aber heute waren Omar und ich in denselben Farben gekleidet. Wir trugen beide Wrangler-Jeans, dazu hatte ich einen beigen Rollkragenpullover an und er ein langärmliges beiges Hemd. Mama kam und machte ein Foto von uns. Jahre später, als alles in Trümmern lag, war dieses Foto immer noch da. Omar und ich lächelten, eine rosa Blume steckte in meinem Haar, ich hatte die Beine übereinandergeschlagen und stützte den Ellbogen auf mein Knie und mein Kinn in die Hand. Omar sass daneben, sein Rücken dicht an meinem Arm, mit leuchtenden Augen und ausgestreckten Beinen, eine Hand lässig auf dem Recorder, während die Kassetten wild durcheinander auf seinem Schoss und auf dem rotkarierten Teppich lagen. Jahre später, als alles in Trümmern lag, kniff ich die Augen zusammen und versuchte, anhand der Farben und Inschriften die Kassetten auf dem Teppich zu erkennen, Kassetten, die wir im Sommerurlaub in London gekauft hatten: Michael Jackson, Stevie Wonder, Hot Chocolate und meine Kassetten von Boney M.

Der freie Fall begann in jener Nacht, lange nach dem Picknick und nach dem Barbecue, als die Gäste längst gegangen und auch wir wieder zu Hause waren. Nach dem Kebab am Spiess und dem Erdnusssalat, nach den gekochten Eiern, Wassermelone und Guave. Wir fuhren still nach Hause, denn wir waren alle müde. Ich wusch mein Haar noch spätabends, weil es so staubig geworden war. Ich untersuchte einen Ameisenbiss am Ellbogen. Es war ein geschwollener Buckel, und ich konnte nicht aufhören zu kratzen. Der Telefonanruf kam spätnachts, als fast schon der Morgen dämmerte. Ich hörte ihn und dachte, es sei jemand gestorben. Es war auch schon vorgekommen, dass ein naher Freund oder Verwandter im Sterben lag und Mama und Baba mitten in der Nacht aufbrechen mussten. In den Tagen der Trauer sagten sie dann: »Wir kamen, sobald wir es hörten … noch in derselben Nacht.«

Ich stand nicht auf. Es interessierte mich nicht genug. Ich hörte Babas Stimme am Telefon, aber was er sagte, verstand ich nicht. Ich hörte bloss seine Stimme, und etwas stimmte nicht mit ihr. Es war nicht das Erschrecken, der Schock, die mit einem Todesfall verbunden waren. Ich setzte mich auf im Bett und sah den Raum allmählich feste Umrisse annehmen, während meine Augen sich ans Dunkel gewöhnten. Die Nächte waren noch kühl, wir brauchten die Klimaanlage noch nicht. Wäre sie gelaufen, hätte ich das Telefon gar nicht gehört.

Die Tür zu Omars Zimmer war zu. Ich lief den Flur hinunter zum Elternzimmer. Das Licht war an und die Tür angelehnt. Ich sah den Koffer auf dem Bett. Ich sah, wie Mama Socken von Baba in den Koffer stopfte, der fast schon voll war. Er war dabei, sich anzukleiden, und knöpfte gerade sein Hemd zu. Er drehte sich um und sah mich an, als sähe er mich gar nicht; als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass er mitten in der Nacht verreiste.

»Gehst du weg?«, fragte ich, aber keiner von beiden antwortete. Mama ging weiter im Zimmer auf und ab und packte fieberhaft, als lausche sie einer Stimme im Kopf, die ihr eins nach dem anderen auftrug, was sie zu tun hatte. »Geh wieder schlafen«, forderte sie mich auf.

Hellwach ging ich ins Bad. Ich starrte mein Spiegelbild an, glättete meine Brauen und bewunderte, wie das Gelb des Pyjamas zu meiner Haut passte; Baba war vergessen.

Als ich das Bad verliess, hörte ich ihn den Wagen starten. Es musste er sein, der den Wagen startete, denn Mûssa schlief nicht im Haus. Mûssa ging jeden Abend nach Hause. Ich rätselte, wohin Baba wohl fuhr und was sein Reiseziel war. Warum hatten sie mir nicht gesagt, dass ein wichtiger ausländischer Staatsmann gestorben war? Ich ging in Omars Zimmer und begann ihn zu wecken. Er wachte auf, kam aber nicht mit mir ans Fenster. Ich spähte durch die Vorhänge. Ich sah, wie Baba das Auto aus der Garage manövrierte und über den Kies zum Tor fuhr. Ich sah den Nachtwächter das Tor für ihn aufstossen. Dann erblickte ich die Scheinwerfer eines Autos, das unsere Strasse herunterraste. Es blieb quietschend vor unserem Tor stehen und versperrte Babas Wagen den Weg. Zwei Männer sprangen heraus. Einer blieb beim Tor, und der andere öffnete Babas Autotür, wie Mûssa sie jeden Tag für ihn aufmachte, bloss nicht genau so, nicht ganz genau so. Baba stellte den Motor ab und stieg aus. Er sprach mit dem Mann und wies auf den Kofferraum. Der Mann sagte etwas zu seinem Begleiter, und dieser öffnete den Kofferraum und nahm Babas Koffer heraus. Sie gingen auf ihr eigenes Auto zu und liessen Babas Wagen in der Zufahrt gestrandet zurück: weder drinnen noch draussen. Baba nahm etwas aus der Hosentasche, vermutlich Geld oder den Autoschlüssel, und gab es dem Nachtwächter. Dann stieg er mit den beiden Männern ins Auto. Er sass auf dem Rücksitz, und das war verkehrt, so viel wusste ich. Er sollte nicht auf dem Rücksitz sein. Ich hatte ihn nie auf dem Rücksitz gesehen, ausser in Taxis oder wenn Mûssa ihn fuhr. Und jetzt war Mama neben mir, sie erschreckte mich. Wie sie mit den Zähnen knirschte, um das Weinen zurückzuhalten, und mit der Faust leicht gegen das Fenster schlug, machte mir Angst. Omar trat zu uns, legte den Arm um sie und führte sie vom Fenster weg.

»Was ist los?«, fragte er. »Was ist los, Mama?«

Seine Stimme klang ruhig und wie sonst. Ich blickte auf die dunkle, leere Strasse hinaus, auf Babas verlassenen Wagen und auf den Wächter, der vergeblich versuchte, das Tor zu schliessen. Er konnte das Auto nicht umparken, weil er gar nicht fahren konnte. Es musste auf den Morgen warten, bis Mûssa kommen würde.

»Was ist los, Mama?« Omars Stimme war geduldig. Sie sassen beide auf seinem Bett.

»Es hat einen Putsch gegeben«, sagte sie.

Acht

Unsere ersten Wochen in London waren okay. Wir bemerkten nicht einmal, dass wir uns im freien Fall befanden. Als wir den Schock, am Tag nach Babas Verhaftung überstürzt ausreisen zu müssen, verwunden hatten, genossen Omar und ich London trotz allem. Wir waren noch nie im April dort gewesen und gingen als Erstes in der Oxford Street Kleider kaufen. Es war lustig, all das zu tun, was wir zu Hause nie taten: Lebensmittel einkaufen, staubsaugen und Tiefkühlgerichte zubereiten. Es machte Spass, all das zu tun, was wir sonst im Sommer taten: Omar ging ins Kino am Leicester Square und kaufte weiss Gott wie viele Kassetten bei HMV. Ich probierte bei Selfridges Parfums aus und liess mir in der Elizabeth-Arden-Ecke das Gesicht schminken.

Aber Mama war ganz und gar nicht wie sonst: Sie war wie betäubt, weinte manchmal ohne Grund und führte mitten in der Nacht Selbstgespräche. Für die Verlockungen Londons war sie immun. Sie wollte nicht einkaufen gehen und verfolgte andauernd die neusten Entwicklungen nach dem Putsch. Sie hielt sich alle arabischen Zeitungen, dazu die Times und den Guardian, telefonierte herum und liess den Fernseher die ganze Zeit laufen. In unserem Apartment am Lancaster Gate gaben sich die Sudanesen die Klinke in die Hand: Geschäftsleute auf der Durchreise, besorgte Botschaftsmitarbeiter, die auf die unvermeidlichen Veränderungen warteten, die mit der neuen Regierung kommen würden. Alle beruhigten sie Mama wegen Baba. »Sie werden ihn bald rauslassen, und dann kann er hierher zur Familie kommen«, sagten sie. »Es wird alles versanden«, sagten sie, »nur Geduld, sie üben anfänglich ihr Muskelspiel und lassen dann wieder nach.« Sie hörte ihnen still zu, und ich half ihr beim Servieren von Kaffee und Tee. Ihr Gesicht war streng ohne Make-up, ihr Haar zum Knoten gebunden, weil sie nicht mehr zum Friseur ging; die Pullover, die sie unter dem Tob trug, waren in düsteren Farben gehalten.

Randa rief mich von ihrem College in Wales an. »Ich glaub’s ja nicht, du bist wirklich hier!«, kreischte sie.

»Ich glaub’s ja selbst noch nicht – ich habe dir doch erst vor einer Weile tschüs gesagt …«

»Was habt ihr jetzt vor?«

»Warten, bis Baba zu uns kommt – wir machen uns Sorgen um ihn.« Ich schluckte, und meine Stirn war glühend heiss.

»Und dann? Wie lange wirst du hierbleiben, und was ist mit deiner Uni?«

»Ich weiss nicht, Randa. Ich hab all meine Notizen und Bücher mitgebracht …«

»Aber diese neue Regierung scheint durchzuhalten, der Putsch ist gelungen. Und ihr werdet hier wohl politisches Asyl bekommen …«

»Vielleicht lassen sie uns nach Hause. Ich weiss nicht.« So weit hatte ich noch nicht gedacht.

»Du kannst doch hierherkommen.«

»Hierher?«

»Hierher ans Atlantic College, zu mir.«

Irgendwie entsetzte mich diese Vorstellung. »Omar würde das gefallen – aber jetzt sag, Randa, wie geht’s? Erzähl mir, wie es für dich ist. Gefällt es dir in Wales? Musst du hart arbeiten? Hast du mit dem Klettern begonnen?«

»Ich schreib dir alles in einem Brief. Ich kann nicht lange telefonieren.«

»Okay, gib Samîr den Brief, er kommt uns am Wochenende besuchen.«

»Ja, okay, mach ich. Wir laufen uns ziemlich oft über den Weg.«

»Und, Randa, was ich dir noch sagen wollte: Sundari ist schwanger …«

»Waaas!«, zischte sie.

»Es ist ein grosser Skandal; sogar die amerikanische Botschaft wurde hineingezogen. Dafür stationiert man keine Marines im Sudan.« Ich versuchte, über meinen eigenen Witz zu lachen, aber das Geräusch glich mehr einem hartnäckigen Husten.

Samîr kam am Wochenende, er trug verwaschene Jeans und Lederjacke und hatte eine neue Brille auf. Er drückte Omar fest, und ich spürte wieder dieses Brennen in meiner Stirn, das mich in letzter Zeit manchmal überfiel. Er küsste Mama, und sie fing an zu weinen, was uns allen peinlich war.

»Gibt es Neuigkeiten?« Samîr nahm im einen und Omar im anderen Sessel Platz. Ich sass auf dem Sofa neben Mama. Der Fernseher war an, so wie wir ihn jetzt manchmal laufen liessen: mit Bildern ohne Ton.

»Sie machen ihm den Prozess«, sagte Omar. Mama tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen ab, und ihr Mund stand offen.

»Inschallah wird alles gut.« Samîr rutschte in seinem Sessel herum. Er schien in den tiefen, weichen Kissen zu ertrinken.

Aber was, wenn es nicht gut kam?, wollte ich sagen. Was, wenn sie ihn schuldig sprachen, was, wenn er schuldig war, ja, was dann? Als ob ich verstehen würde, was sie ihm vorwarfen … Korruption. Was sollte das denn heissen? Wie konnte dieses Wort irgendetwas mit meinem Vater zu tun haben? Wir hätten ihn nicht verlassen sollen, wir hätten bei ihm bleiben sollen. Was taten wir denn hier? Es war Onkel Sâlich, der so entschieden hatte. Er hatte alles arrangiert, binnen weniger Stunden, und uns noch auf das letzte Flugzeug gebracht, bevor der Flughafen geschlossen wurde. Aber vielleicht hatte er sich geirrt, vielleicht hätten wir bleiben sollen, und vielleicht wurde Baba wegen unserer Flucht schuldig gesprochen. Benahmen wir uns denn nicht so, als wäre er schuldig? Aber ich sagte nichts und starrte bloss auf die ITV-Werbung für Schokoladenkekse, Kaffee und eine neue Serie. Immer wenn ich Fernsehen schaute, vergass ich Baba, das schlechte Essen, das er in dieser »Spezialeinrichtung«, in der er festgehalten wurde, bekommen musste, und den anstehenden Prozess. Der Präsident war inzwischen in den USA. Er hatte am Vorabend angerufen und mit Mama gesprochen. »Es ist alles seine Schuld«, sagte sie danach, »alles seine Schuld.« Aber am Telefon war sie so nett und zuvorkommend wie immer zu Seiner Exzellenz gewesen.

»Möchtest du Tee oder etwas Kaltes trinken, Samîr?« Ich lächelte ihn an und war glücklich, ein vertrautes Gesicht zu sehen.

»Ich hab einen Brief von Randa für dich«, sagte er. Ich nahm ihn und ging in die Küche, um ihn zu lesen.

»Wo bleibt der Tee?«, rief Mama. Ich hielt mitten in der Beschreibung inne, wie Randa eine Kuh melkte (dieser Teil ihrer Ausbildung war ja absurd!), und setzte den Kessel auf.

Bei Pizza Hut war es warm, und man spielte all die neusten Songs, Songs, die wir eben erst kennenlernten. Wir drei teilten uns eine grosse Pizza mit Meeresfrüchten, und Samîr bestellte etwas, was ich noch nie gekostet hatte: Knoblauchbrot mit Käse. Es schmeckte fabelhaft. Draussen in der Kälte war der Leicester Square voller Lichter und so lebhaft, dass ich vergass, dass es Nacht war. Die Leute strömten aus den Theatern zu den Restaurants und zur U-Bahn-Station, Rausschmeisser in karierten Westen standen vor den Nachtclubs. In einem der kleineren Kinos lief Saturday Night Fever immer noch. Wir standen vor einer Disco. Wir hörten die Rhythmen von Michael Jacksons Billie Jean, und rot aufblitzende Lichter zuckten.

»Bist du verrückt? Wie können wir jetzt in eine Disco gehen?« Ich funkelte Omar an.

»Warum nicht?« Er gab seine Variante eines Moonwalk13 zum Besten. Sie war gut, aber ich war nicht in der Stimmung für Lob.

»Sag du ihm, warum.« Ich schaute Samîr an, aber der zuckte bloss die Achseln und wich ein wenig zurück. Er schien auf der Hut zu sein und war auf einmal steif und förmlich.

»Wir können wegen Baba nicht in die Disco«, sagte ich zu Omar. »Was sollen die Leute denn sagen? Dieser Mann kämpft vor Gericht um sein Leben, und seine Kinder tanzen in London.«

»Was für Leute? Wer, denkst du denn, kennt uns da drin? Sei nicht albern.« Er drehte sich hilfesuchend nach Samîr um, aber der studierte eine Schaufensterauslage.

»Es könnte trotzdem jemand da drin sein, der uns kennt. Es könnte einfach passieren. Warum dieses Risiko auf sich nehmen?«

»Du bist fixiert auf die Meinung anderer Leute!«

»Ich bin nicht fixiert. Ich bin bloss sicher, dass wir in Khartum nicht in einer Disco wären.«

»Aber wir sind nicht in Khartum. Weisst du was? Geh doch einfach nach Hause.«

»Also gut, ich gehe.«

Omar drehte sich um und begann auf die Disco zuzugehen. »Komm schon, Samîr«, rief er.

»Ich bring dich aber«, sagte Samîr. Dabei wollte er mich gar nicht nach Hause fahren. Es ging mir auf, dass wir ihn langweilten. Als wäre etwas geschehen, was uns im Vergleich zu ihm schrumpfen liess. Als ob er ganz erwachsen wäre und wir noch klein.

»Nein«, sagte ich, »bleib bei Omar. Ich komme allein zurecht.«

Unser Apartment war nur wenige U-Bahn-Stationen entfernt. Der Fussboden der Bahn war mit Zigarettenstummeln und leeren Dosen übersät. Die Passagiere waren schläfrig und in sich gekehrt, und es kam mir vor, als bewegten wir uns durch schale, unerfüllte Zeit. Baba würde schuldig gesprochen. Warum sonst sollten sie ihm den Prozess machen? Das wäre dann die Gerechtigkeit, nach der die Zeitungen schrien. Das neue Regime wurde von der Demokratischen Front gestützt. Es war ein populistisches Regime, eine Volksherrschaft: keine alten feudalen Gewohnheiten, keine weitere Anhäufung von Reichtum und Macht bei einer Elite. Man bot den Mitgliedern der Front nun Posten in der neuen Regierung an. Mein kommunistischer Dozent, der uns Rostows Modell erklärt hatte, war jetzt Finanzminister. All dies las ich in den Zeitungen, wenn Mama sie weggelegt hatte. Ich las einen Artikel über Babas Prozess von einem Studenten – denn die Studenten waren die Speerspitze der Revolution. Darin hiess es, dass jetzt Gerechtigkeit geübt werde und es keine bessere Strafe für Korruption gebe als die Konfiskation des Besitzes und den Strick. Der Artikel stammte von einem Studenten, den ich gut kannte. Anwar hatte ihn geschrieben.

Es gibt allerhand Schmerz und viele Stufen des Fallens. Während unserer ersten Wochen in London fühlten wir die Erde unter uns beben. Als man Baba schuldig sprach, brachen wir zusammen, die Wohnung wurde übervoll, Mama weinte, und Omar schlug die Tür zu und blieb die ganze Nacht weg. Als Baba gehängt wurde, klaffte die Erde, auf der wir standen, auseinander, und wir stürzten in die Tiefe, und der Sturz nahm kein Ende, schien kein Ende zu nehmen, als sollten wir auf ewig fallen und fallen, ohne je anzukommen. Als wäre dies unsere Strafe, eine bodenlose Grube, und jeder hatte die lauten Schreie des anderen im Ohr. Wir entfremdeten uns voneinander, weil wir einander noch nie hatten fallen sehen.

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