Kitabı oku: «Reflexion», sayfa 2
Patience
„Geh doch mal bitte dort zu der alten Anrichte. Unten in der mittleren Schublade, da liegt etwas für dich.“
Justine zieht die Schublade vorsichtig heraus und sieht Blöcke, Stifte und ein altes Adressbuch.
„Was genau meinst du, Tante Vally?!“
„Schau genau hin.“
Justine bückt sich etwas tiefer und sieht weiter hinten in der Schublade eine weitere Einlage, die ihr bisher nie aufgefallen war. Sie zieht sie vorsichtig heraus und findet zwei stoffbezogene Etuis. „Bring sie bitte hier her an den Tisch. Das Buch auch.“
Justine trägt die Gegenstände zum Küchentisch.
„Das sind meine beiden Kartenspiele. Jeden Winter habe ich mich darauf gefreut, sie wieder hervorzuholen. Ich habe nie im Sommer gespielt, denn da gab es andere Aufgaben. Auch wollte ich mir die Freude am Spiel ganz bewusst für die kalten, einsamen Tage aufbewahren.“
„Was hast du denn damit alleine gespielt?“
„Ich habe immer Patiencen gelegt. Dazu brauchst du niemanden. Du wirst sehen, es werden auch so genug am Tisch sitzen und es hilft, die Gedanken zu sortieren. Patience heißt übersetzt so viel wie Geduld. Und Geduld ist sicher auch etwas, was den meisten Menschen fehlt. Mir früher auch.“
Justine öffnet beinahe andächtig das erste Etui. Der mintfarbene Seidenstoffbezug ist ein wenig abgegriffen, doch unter den Fingerspitzen ganz zart anzufassen. In goldenen Lettern ist das Wort Patience eingeprägt. Die Spielkarten sind ganz klein und mit einem ebenfalls goldenen Kantenschnitt verziert. Obenauf liegt die Pik Dame und das Herz Ass, um das sich handgemalte Maiglöckchen ranken, weitere filigrane Zeichnungen auf jeder einzelnen Spielkarte. Die Rückseite ist blau oder rot und zeigt ein Vogelpärchen.
„Ich zeige dir, wie man eine Patience legt und dann spielen wir eine Zank-Patience gemeinsam.“
„Sehr gerne.“
Tante Valerie macht zwei Stapel, steckt die Karten mit einem Daumenstrich ineinander und hat einen großen gemischten Stapel in der Hand. Den Vorgang wiederholt sie drei Mal in nur wenigen Sekunden.
„Wahnsinn, wie du die Karten mischen kannst“, staunt Justine, als würde sie einem Zauberer beim Spiel zusehen.
„Ich habe sicher sechzig Jahre lang Karten gespielt, da weiß man, wie es geht. Ich zeige es dir später, üben musst du dann alleine.“
„Abgemacht.“
„Ich habe mir bei der Zank-Patience immer vorgestellt, dass jede Karte für eine Stimme in meinem Kopf steht. Natürlich stehen die Symbole im französischen Blatt eigentlich für etwas anderes.
Die Farbe Kreuz stellt als dreiblättriges Kleeblatt den Bauernstand dar. Pik steht als Lanzenspitze für den Adel, Karo für das teilweise aufständige Bürgertum und Herz für Güte und Geistlichkeit. Doch das war mir egal. Ich habe mir meinen eigenen Reim darauf gemacht.
Für mich gibt es die Dame, die für Haltung und innere Größe steht. Es gibt den König, der in seiner hoheitlichen Würde unerschütterlich ist. Und es gibt den neugierigen Buben, der ein wahrer Draufgänger ist und alles einfach mal ausprobiert. Und hier, das Ass“. Tante Valerie streicht mit den Fingern über die Karte, ohne sie zu berühren. „Es ist immer etwas ganz Besonderes. Mein Trumpf auf der Hand, mein Alleinstellungsmerkmal. Gerne habe ich beim Ass meine hohe Feinfühligkeit und Empathie als eine wunderbare Gabe gesehen, auch wenn sie manchmal belastet. Ähnliches erkenne ich bei dir“. Sie blättert weiter Karte für Karte um.
„Und es gibt die Zahlen, die in der Wertigkeit ihrer Ziffern die vielen Nebenstimmen ausmachen. Die leisen Debattierer, die Zwischentöne, all diese kleineren Anteile in mir. So habe ich für mich immer gesagt, dass das Zeichen Kreuz die Schwarzmaler in meiner Runde ausmacht. Immer, wenn ich eine neue Idee hatte, wurden sie laut und wollten mir diese so gut es geht vermiesen. Stets in der Hoffnung, ich würde dann gar nicht erst damit beginnen. Alles lieber gleich bleiben zu lassen, ist kein guter Ratgeber. Doch zum Glück gibt es auch das Pik im Spiel. Es war in seiner Form so angelegt, dass es auf mich stets ausgleichend und beruhigend wirkte. Und es hatte viel Macht, ja, es war für mich sogar das mächtigste Zeichen in der Runde, der Streitschlichter und Schiedsrichter. Das Pik sorgte dafür, dass das Kreuz mir meine Vorhaben nicht grundsätzlich madig machte, bat jedoch um ruhigen Bedacht und neigt nicht zur Überstürzung.
Karo war mit seinen vier Kanten mein Symbol für den Zweifel. Karo zögerte zunächst einmal aus Unsicherheit und Selbstschutz, nicht jedoch aus Geringschätzung. Karo ist wohlwollend, doch ängstlich. Ist das Symbol Karo erst einmal überzeugt und stimmt dann auch Pik noch zu, hat das Kreuz schlechte Karten. Das Symbol Herz steht für Willenskraft, Entschlossenheit und Vision, für Optimismus und Selbstliebe. Das Herz Ass ist die Karte aller Karten und kann sich, wenn nötig, auch ganz alleine gegen alle anderen Karten durchsetzen.“
Justine lauscht Tante Valeries Ausführungen gespannt. Was sie hier erfährt, wird sie von nun an ihr Leben lang begleiten.
Valerie fährt fort: „Es lag stets an mir zu entscheiden, welches von diesen Symbolen meine Aufmerksamkeit und Kraft erhält. Und jedes Mal aufs Neue war ich froh, alle Karten im Spiel zu haben, denn ohne sie hätte ich meine geliebte Patience nicht legen können. Verstehst du, was ich dir sagen will?“
„Ja, ich verstehe. Diese inneren Stimmen gehören zu uns und sind alle wichtig. Ohne den Schwarzmaler oder den Zweifler würde uns ein Regulierungsinstrument fehlen, hätten wir nur Herzkarten im Stapel, würden wir uns blindlings verrennen und in unser Unglück stürzen. Ich habe daher gelernt, alle Spielkarten willkommen zu heißen. Denn wie schrieb Hermann Hesse schon nieder: Gerade das ist es ja, das Leben. Wenn es schön und glücklich ist, dann ist es ein Spiel. Natürlich kann man auch alles Mögliche andere aus ihm machen… eine Pflicht oder einen Krieg oder ein Gefängnis, aber es wird dadurch nicht hübscher.“
„Kannst du mir verraten, wie du bloß so klug geworden bist, Tante Vally?“
„Das kommt von allein, wenn man eine gute Intuition besitzt. Und ich habe viel Zeit alleine verbracht, um mir selbst zuzuhören. Neben dem Alleinsein habe ich ebenso viele Gespräche mit interessanten Menschen geführt und ich habe unzählige Bücher gelesen. Zu unserem Gespräch jetzt fällt mir zum Beispiel „Der Steppenwolf“ ein, der Text ist auch von Hesse, geschrieben 1927.“
„Ja, das Buch steht in deiner Bibliothek, ich habe es bereits gelesen und konnte mich in seinen Gedanken oft wiederfinden. Auch mir geht’s oft so wie Harry… ich suche auf der einen Seite die absolute Freiheit und Abgrenzung. Und dann erschrecke ich aber rasch wieder vor meiner Endgültigkeit… vor der drohenden Vereinsamung und Beziehungslosigkeit, weil sich tief in mir drin auch große Anteile nach einer Zugehörigkeit und Verbundenheit sehnen.“
„Dieser Text trifft jeden einfach gerade so, wie man sich selbst in diesem Moment mit einer eigenen Identifizierung in der Gesellschaft fühlt. Wenn man das Buch zehn Jahre später wieder zur Hand nimmt, erzählt es eine andere Geschichte und nochmal zehn Jahre später wieder. Denn wie so oft gibt es nicht nur diese eine, radikale Seite der Medaille. Es geht nicht darum, sich alleinig über dieses Anderssein zu identifizieren. Es geht vielmehr darum, es für sich herauszuarbeiten und dann einen bewussten Umgang damit zu finden. Revolution gegen alles und jeden ist einfacher als eine differenzierte Betrachtung aller Dinge“. Valerie lehnt sich auf dem Stuhl zurück und schaut Justine an. Die Blicke treffen sich und für einen Moment hat Justine das Gefühl, sich selbst gegenüber zu sitzen. Es ist, als würde sie mit sich selbst als ältere Dame sprechen. Jede Bewegung von Valerie strahlt eine souveräne Gelassenheit aus, sie ist so elegant, ohne sich dafür irgendwie anstrengen zu müssen.
„Beim Lesen kam mir durchaus der Impuls, dass diese Radikalität zwar in mir veranlagt ist, aber nicht über mich herrscht. Die Gesellschaft ist für mich nicht nur primitiv und oberflächlich.“
„Genau. Ich lade dich ein, es neu zu betrachten. Du bist schon auf dem richtigen Weg und es ist eine große Freude, mit dir in dieser Form sprechen zu können“. Valerie überschlägt ihre Beine, bevor sie fortfährt.
„In diesem Werk merkt man mit der Zeit, dass dem jungen Mann die Schönheit des Ichselbstseins abhanden gekommen ist. In dem Werk wird die Isolation kaum noch als Freiheit wahrgenommen, nein. Sie bildet viel mehr die Form einer neuen Knechtschaft. Schon in der Renaissance hat die Individualisierung des Menschen begonnen und das ist auch gut so. Aber eines, das sollten wir nicht tun, und zwar den Individualismus zu radikalisieren.“
Valerie setzt ihre Lippen an den Becher, trinkt einen großen Schluck vom Tee und sammelt ihre Gedanken.
„Hesse schreibt weiter: „Alleine durch den Nebel zu wandern, das ist unser Schicksal“, doch er weiß auch, dass wo wir uns oder einem Gegenüber begegnen, Liebe vom Glück untrennbar voneinander sind. Die Einsamkeit gehört sicher zu einer der Grunderfahrungen menschlicher Existenz, sie lehrt uns, einen Eigensinn zu entwickeln und somit wieder gesellschaftsfähiger zu werden. Lies das Büchlein mit dieser Betrachtung in den nächsten Jahren nochmal und du wirst genau verstehen, was ich meine.“
Ganze drei Stunden sitzen sie beisammen und legen verschiedene Spielarten.
Bei der Zank-Patience gibt es auch Stapel, die außen liegen. Tante Vally bezeichnet diese als „faule Haufen“, womit auch der Müßiggang einen Platz im Kartenspiel des Lebens findet. Beide lachen herzhaft.
„Da du das Rätsel um dein verborgenes Erbe im Sandsteinkeller prima alleine gelöst hast, wirst du auch diesen Winter gut überstehen. Ich bin mir sicher. Zeig mir, dass du auch alleine Freude haben kannst“, motiviert Valerie und faltet ihre Hände zusammen, um sie auf dem überschlagenen Knie aufzustützen.
„Das mache ich! Und danke für das Vermächtnis. Für die schöne, eiserne Schmuckkassette mit den Tauben darauf, für den Wein, den Whisky… das Landhaus. Danke für alles.“
„Sehr gerne. Den Wein kannst du auf Auktionen anbieten, wenn du Geld für das Haus benötigst. Dort wird er dir am meisten einbringen. Ich hatte auch von Zeit zu Zeit einige Flaschen verkauft, wenn ich Geld brauchte oder etwas spenden wollte. Gerne bin ich selbst mit dem Zug zu den großen Auktionshäusern gereist, das war eine wunderbare Abwechslung zu meinem Leben hier und ich konnte sicher sein, dass der Wein auch dort ankommt. Eine Auktion in Baden-Baden hatte all meine Erwartungen übertroffen und drei Flaschen brachten mehr als das doppelte von dem ein, was ich erhofft hatte. Damit konnte ich die Kamineindeckung auf dem Dach neu machen lassen.“
„Ok, dann will ich es genauso machen wie du früher. Wissen denn die Weinsammler, dass du noch mehr von dem Wein hast?“
„Nein. Das weiß außer dir niemand und das würde ich an deiner Stelle auch so beibehalten. Es sind einzelne Jahrgänge, somit wird keine der Flaschen ein zweites Mal irgendwo durch dich in den Umlauf gebracht“.
Und dann wird Tante Valerie ernst.
„Draußen wird es langsam morgen und ich muss mich verabschieden. Doch bevor ich gehe, möchte ich nochmal auf unser vorheriges Gespräch über Herrmann Hesse zurück kommen. Ich erzähle dir noch eine Geschichte. Im 13. Jahrhundert gab es mal einen Kaiser, der befahl, Neugeborenen neben der Grundversorgung keine Liebe und körperliche Zuneigung zu geben. Die Kinder verstarben.“
„Ich habe in der Schule mal davon gehört.“
„Gut. Was ich dir sagen will… du musst hier nicht alleine leben. Glück und Leid, Liebe und Abschied, Geben und Nehmen. Das Leben braucht von Zeit zu Zeit einen Antagonisten, möge es auch noch so reduziert und zurückgezogen sein.“
„Ja, dieser Gedanke mit dem Gegenspieler, der kam mir bereits…“
„Ich kann es dir aus meiner Erfahrung berichten… die Einsamkeit durchläuft verschiedene Reifegrade und ihr Erleben ist auch eine Persönlichkeitsfrage. Einigen gelingt es besser, die Einsamkeit auszuhalten oder gar als Geschenk zu betrachten, anderen deutlich schlechter. Doch glaube mir, spätestens auf den letzten Metern deines Lebensweges, wenn der körperliche Verfall eingesetzt hat und Danke zur meist verwendeten Vokabel wird, ist es gut, etwas sehr Wichtiges gelernt zu haben. Und zwar, Hilfe annehmen zu können. Und um Hilfe erhalten zu können, muss man mindestens ein Teil der Gesellschaft sein und… so gebührt es der Anstand, selbst einmal Hilfe gegeben haben“. Valerie blickt ernst und streichelt dabei Justines Hand.
„Deine Taube ist ein ganz bezauberndes Geschöpf und ich bin froh, dass ihr euch gefunden habt. Und auch dein Bedürfnis nach völliger Ruhe ist nachvollziehbar. Doch hole dir bitte Menschen oder Tiere hinzu, wenn dir die Isolation nicht mehr gut tut. In meinen besten Zeiten hier hatte ich fünf Katzen. Zwei vom Bauern, die anderen sind mir zugelaufen. Anfangs waren sie scheu, doch zum Schluss saß ich keinen Abend mehr alleine vor dem Kamin. Deine Tierliebe ist so groß, erlaube dir ruhig diese Art der Gesellschaft. Du bist nun hier angekommen und hast alles im Griff, auch wenn es sich für dich vielleicht nicht immer so anfühlt“… Valerie spricht mit einer Überzeugung, die auch für Justine keine Bedenken oder Widerworte mehr zulässt.
„Du hast recht, ich werde mich ganz bald umsehen. Denn, ganz ehrlich… bin selbst froh, wenn ich nicht mehr ganz alleine hier lebe“, Justine muss kurz an die angenehme Gesellschaft von Leopold denken und seufzt.
„Jetzt verrate ich dir noch etwas, meine liebe Jus. Dein Wegbegleiter ist schon auserwählt, er wartet bereits auf dich.“
Jetzt macht Justine große Augen. „Wirklich? Wie kann ich ihn denn erkennen?“
„Das wirst du, mein Kind, das wirst du.“
Tante Valerie steht auf und nimmt Justine fest in den Arm. Justine möchte ihren Duft einatmen, doch sie riecht nur sich selbst und einen Hauch von Lavendel, der in getrockneten Sträußen über ihren Köpfen an der Decke baumelt. Dann macht Valerie eine Handbewegung, die Justine zum Verbleiben auffordert und geht zur Tür, winkt kurz und ist verschwunden. Als Justine nach ein paar Sekunden aufsteht und ihr nach geht, sieht sie draußen nur noch das Morgenrot, das sich glitzernd den Weg durch Frühtau bahnt. Ein Waldkauz ruft. Die Erde dampft.
Eigensinn
Als Justine auf Wollsocken im Eingangsbereich steht, bildet sie sich ein, auf dem von Valerie gemalten Porträt ein etwas breiteres Lächeln zu sehen. Zurück in der Küche will sie die Tassen abräumen, da ist der Tisch leer und der Ofen noch aus. Sie hatte bloß geträumt… und dann kommen ihr die Tränen.
Wie gut es tat, für den Moment nicht alleine gewesen zu sein und nun war doch bloß wieder alles eine Illusion. Das Gesagte aber, das bleibt mir doch.
Justines Körper schüttelt sich. Dann geht sie zu dem alten Schrank in der Küche und ruckelt am Knauf, der ein wenig klemmt. Und siehe da, ganz hinten in der mittleren Schublade ist die Einlage mit den Kartenspielen. Sie nimmt das erste Etui heraus und öffnet vorsichtig den Deckel. Dort liegen die Karten genauso, wie sie es geträumt hatte. Daneben das Buch, in dem die verschiedenen Spiele erklärt sind.
„Danke, Tante Vally. Das bedeutet mir so viel.“
Seit diesem Tag beginnt die Lebensfreude und der Tatendrang wieder in Justine zu pulsieren. Sie möchte die Lethargie abstreifen und wie Leopold damals als einen Hut an die Garderobe hängen. Als sie ins Entrée geht, hängt dort tatsächlich wieder der schwarze Hut. Leopold war also doch kurz da. Justine nimmt ihn ab und fährt mit der Hand an der Krempe entlang. Und der Joker lacht aus seinem goldenen Rahmen. Sie lächelt zurück, hängt den Hut zurück an den Haken und geht hinaus in den Garten. Einfach so, ganz ohne Aufgabe, ohne Funktion. Nur lustwandeln, trotz aller Kälte. Sie pflückt einen Strauß von den ersten Schneeglöckchen, die überall in kleinen Nestern aus dem Boden sprießen. Justine hätte schwören können, dass sie gestern noch nicht da waren, doch wahrscheinlich hat sie gar nicht danach geschaut. Sie atmet erleichtert auf, denn diese zarte, weiße Blüte läutet ganz leise zwar nur, aber immerhin, das Ende des Winters ein. Als sie wieder ins Haus kommt und die warme Jacke abstreift, sind alle Haken an der Garderobe wieder frei.
Nachdem der Strauß in der kleinen goldbemalten Vase drapiert ist, beginnt sie, im Haus klar Schiff zu machen, denn zu viel war zuletzt vor lauter lähmender Unlust liegen geblieben. Sie öffnet die alten Schränke im Gästezimmer, das sie seit Leopolds Weggang nicht mehr betreten hatte. Dort sieht sie Berge an Bettwäsche und Tücher aus Leinenstoff liegen, die sie selbst gar nicht so gerne benutzt.
Was mache ich nur damit? Sie überlegt einen Moment, dann hat sie einen Plan. Kurzerhand greift sie Stapel für Stapel und stopft sie in große Umzugskartons. Das Leinen war irgendwann mal frisch gewaschen worden, dann gemangelt und zusammengelegt, riecht allerdings ein wenig nach altem Schrank. Zum Glück waren keine Motten dran. Justine entscheidet sich, alle Tischdecken und Stoffservietten, vier von den Spannbetttüchern und Bettwäsche-Sets zu behalten. Den Rest will sie dem Tierschutz spenden, wenn sie bald wieder mit dem Radanhänger fahren kann.
Justine holt sich etwas vom Tauwasser herein und wäscht alle Decken einmal durch, hängt sie dann in der Küche zum Trocknen auf. Als Nächstes sammelt sie im Wald Tannenzapfen, Birkenrinde und gebrochene Zweige für das Anzünden des Feuers, denn ihr Vorrat an Zunder ist so gut wie aufgebraucht. Zuletzt sortiert sie die Einmachgläser im Schuppen der Größe nach.
Weiter geht’s im Sandsteinkeller. Bei all der Bewegung kommt sie richtig ins Schwitzen. Und als Jus dort unten beim Räumen in den Regalen durch Zufall noch einen Beutel Reis findet, ist sie ganz aus dem Häuschen. Über was man sich alles so freuen kann, stellt sie überrascht fest. In einer europäischen Welt, in der es doch fast alles im Überfluss gibt, was hat ein Beutel Reis da noch für eine Bedeutung?
Jus weiss sofort, was sie damit anstellen möchte. Draußen an den alten Holunderstämmen hat sie kürzlich etwas für sie ganz Besonderes entdeckt, denn daran wachsen braune Pilze, die man Judasohren nennt. Justine hat in einem Buch über Heilpflanzen darüber gelesen. Die Baumpilze haben den Namen von einer Sage zur Zeit Jesu, gehören zur Gattung der Ohrlappenpilze und werden auch als Heilpilze eingesetzt.
In der Zubereitung sollen sie ähnlich zu verwenden sein die Mu-Err-Pilze, die Justine aus der asiatischen Küche kennt. Sie brät die Pilze gemeinsam mit zwei roten Zwiebeln scharf an und gibt dann einen Schuss Sojasauce und Kokosmilch hinzu. Abgeschmeckt wird das Pfannengericht mit der Vadouvan-Gewürzmischung aus dem Alten Gewürzamt, die neben Kurkuma, Kreuzkümmel und Curryblättern auch Erdnussöl enthält. Als der Reis fertig gekocht ist, richtet sie in einem tiefen Teller an. Im Mörser zerkleinert sie Erdnüsse und Sesam, die sie gemeinsam mit etwas getrockneter Chili darüber gibt. Nach den ganzen Bohnengerichten war diese spannende geschmackliche Abwechslung eine Wohltat. Ich kann es kaum erwarten, bis der Frühling endlich kommt. Doch Moment… was hatte Tante Vally gesagt?
„Patience, Justine! Nur Geduld. Die Rolle des Vergänglichen ist es gleichermaßen, das Leben stets wieder neu hervorzubringen. Der Winterschlaf der Natur ist eine Einladung zur Rast auch für den Menschen. Wir haben das nur vor lauter Kommerz vergessen.“
An diesem Abend öffnet Justine seit Wochen zum ersten Mal wieder eine gute Flasche Rotwein und beginnt mit dem Patience legen, nachdem Amie ihren Schlafplatz auf den Geschirrtüchern eingenommen hat.
Sie mischt die Karten und beginnt, sie auszulegen. Anfangs konzentriert sie sich sehr auf das Spiel, doch mit der Zeit beherrscht sie die Spielzüge so sicher, dass ihre Gedanken immer wieder abschweifen.
Musizieren? Ich und Musizieren.
Justine zieht eine Karte vom Stapel… es ist die Kreuz 10. Sie pöbelt sofort los: „Musizieren?! Dass ich nicht lache. Du kannst ja noch nicht mal Noten lesen! Lass es sein, es wird dir nichts bringen.“
Die nächste Karte ist ein Herz Bube: „Na los, fang einfach an, was soll schon groß passieren. Jemand hat mal gesagt: Lieber unperfekt anfangen, als perfekt zu zögern!“
Dann die Karo 5: „Wenn es nicht klappt oder dir nicht gefällt, dann wirst du vielleicht enttäuscht sein. Du weißt, wie schnell du frustriert bist.“
Es folgen zwei weitere Karten mit der Farbe Karo. Jede Karte bringt wohlwollend ihre Bedenken hervor. Dann der Kreuz König. Justine merkt, wie sie innerlich zusammen zuckt. Sie setzt sich aufrecht hin und spricht: „Na, dreiblättriger König, was hast du mir zu sagen?“. „Justine, wenn man etwas nicht kann, sollte man es sein lassen. Und du bist musikalisch völlig talentfrei und das weißt du auch. Also was soll das bitte?“. Jus streckt der Karte die Zunge raus, findet aber dennoch einen geeigneten Platz auf dem Spieltisch für sie.
Dann die Herz Dame: „Liebes, du hast gar nichts zu befürchten. Folge dem Weg deines Herzens und sing zunächst einmal aus voller Brust. Du hast doch schon oft gesungen und es hat dir jedes Mal gut getan und dich befreit.“
Es dauert noch gut zehn Spielzüge, bis das erste Mal der Pik König ins Spiel kommt. Wieder verändert Justine ihre Haltung. „Eure Hoheit, darf ich Sie mit einem Konzert beglücken? Auch, wenn ich nicht musikalisch bin?“
Der Pik König spricht nicht, sondern beginnt, den Takt vorzugeben. Justine hört die Melodie von Gloria Gaynor heraus und beginnt beim zweiten Ansetzen, leise zu singen.
„I am what I am, and what I am…“
Sie stockt. Klingt gar nicht so schlecht, dafür, dass ich nicht singen kann. Der König verhält sich ganz leise. Er drängt nicht, er bemängelt nicht, er buht sie nicht aus. Er liegt einfach gedruckt auf einem Stück Papier vor ihr, so wie einst die Joker-Karte, die sie in Hamburg am Wegesrand fand. Wie ging es nochmal weiter? Sie setzt nochmals etwas lauter an und nach drei weiteren Versuchen singt sie aus voller Kehle. „I am my own special creation… I bang my own drum, some think it‘s noise, I think it`s pretty“.
Amie schaut sie mit ihren runden Taubenaugen an, bleibt aber ruhig sitzen. Justine singt alle Lieder, die ihr spontan einfallen. Sie singt so lange, bis ihr der Hals ein wenig schmerzt. Erst dann macht sie eine Pause. Gut.
Dann der Kreuz Bube: „Und nun? Das war jetzt Singen. Zum Musizieren gehört aber schon noch etwas mehr.“.
Pah, schon sein Tonfall alleine. „Musst du mich immer hetzen, du Sklaventreiber? Kannst du mich nicht mal machen lassen, verdammt nochmal!“. Doch ganz von der Hand weisen kann sie sein Argument natürlich auch nicht… denn bisher hat sie nur gesungen.
Justine steht auf und schleicht suchend in der Küche umher. Die Gießkanne! Sie hat mal in irgendeiner Fernsehsendung gesehen, wie dort jemand auf einer Gießkanne Trompete spielte und probiert es gleich selbst aus. Nachdem sie den Aufsatz abgenommen hat, bläst sie mit voller Wucht in die Kanne. Das Ergebnis ist eher miserabel. Na, nicht gleich aufgeben, würde eine Herzkarte mich jetzt ermuntern. Eine große Blechschüssel und eine Gabel machen dann immerhin Krach, doch mit einer Melodie hat das auch nichts zu tun. Außerdem flattert die Taube aufgeschreckt auf. „Sorry, Amie. Ich hör schon auf.“
Dann trommelt sie mit der Handfläche einen Beat auf der Tischplatte, der ihr gut gefällt. Eine Rassel wäre noch prima. Justine geht zu der Dose mit den Kronkorken und schüttelt daran. Nein, das hat zu wenig Klang. Da fällt ihr beim Brennholz eine Astgabel auf, die auch für den Bau einer Steinschleuder geeignet wäre. Das ist es! Aber es fehlt noch was. Sie wühlt in einer der Schubladen nach einem Stück Draht, bohrt ein Loch in die Mitte der Kronkorken und reiht sie alle nacheinander auf den Draht auf. Dann spannt sie den Draht so fest es geht zwischen die Astgabel und testet ein erstes Mal die selbstgebaute Rassel. Justine staunt, wie gut das klingt und schlägt dazu den Beat auf dem Tisch. Jetzt muss ein flotterer Song her.
Am gleichen Abend wickelt Justine noch bunte Wollfäden aus Tante Valeries Strickkasten um die beiden Ast-Enden und staunt nicht schlecht, wie hübsch ihre erste Selfmade-Rassel geworden ist. Für einen kurzen Moment ist sie ganz Kind und trällert die Kinderlieder, die ihr in den Sinn kommen. „Hey Pipi Langstrumpf… ich mach mir die Welt, wide wide wie sie mir gefällt“.
Was für ein Spaß…
Für einen Moment bin ich die Dirigentin meines Lebens… und darüber hinaus noch so viel mehr. Das Orchester, die erste Geige, jedes einzelne Musikinstrument, Bass, Stimme und Melodie. Ich gebe den Ton an.
Erst weit nach Mitternacht schläft Justine ein. Seit diesem Abend fühlt sich Justine nicht mehr alleine mit der Stille, sondern darin geborgen.
Heimat finden wir nur in uns selbst.