Kitabı oku: «Blackwood», sayfa 2
Kapitel 2
Einige Sekunden lang starrte Lively die Frau ertappt an. Verdammt, sie war so kurz davor. Sie spürte es einfach. »Wieso nicht? Es würde niemandem auffallen.«
»Sie sind nicht für eure Augen bestimmt.«
Lively schnaubte und richtete sich auf. In ihr brodelte es und die Nonne sollte sich lieber in Acht nehmen. Sie wollte diese Akten, sie waren der verdammte Grund, wieso sie hierhergekommen war. Also würde sie sie bekommen. »Schwester Josepha, ich bitte Sie. Es ist fünf Jahre her, dass wir dieses Heim verlassen haben. Wir werden verkraften, was Sie über uns vermerkt haben.«
Der Blick in Josephas verengten Augen traf ihren. Er war so kalt und berechnend, dass sie selbst kurz erschauderte. Wie hatte sie sich nur einbilden können, diese Frau zu täuschen? Sie kannte sie besser als die meisten anderen.
»Ich weiß, dass es die Informationen über eure Herkunft sind, auf die du aus bist.«
Ein Anflug von Triumph wallte in ihr auf. Sie schlug mit einer Hand flach auf den Tisch. »Ich wusste es! Es gibt doch welche.« Tee schwappte über den Rand ihres Bechers und spitzte auf ihre Hand. Sie zog sie zurück und ignorierte den Schmerz. »Sie haben uns immer gesagt, dass über unsere Eltern nichts bekannt war.«
Josepha schnaubte. »Das sagen wir jedem.«
Lively spürte, wie Hitze ihren Hals hinaufkroch. Sie zog die Hand auf dem Tisch zitternd in eine Faust. Wenn diese Frau ihr nicht bald …
»Lively«, sagte Jack beruhigend. Ihr Blick zuckte kurz zu ihm, aber sie beachtete ihn nicht weiter.
»Wir haben ein Recht darauf, zu erfahren, wo wir herkommen.«
»Vielleicht habt ihr das.« Josepha ließ sich von Livelys Wut nicht aus der Ruhe bringen. »Doch es gibt Bestimmungen, an die ich mich halten muss.«
Das reichte! Lively sprang auf und krachend landete der Stuhl hinter ihr auf dem Boden. »Nach allem, was sie Ihnen angetan haben, halten Sie eher zu diesen Bürokraten als zu uns? Sie haben uns aufgezogen! Sie kennen uns besser als die meisten. Und das ist Ihnen nichts wert?«
Josepha schnaubte. »Ich bin nicht eure Mutter. Aber was viel wichtiger ist: Ich weiß, dass euch die Erkenntnis nicht glücklich machen wird. Ihr habt es über zwei Jahrzehnte ohne eure Eltern geschafft. Wenn ihr jetzt in eurer Vergangenheit grabt, kann das Dinge hervorbringen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Manches bleibt lieber im Verborgenen.«
»Aber es ist unsere Entscheidung!«, rief Lively aufgebracht. Es gelang ihr nicht mehr, die Verzweiflung aus ihrer Stimme fernzuhalten.
»Ja.« Jack streckte seine Hand aus und umfasste ihre. Nun wandte sie ihm doch den Blick zu. »Es ist unsere Entscheidung. Nicht deine allein.«
Fassungslos starrte Lively ihn an. Sie war so nah, so verdammt nah und jetzt war es Jack, der sich ihr in den Weg stellte? Ihr eigener Bruder? Dabei hatte sie die Akte doch nicht nur für sich, sondern für sie beide haben wollen. Forschend glitt ihr Blick über sein Gesicht. War er denn gar nicht neugierig? Sie spürte, dass seine Finger zitterten. Er hatte Angst. Trotzdem hätte er sich nicht so gegen sie stellen müssen.
Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte Jacks Griff ab. Dann schaute sie wieder zu Josepha. Vielleicht war noch nicht alles verloren. »Wollen Sie ihnen nicht eins auswischen? Der Kirche meine ich. Wie viele Jahre haben Sie für sie gearbeitet und nun treten sie Sie mit Füßen. Wenn eine Akte fehlt, werden sie das kaum merken. Aber es wäre eine stille Rebellion.« Sie wartete nicht, bis Josepha antwortete, sondern überquerte den Schritt, der sie trennte und umfasste die Hand der alten Nonne.
»Schwester Josepha«, sprach sie so eindringlich, dass sie sich nicht sicher war, ob es albern wirkte. »Wir sind erwachsen. Wir haben das Recht, selbst zu entscheiden, was mit unseren Leben geschieht. Sie sind nicht mehr die Kinderheimmutter, die ihre schützende Hand über uns halten muss. Wir sind frei. Und bevor Sie ins Exil geschickt werden, kann es Ihre letzte Tat sein, uns ein komplett freies Leben zu ermöglichen.« Lively lächelte und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen, während sie ihren Kopf weiter nach Argumenten durchsuchte, die die Nonne überzeugen konnten. »Wie heißt es noch gleich in der Bibel?«, fragte sie. »Man soll Vater und Mutter ehren. Wie sollen wir das tun, wenn wir noch nicht einmal wissen, wer sie sind - oder wer sie waren?«
Josepha lachte trocken auf. »Wie ehrenhaft, Lively. Dabei hatte ich nie den Eindruck, du hättest der heiligen Mutter Kirche viel Aufmerksamkeit geschenkt. Schön, dass sich das in den letzten Jahren geändert hat.« Sie streifte Livelys Hände ab und erhob sich, um ihre Tassen einzusammeln. »Also gut«, sagte sie plötzlich. »Ihr bekommt die Akte.«
»Was?«, fragten Jack und Lively wie aus einem Mund. Sie konnte sich den Anflug eines Grinsens nicht verkneifen, auch wenn sie sah, dass sich in Jacks Gesicht das Gegenteil von ihrer Begeisterung spiegelte. Oder gerade deswegen.
»Unter einer Bedingung«, ergänzte die Nonne schnell.
Lively stöhnte auf, verdrehte die Augen und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Das wäre ja auch zu einfach gewesen. »Was sollen wir tun? Unsere erstgeborenen Kinder der Kirche opfern?«
»Sarkasmus steht dir immer noch nicht«, entgegnete Josepha trocken. »Nichts dergleichen. Aber dein Bruder hat recht. Es geht nicht nur dich etwas an, mein Kind, sondern auch ihn. Ihr werdet die Akte bekommen, wenn ihr beide zustimmt. Vor heute Abend natürlich, denn da wird sie wie all die anderen abgeholt. Danach habe ich mit diesem Kinderheim abgeschlossen.«
Lively schaute von Schwester Josepha zu ihrem Bruder, der mit überschlagenem Bein am Tisch saß und nachdenklich an die gegenüberliegende Wand starrte. Er sah blass aus.
»Ich will es nicht wissen«, sagte er leise. Seine Stimme zitterte.
»Aber wieso nicht?«, fragte Lively. »Jacky, es geht um unsere Vergangenheit. Es geht darum, wer wir sind.« Es machte sie verrückt, dass die Chance auf die Antwort auf all ihre Fragen direkt vor ihrer Nase baumelte, der Dickkopf ihres Bruders jedoch dafür sorgte, dass sie unerreichbar für sie wurde.
»Ich weiß, wer wir sind«, entgegnete Jack mit eben der Ruhe, die sie jedes Mal schier wahnsinnig werden ließ. »Wir sind Jack und Lively Harpins. Und auch wenn nur irgendeine Behörde uns diesen Namen zugeteilt hat, kann ich damit doch mehr verbinden als mit dem Namen unserer Eltern, wenn wir ihn denn herausfinden würden. Es gibt einen Grund, wieso wir nicht bei ihnen aufgewachsen sind. Einen Grund, wieso wir hier in diesen trostlosen Wänden unsere Kindheit verbracht haben und nicht in einem behüteten Zuhause. Und egal, wie er aussieht - ich glaube, es ist mir lieber, ihn nicht zu wissen. So kann ich mir jedenfalls einbilden, dass sie dazu gezwungen waren, uns wegzugeben. Dass andere Umstände der Auslöser dafür gewesen waren und nicht ...« Er schluckte.
Seine Fassade bröckelte und Lively sah, dass ihn dieses Gespräch mehr bewegte, als er es zugeben wollte. Sanft drückte sie seine Hand. Sie kannte Jack. Er war vorsichtig, er hasste Veränderungen, aber sie wusste, dass er tief in seinem Innern genauso neugierig war wie sie. Aber wenn er der Meinung war, sie beide zu beschützen, konnte er das leicht untergraben. »Aber ich will es wissen«, sagte sie leise. »Verbau mir nicht die Chance auf meine Vergangenheit. Ich werde die Akte lesen und dir nichts davon verraten, wenn du es nicht willst.«
Jack seufzte vernehmlich und führ sich mit der Hand durch das Gesicht. Lively erkannte Ringe aus Falten um seine Augen. Wieso sah er so müde aus? »Wir beide wissen, dass du das kaum für dich behalten können wirst.«
»Ich bin kein Kind mehr, Jack«, entgegnete Lively. »Wenn ich dir sage, dass ich dir nichts verrate, dann kannst du dich darauf verlassen. Und du kannst deine Meinung jederzeit ändern.«
»Genau das macht mir ja Angst.« Er schüttelte vehement den Kopf. »Meinetwegen. Nimm die Akte, wenn es dich glücklich macht. Grabe so viel in der Vergangenheit, wie du willst und buddel alle Leichen aus, die dir zwischen die Finger kommen. Aber lass mich aus dem Spiel.« Er verengte die Augen. »Keine Andeutungen.«
»Keine Andeutungen«, echote Lively.
»Kein verräterisches Lächeln.«
»Kein verräterisches Lächeln.« Lively lächelte und verdrehte die Augen. »Manchmal denke ich, ich bin in deinen Augen immer noch das kleine Mädchen, das dir im Heim Streiche gespielt hat.«
»So ist es auch«, entgegnete Jack. Er erhob sich und musterte sie auf eine merkwürdige Art und Weise. Dann nickte er in Schwester Josephas Richtung. »Gebt ihr die Akte.«
Er drehte sich um, griff beim Hinausgehen nach Mantel und Hut und flüchtete in den Regen.
Kapitel 3
Jack setzte sich im Gehen den Zylinder auf den Kopf und zog die Krempe tief über seine Augen. Das Herz wummerte in seiner Brust und die Gefühle, die in ihm tobten, waren ihm vollkommen fremd.
Seine Schritte gingen im Prasseln des Regens beinahe unter. Er spürte, wie die Feuchtigkeit unter seinen Mantel drang und wünschte sich, er wäre bereits zu Hause.
Zweiundzwanzig Jahre. Zweiundzwanzig Jahre, in denen er nicht gewusst hatte, wo er herkam. In denen er nicht gewusst hatte, wer er war.
Es wäre gelogen, zu behaupten, dass er sich nie nach Eltern gesehnt hatte. Dass er nie vor dem Spiegel gestanden und sich gefragt hatte, ob seine schiefe Nase eher von seinem Vater oder von seiner Mutter abstammte. Ob einer von beiden auch Probleme damit gehabt hatte, die leicht gelockten Haare zu bändigen. Ob sie ihm als Kind vorgesungen hatten und ob sie ihn überhaupt angeschaut hatten, bevor sie ihn im Heim abgegeben hatten. Oft hatte er andere Kinder mit neidischen Blicken verfolgt, wenn er sie mit ihren Eltern in der Stadt gesehen hatte, wie sie Hand in Hand durch die engen Gassen schlenderten oder auf den Feldern neben der Stadt Drachen steigen ließen.
Aber im Gegensatz zu den anderen elternlosen Kindern im Heim war Jack nie einsam gewesen. Dank Lively. Jedes Mal, wenn er gedacht hatte, dass ihm etwas fehle, hatte er nur seine Schwester ansehen müssen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen.
Er war wahnsinnig glücklich, sie zu haben. Sie gehörten zusammen, sie ergänzten sich. Genau deswegen wollte er nicht in ihrer Vergangenheit herumstochern. Er hatte Angst, dass es irgendetwas zwischen ihnen ändern würde.
Trotzdem fragte Jack sich, ob er sich nicht falsch entschieden hatte. Ein winziger Teil von ihm wollte auch wissen, was in dieser Akte stand, die Neugierde machte ihn fast wahnsinnig. Aber wenn er es ignorierte, wenn er so tat, als sei nie etwas gewesen, vielleicht konnte er Lively und sich selbst dadurch schützen. Er wusste nicht, was auf sie wartete, welche Enthüllungen, welche Geheimnisse. Verdammt, sie waren doch zufrieden! Sie hatten ein beschauliches Leben, er hatte eine Arbeit und konnte sie beide ernähren. Wieso wollte Lively das aufs Spiel setzen?
Aber vielleicht reagierte er auch über. Vielleicht stand in den Akten gar nichts, nur irrelevante Informationen, die Livelys Neugierde beruhigen würden und dafür sorgten, dass sie diesen Gedanken an ihre Herkunft für immer begrub. Wie es auch ausging: Jack war sich sicher, dass er es früher oder später erfahren würde. Denn wenn seine Schwester eines nicht konnte, dann ein Geheimnis für sich behalten. Vor allem, wenn es sich um ein Geheimnis von solcher Bedeutsamkeit handelte. Der Teil von ihm, der es wissen wollte, war aufgeregt. Aber er wusste nicht, was er denken sollte.
Eine Pferdekutsche preschte an ihm vorbei und schleuderte Wasser von der Straße auf den Gehweg vor ihm. Wie automatisch steuerten seine Schritte weg von dem Kinderheim. Er musste fort von hier, fort von den erdrückenden Erinnerungen, die an seinen Gedanken zupften und sich einen Weg in sein Bewusstsein bahnten. Wenn er ein bisschen Abstand zwischen sich und das Gebäude gebracht hatte, ging es ihm sicher besser. Er trat auf die Straße und stieß die Luft aus. Nachdenklich hob er das Gesicht zum Himmel und genoss den feinen Regen, der seine Haut besprenkelte. Er schloss für einen Moment die Augen und dachte an gar nichts.
Die Luft wog schwer von der Feuchtigkeit und das Geräusch des niederprasselnden Wassers überspielte den Lärm der Stadt. Trotz allem war da etwas in ihm, das sich nach Veränderung sehnte. Aber vielleicht entstammte diese Regung nicht ihm selbst, denn es war ihm, als gierte jeder Mensch im Moment danach, dass etwas passierte. Als läge eine zittrige Erwartungshaltung in der Luft, die er mit jedem Atemzug tief in seinen Körper aufnahm.
Mit einem Mal ergriff eine seltsame Spannung von ihm besitz. Ein Jucken, das sich von seinem Nacken den Rücken hinab ausbreitete. Er senkte den Kopf, rückte den Hut zurecht und schaute sich um. Er fühlte sich beobachtet. Sein Blick glitt die Straße hinauf und hinab. Die verschmutzte und aufgebrochene Straße. Schlamm, der sich an der seitlichen Rinne sammelte und bergabwärts lief. Aber keine andere Person außer ihm selbst. Er drehte sich um die eigene Achse und blickte zurück auf das Tor des Kinderheims, das er hinter sich geschlossen hatte. Doch auch von Lively war keine Spur.
Das Gefühl wollte nicht vergehen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten auf dem Bordstein, festgeklebt wie ein Fleck von ausgelaufenem Öl. Er drehte sich um, doch sobald sein Blick klar wurde, war er verschwunden.
Er stutzte. Hatte er sich das gerade nur eingebildet? Vielleicht war es aber auch nur eine schwarze Katze gewesen, die sich auf seine ruckartige Bewegung hin ins Gebüsch geflüchtet hatte. Beiläufig zuckte er mit den Schultern, doch in diesem Moment erklang ein Geräusch. Ein Lachen, leise. Kurz. Doch so nah, als würde jemand direkt hinter ihm stehen und ihm ins Ohr flüstern. Jack zuckte zusammen und wirbelte herum. Doch niemand war da. Niemand stand auf dem Bordstein und machte sich einen Spaß daraus, ihm Angst einzujagen.
Er schnaubte und schüttelte den Kopf über seine eigene Schreckhaftigkeit. Scheinbar hatten die Geister der Vergangenheit noch immer nicht von ihm abgelassen. Jack vergrub die Hände tief in den Taschen seines Mantels. Je schneller er Raum zwischen sich und dieses verdammte Heim brachte, desto besser. Zwischen sich und seine Schwester, die gerade diese verdammte Akte las.
Und wenn er ihr auch noch den Rest des Tages aus dem Weg gehen konnte, umso besser.
Kapitel 4
Lively bearbeitete ihre Unterlippe mit den Schneidezähnen und musterte Jack, der vollkommen in das Buch in seinen Händen vertieft war. Er ignorierte sie, hob einen Finger an den Mund und befeuchtete die Kuppe mit der Spitze seiner Zunge. Dann verharrte er einen Moment, seine Augen flogen über die Buchstaben, bevor er umblätterte. Den Bruchteil einer Sekunde schweifte sein Blick nach oben und streifte sie, bevor er sich wieder den Zeilen vor ihm zuwandte. Seine Augenbraue hob sich.
Lively beugte sich vor, stützte die Unterarme auf ihre Oberschenkel und musterte ihren Bruder weiter. Ihr Herz pochte zu schnell und ihr war so furchtbar heiß, dass sie am liebsten das Feuer im Kamin gelöscht hätte. Es prasselte unaufhörlich vor sich her und warf Schatten in dem kleinen Raum. Es war bereits dunkel draußen, nur schwach schien der Mond durch das einzige Fenster hinein.
»Lively«, sagte er nach einer Weile ruhig, ohne aufzusehen. »Ist alles in Ordnung?«
Ruckartig lehnte sie sich in dem ramponierten Sessel zurück, verschränkte ihre Hände im Schoß, umschloss die eine mit der anderen. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf und schweiften immer wieder zu der schwarzen Mappe. Der schwarzen Mappe, über die dringend Redebedarf bestand. Doch sie hatte ein Versprechen gegeben.
Mit einem genervten Stöhnen erhob sie sich und streunerte durch den Raum. Nicht nur, dass sie die Papiere in dieser verdammten Mappe gelesen hatte und daraufhin den ganzen Nachmittag durch die Stadt gestreift war, sie war auch der einzigen Person über den Weg gelaufen, die sie nicht hatte treffen wollen: Randly. Diesem verdammten Bastard, mit dem sie geschlafen hatte, um bei der Armee arbeiten zu dürfen. Der ihr die Sterne vom Himmel versprochen hatte, nur damit er ihren Körper unter seinen Händen spüren konnte.
Es war nicht so, dass sie es nicht genossen hatte. Randly war ein Soldat durch und durch. Aber sie hasste es, wenn man sie belog. Wenn sie sich wie ein naives, leichtgläubiges Mädchen fühlen musste, nur weil sie einmal Vertrauen in einen Menschen gesetzt hatte. Aber die Armee stand Frauen nicht offen, da konnte sie so viele Soldaten verführen, wie sie wollte. Sie fragte sich, wie sie nur für einen anderen Moment etwas anderes hatte denken können. Frauen gehörten in den Haushalt, arbeiteten als Dienstbotinnen oder stellten Kleidung her. Lively hasste diesen Umstand. Das war nicht das Leben, das sie sich für sich selbst wünschte. Sie wollte raus, wollte Abenteuer erleben. Aber es war, als band die Gesellschaft ihr tonnenschwere Gewichte an die Knöchel, nur weil sie eine Frau war.
Sie trat an den Kamin und umfasste die Dose mit dem Tabak mit einer Hand. Gott, sie musste fort aus dieser Stadt. Hier war sie niemand, nur die kratzbürstige junge Frau, die ihrem Bruder auf der Tasche lag. Hier war sie ein Nichts und versank von Tag zu Tag tiefer in der Bedeutungslosigkeit.
»Geht es dir gut?«, erklang die Stimme ihres Bruders hinter ihr. Natürlich wusste er, dass dem nicht so war. Dass sie genauso litt, wie er es vorausgesagt hatte.
»Bestens«, presste sie hervor und drehte sich um. Sie zwang ihre Mundwinkel hoch zu einem Lächeln. »Ist dein Buch spannend?«
»Durchschnittlich«, antwortete er und sein Blick glitt forschend über ihr Gesicht. Seine Augen blitzten. Machte er sich über sie lustig? Der Morgen war eine Folter gewesen, als er auf der Arbeit gewesen war, doch seine Anwesenheit machte alles noch schlimmer. Er hatte so recht gehabt. Ihr Blick strich über seine Züge, seine Nase und die dichten Augenbrauen, die seinem Gesicht eine markante Note verliehen. Er erwiderte ihren Blick geduldig.
»Zwei Stunden von hier«, stieß sie hervor und hasste sich im selben Moment dafür.
»Was?«, fragte Jack und eine seiner Brauen wanderte höher. Seine Unterlippe zuckte.
»Sie kommen aus einem Dorf, kaum zwei Stunden entfernt von hier«, flüsterte Lively, als würde die fehlende Lautstärke ihren Worten die Bedeutung nehmen.
Einige Sekunden lang starrte Jack sie an, dann schlug er sein Buch geräuschvoll zu. Er presste die Lippen aufeinander. »Wieso überrascht mich das nicht?«
»Du wusstest davon?«, fragte sie, wandte sich ihm vollständig zu.
Jack schnaubte. »Als ob. Es überrascht mich nicht, dass du es ausgeplaudert hast. Das passt zu dir.«
Kurz wallte Wut in Lively auf, die sie jedoch schnell wieder unterdrückte. Wenn dieses Gespräch in einen Streit ausartete, würde er ihr nie zuhören, geschweige denn die Mappe anschauen. »Du musst es wissen«, sagte sie nur. »Glaub mir. Wenn du wüsstest, was ich weiß, würdest du mir zustimmen.« Sie überwand den Abstand zwischen ihnen und umgriff die Handgelenke ihres Bruders. Er versuchte, sich ihr zu entziehen, gab sich jedoch nicht genug Mühe. Einige Sekunden hielt sie ihn fest, bis er die Gegenwehr einstellte, dann schaute sie hinauf in sein Gesicht. Hinter seinen hellgrauen Augen tobte ein Sturm, den sie selbst ausgelöst hatte. Sie war sich sicher, dass es hinter ihren genauso aussah. Diesen Sturm teilten sie sich - und das nicht nur in den letzten Tagen.
»Jack«, wiederholte sie und dämpfte ihre Stimme. »Hör mir zu. Ich brauche dich. Ich muss es dir erzählen.« Damit hatte sie ihn. Jack musterte sie und seine Züge wurden weich. Kurz hasste sie sich dafür, seine Gefühle so gegen ihn auszuspielen, doch ihre Worte waren nicht gelogen.
Sanft löste er seine Gelenke aus ihrem Griff und strich ihr abwesend über den Handrücken. Dann ließ er sich mit einem Stöhnen in seinen Sessel sinken. Tiefe Falten durchzogen seine Stirn. »In Ordnung. Sag es mir.«
Lively lächelte halb und setzte sich ihm gegenüber. »Sie wohnten in einem kleinen Dorf namens Westingate.«
»Wohnten?«, wiederholte Jack. Er verzog keine Miene, doch seine Stimme klang tonlos.
»Sie sind tot.« Lively nickte. »Sie waren es bereits, als wir im Kinderheim abgegeben wurden.« Die Worte lösten in diesem Moment dasselbe in ihr aus, wie in dem Moment als sie sie gelesen hatte: Gar nichts.
Jack nickte. Langsam lehnte er den Kopf auf die eine Seite. Doch auch er wirkte nicht sonderlich schockiert. Lively glaubte zu wissen, was er dachte. Vielleicht ist es besser so. Das wäre es auch, wenn die Geschichte an diesem Punkt zu Ende wäre. »Es steht nicht viel in der Akte. Wir wurden im Alter von fünf Monaten bei der Kirche abgegeben. Man legte uns nicht einfach auf der Schwelle ab, sondern eine Frau brachte uns her, sie war jedoch nicht mit uns verwandt. Niemand suchte uns danach noch auf. Niemand fragte nach uns.«
»Weiter?« Jack beugte sich vor. Seine Miene zeugte von Skepsis, doch es schien, als überwog nun die Neugierde. Mit der Spitze der Zunge befeuchtete er seine Lippen.
Lively hob zögerlich die Schultern. »In der Akte steht der Name unseres Vaters.«
Er schloss die Augen und stieß langsam die Luft aus. »Sein Name?«, flüsterte er. Dann öffnete er die Augen und sah sie flehentlich an.
Livelys Mundwinkel zuckten. »Es ist nur sein Name. Nur ein Name, den ich selbst noch nie gehört habe. Wenn wir dieser Sache nicht nachgehen, bedeutet er nichts.«
»Er bedeutet alles«, entgegnete Jack.
Kurz biss sie sich auf die Lippe, doch ließ sie gleich darauf wieder los. »Blackwood.«
Jack schluckte und schüttelte den Kopf. Der Blick in seinen Augen war trüb.
»Aber es scheint, als haben wir noch Verwandte, nicht weit von hier. In Westingate, dem Dorf, in dem wir geboren wurden. Vielleicht können sie uns unsere Fragen beantworten und uns sagen, woran unsere Eltern starben ...«
»Liv, ich weiß nicht ob das eine gute Idee ist.«
»Stell dir vor, Jacky! Wir haben vielleicht Geschwister oder Großeltern! Vielleicht auch ein Zuhause!«
»Liv!«, unterbrach sie Jack energischer. Bedauern stand in seiner Miene und er überlegte lange, bevor er die Worte wählte. »Wir wurden in ein Kinderheim gegeben. Das wird einen Grund gehabt haben und bedeutet sicher nicht, dass da irgendwo unbekannte Verwandte auf uns warten und uns herzlich willkommen heißen werden.«
»Wir sollten hinfahren. Du musst mit mir kommen, Jack. Ich werde morgen früh fahren und ich will nicht allein gehen müssen.«
Mit offenem Mund starrte Jack sie an. »Ich ... ich weiß nicht, Liv.« Er klappte das Buch zu und wollte es ins Regal stellen, doch seine Finger zitterten so, dass es ihm aus der Hand glitt und zu Boden fiel.
Sie konnte sich nicht erinnern, ihren Bruder jemals so verwirrt gesehen zu haben. Normalerweise war er ruhig und wusste für alles eine Lösung. Schnell schloss sie den Mund und schluckte die Worte herunter, die sie noch hatte sagen wollen.
»Verdammt«, murmelte Jack und stand ruckartig von seinem Stuhl auf. Er durchquerte den Raum und riss seine Jacke vom Haken. Mit einer Hand auf der Klinke drehte er sich wieder um. Er hatte nicht mal seinen Zylinder mitgenommen. »Sie haben uns weggegeben, Lively. Sie ... sie wollten uns nicht mehr. Das musst du akzeptieren.« Unsicher warf er einen Blick auf sie und verließ die Wohnung.
Stumpf sah Lively ihm hinterher. Sie war wütend, weil er einfach abhaute, aber lange sauer konnte sie ihm nicht sein. Er würde draußen seine Runden ziehen, bis es dunkel wurde und dann zurückkehren. Manchmal brauchte er das – vor allem ein Mensch wie er, dessen Kopf zu jedem Zeitpunkt mit Sorgen, Ängsten und Überlegungen bis zum Bersten gefüllt war. Trotzdem hoffte sie, dass er sie begleiten würde.
Der Zug fuhr um fünf Uhr in der Früh. Es war einer dieser Tage, an denen die Kälte unter die Klamotten kroch und sich bis auf die Knochen durchbiss. Auch Livelys dicker Wintermantel, der sie im letzten Jahr die Hälfte von Jacks monatlichem Gehalt gekostet hatte, schützte sie nicht davor. Sie ließ den Blick den trostlosen Bahnsteig hinauf und hinab wandern. Außer ihr waren zwei Männer hier, die sie flüchtig kannte und die sich nur auf den Weg in das nächste Dorf machten. Auf sie wartete jedoch eine Zugfahrt von zwei Stunden. Sie warf einen Blick über die Schulter, doch die Straße hinter ihr war leer. Ein Teil von ihr hoffte noch immer, dass es Jack sich anders überlegen und sie begleiten würde. Doch nach ihrem Gespräch am letzten Abend war er lange nicht zurückgekehrt. Und auch danach hatte er kein Wort mit ihr gesprochen. Wie so oft.
Sie hatte das Gefühl, dass ihr Bruder lieber gar nicht kommunizierte, als zu streiten. Am Morgen war er wieder verschwunden gewesen. Sie hatte ihm einen Zettel auf dem Tisch zurückgelassen und sich dann an seiner Geldbörse bedient. Jack musste jeden Gedanken noch tausend Mal hin und her wälzen, aber sie für ihren Teil konnte nicht mehr warten. Etwas in ihr wühlte sie auf, zerrte sie nach Westingate. Ein gieriges Brennen, das nur mit Informationen gestillt werden konnte.
Mit einem Schnauben drehte sie sich um und blickte sehnsüchtig das Gleis entlang in die Richtung, aus der der Zug kommen würde. Bisher war sie noch nie mit der Eisenbahn gefahren und ihr Herz pochte in kindlicher Vorfreude.
Früher hatte sie manchmal die Züge beobachtet. Der Bahnhof lag unweit des Kinderheims und laute, Dampf ausstoßende Kolosse wirkten auf Kinder ungemein faszinierend. Wenn sie sich umdrehte, konnte sie das St. Alberts hinter den Spitzen der Bäume sehen.
Die Akte in dem Koffer in ihrer Hand wog plötzlich das Doppelte. Das Geräusch der nahenden Eisenbahn drang an ihr Ohr und sie schloss kurz die Augen. Sie presste die Lippen aufeinander. Sie war noch nie so weit von zu Hause fort gewesen. Oft hatte sie davon geträumt, sich jedoch immer erhofft, dass es unter besseren Umständen geschehen würde. Es fühlte sich wie ein Aufbruch an, ein Umsturz von allem, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte.
Auch wenn Lively ansonsten eher pragmatisch veranlagt war, konnte sie der Faszination einer herannahenden Eisenbahn nicht widerstehen. Das Rattern der Reifen, der dicke Qualm, der aus dem Stahlrohr der Lock strömte. Das Quietschen von Metall auf Metall. Sie kannte sich mit der Mechanik nicht aus, die es benötigte, um solch einen Riesen aus Eisen zu bewegen und Menschen damit zu transportieren, doch sie fand den Gedanken daran hochgradig faszinierend. Es war berauschend, darüber nachzudenken, was die Menschheit sonst noch alles erreichen konnte. Mit kreischenden Rädern hielt die Eisenbahn vor ihr, rutschte einige Meter weiter. Lively widerstand dem Drang, die Hände auf ihre Ohren zu pressen. Als die Eisenbahn vor ihr hielt, warf sie einen letzten Blick über die Schulter. Gerade, als sie sich wieder umdrehen wollte, sah sie am Ende der Straße eine kleine Gestalt mit einer Tasche in der Hand, die stetig näherkam.
Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie war sich sicher gewesen, dass er kam, und er enttäuschte sie nicht. Lively wusste, dass sie Jacks Schwäche war. Bei weitem nicht seine einzige, mit Sicherheit aber seine größte.
Schnell wandte sie sich dem Schaffner zu, der sich den Aufstieg zum Abteil herunterschwang und dann neben ihr auf dem Boden zum Stehen kam. Es war ein junger Mann mit flachsblonden Haaren. Nachdem die beiden Männer vor ihr eingestiegen waren, musterte er sie betont langsam.
»Wo will die hübsche Dame denn hin?« Ein schmieriges Lächeln verzerrte seine Lippen.
Lively ignorierte den Kommentar und schenkte dem Mann einen Augenaufschlag, der nicht von Herzen kam, seinen Zweck aber erfüllte. »Könnten Sie noch einen Moment warten?« Sie nickte in Jacks Richtung, der schnellen Schrittes näherkam.
Das Lächeln des Schaffners verblasste. »Wir haben einen Zeitplan einzuhalten«, sagte er knapp und drehte sich um.
»Warten Sie.« Livelys Hand zuckte vor und schloss sich um den fadenscheinigen Ärmel des Mannes. Sie hörte Jacks Schritte hinter sich. Hatte er sich keinen früheren Zeitpunkt für seinen dramatischen Auftritt wählen können?
Der Schaffner schenkte ihr einen wütenden Blick, doch Lively setzte ihrerseits den Fuß auf die unterste Stufe und schob sich betont langsam hinein. Schnell ließ sie den Ärmel wieder los und versuchte, den Mann mit einem weiteren Lächeln zu besänftigen, doch der beachtete sie nicht weiter.
Sie hörte Jacks keuchenden Atem hinter sich und die gestammelte Entschuldigung, die er dem Schaffner zuwarf, als er hinter ihr den Wagen betrat. Lively lächelte in sich hinein, betrat dann das nächste Abteil und ließ sich auf einer der hölzernen Bänke nieder.
Jack verstaute seine Tasche in dem Fach über ihren Köpfen und ließ sich dann ihr gegenüber sinken. Sein Gesicht war gerötet und sein Atem ging stoßweise. Trotz der merkwürdigen Situation musste er lächeln. »Das war knapp.«
Lively presste die Lippen aufeinander und hob die Mundwinkel. »Das nächste Mal solltest du mich nicht so lange warten lassen.« Sie musterte ihn, seine zerwuschelten dunklen Haare. Sie sahen sich kaum ähnlich dafür, dass sie Zwillinge waren. Nur die Augenfarbe, das dunkle Braungrün, war gleich.
Jacks Miene wurde ernst. »Es tut mir leid. Deine Worte gestern, dieser Name ... irgendwie hat mich das überwältigt. Als wäre ich nicht mehr Herr über meine Gefühle gewesen.« Er ergriff ihre Hand. »Hast du wirklich gedacht, ich komme nicht?«
»Ich hätte es verstehen können, wenn du Angst gehabt hättest.«
Jack sah aus dem Fenster. Der Zug rollte an und nach und nach wurden die tristen Häuser ihrer Heimatstadt durch eine nicht weniger triste Landschaft abgelöst. »Habe ich auch. Aber das ist unwichtig.«
Dann schaute er ihr in die Augen und Lively las die wahre Bedeutung der Worte aus seinem Blick. Sie wusste, wie Jack zu ihr stand. Dass er trotz ihrer Differenzen das Gefühl hatte, jede Sekunde mit ihr auskosten zu müssen. Weil sie das Einzige war, was er hatte. Weil er dauerhaft mit der Angst lebte, dass sie irgendwann fort sein könnte. Lively wusste nicht, woher diese Angst kam, denn sie selbst verspürte sie nicht. Sie liebte ihren Bruder, aber der Drang nach Neuem war größer als das Gefühl, ihn an sich binden zu müssen.