Kitabı oku: «Blackwood», sayfa 5
Kapitel 8
Am Rande des Dorfes führte ein breiter und von Pferdekutschen-rädern zerfurchter Weg genau in den Wald hinein. Zu beiden Seiten ragten die Tannen wie düstere Torwächter auf. Obwohl die Sonne noch hoch am Himmel stand, war es kalt zwischen den Bäumen. Schwere, nadelbeladene Äste verschränkten sich über ihren Köpfen zu einer dichten Decke aus Dunkelheit.
Sie gingen in vollkommenem Schweigen nebeneinander her. Die Aufregung kroch Lively in alle Knochen, ließ ihr Herz schneller schlagen und ihren Puls flattern. Sie war begierig darauf, mehr zu erfahren, begierig auf jede kleinste Information. Auch wenn sie mit den Geschichten aus Jacks Büchern immer wenig hatte anfangen können, kam sie sich wie einer seiner Kommissare vor.
Verdammt, es fühlte sich so wahnsinnig gut an, etwas zu tun zu haben. Nicht mehr den ganzen Tag zu Hause zu sitzen und die brave Hausfrau zu spielen, die sie niemals hatte sein wollen. Endlich füllte sie ihr Leben mit einem Sinn, mit einem prickelnden, aufregenden Sinn.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Jack nach einigen Minuten. Wie ein Kleinkind. Sie konnte seine schlechte Laune nahezu riechen und unterdrückte ein Augenrollen. »Keine Ahnung.«
Sie hörte ihn Luft holen und zu einer Antwort ansetzen, aber dann vernahm sie ein anderes Geräusch. Ein Rattern, das zügig näherkam. Schnell sprang sie zur Seite, packte Jack am Ärmel und zog ihn zwischen die erste Tannenreihe. Sie stolperte über irgendetwas am Boden und krallte sich in dem Stoff von Jacks Mantel.
»Vorsicht«, zischte er und zog sie wieder hoch.
Lively fand festen Stand und zerrte ihrem Bruder einige Schritte weiter.
Die Geräusche wurden lauter und entpuppten sich als das stetige, stumpfe Trappeln von Pferdehufen auf festgetretener Erde. Mit ansehnlicher Geschwindigkeit preschte eine schwarze Pferdekutsche an ihnen vorbei. Lively konnte einen blonden Mann auf dem Kutschbock erkennen, dann war sie wieder aus Sichtweite. Sie fuhr weiter in Richtung Dorf.
»Wofür war das jetzt?« Jack stapfte wieder in Richtung der Straße und wischte sich Tannennadeln und Dreck vom Mantel.
»Sie sollen nicht wissen, dass wir kommen.« Lively folgte ihm und warf einen weiteren forschenden Blick die Straße hinauf und hinunter. Das Hufgetrappel wurde immer leiser. Als es verklungen war, atmete sie aus.
»Was ist dann dein Plan? Wir laufen einfach zu diesem Haus, klopfen an und fragen: ´Guten Tag der Herr, könnte es sein, dass vor zweiundzwanzig Jahres einer ihrer Bediensteten Zwillinge geboren hat? Nämlich uns?´«
»Wenn es so war, wird sich irgendjemand daran erinnern können«, erwiderte Lively trocken, aber in Wahrheit hatte sie selbst noch keine Ahnung, was sie tun würden, wenn sie dort waren. Aber ihr Gefühl sagte ihr einfach, dass es die richtige Entscheidung war. Sie musste ihm vertrauen – und Jack ihr.
Lively folgte ihm in einigem Abstand. Sie zwirbelte eine ihrer Haarsträhnen um einen Finger und strich sie dann hinter das Ohr. Sie mochte den Geruch dieses Waldes. Leicht herb, erdig, aber frisch. Als sie den Blick über die Bäume zu ihrer Seite schweifen ließ, fiel ihr auf, wie merkwürdig leise es hier war. Sollte man nicht zumindest Vögel singen oder Kleintiere im Unterholz rascheln hören? Das einzige, das sie hier vernahm, waren ihre eigenen Schritte auf der dick von Tannennadeln bedeckten Erde.
Nach einigen weiteren Minuten machte die Straße plötzlich einen scharfen Knick nach rechts. Noch bevor sie an diesem angekommen waren, beschleunigte sich Livelys Herzschlag. Sie hatte da so ein Gefühl. Das Gefühl, dass sie endlich am Ziel angelangt waren.
Als sie um die Ecke bogen, bot sich ihnen ein überwältigender Anblick: Whitefir-Mansion erhob sich auf einer kleinen Anhöhe und blickte herrschaftlich auf den Wald hinab. Den Weg hinauf zierten kurze, dicke Tannen, deren Nadeln wie von einem seltsamen weißen Film überzogen schienen. Auf halben Weg nach oben befand sich ein eisernes Tor.
Das Haus selbst war ganz in schwarzem Stein gehalten, überzogen mit weißen, leicht verschnörkelten Mustern um die Fenster herum. Es war riesig, mindestens so groß wie ihr altes Kinderheim. An der ein oder anderen Ecke sah man ihm sein wohl beträchtliches Alter an, doch ansonsten wirkte es gepflegt. Durch die Tannen hindurch konnte man eine ordentliche Gartenanlage erkennen, die sich um das ganze Haus zu ziehen schien. Lively stockte der Atem. Sie konnte nicht genug von diesem Anblick kriegen. Sie merkte, dass sie wie automatisch stehengeblieben waren. Auch Jacks Blick wirkte nicht minder bewundernd.
»Wahnsinn«, hauchte er. »Wie viele Menschen mögen hier wohnen?«
»Wahrscheinlich nur eine einzige Familie mit ihren Bediensteten.« Es war recht unwahrscheinlich, dass Adrian hier mit seiner Schwester allein wohnte – sicher war nicht er der Herr dieses Hauses, sondern sein Vater oder gar sein Großvater. Aber Lively wollte keine unbegründeten Vermutungen aufstellen. Sie würden es früh genug erfahren.
Fast liebevoll strich ihr Blick noch einmal über die Fassade, dann riss sie sich los. »Wir sollten es herausfinden.«
Sie lief los und geradewegs auf das Eingangstor zu. Einige Sekunden später hörte sie Jacks Schritte hinter ihr, die sie verfolgten.
Der Weg die Anhöhe hinauf war nicht sonderlich breit und bis auf die Rillen der Pferdekutschen festgetreten.
Das Tor war offen und wurde nicht bewacht. Hier, tief im Wald und weiter weg von der nächsten Siedlung, war das kaum nötig. Die wilden Tiere hielt der knapp zwei Meter hohe Zaun ab.
Am Tor angekommen spähte Lively durch die engen Gitterstäbe. Vor dem Haus gab es einen großen runden Platz aus Kies, in dessen Mitte ein kleiner Brunnen stand. Es war weit und breit niemand zu sehen, trotzdem machten ihr die großen Fenster Sorgen. Der spärliche Einfall der Sonne hinderte sie daran, hineinzusehen, doch für die andere Richtung musste das nicht gelten.
»Bleib dicht bei mir«, zischte sie Jack zu. Das Tor quietschte kaum, war also scheinbar noch vor Kurzem geölt wurden. Sie schob es nur so weit auf, dass sie sich beide hindurchzwängen konnten, dann sah sie sich um.
»Hier rüber.« Sie schlug den Weg scharf nach links ein und lief hinter den Tannen weiter. Sie standen nicht sehr dicht, boten aber trotzdem immerhin etwas Sichtschutz. Jack folgte ihr in einigem Abstand.
Hinter dem letzten Baum blieben sie stehen. Von hier aus konnten sie am Haus vorbei die weitläufige Anlage betrachten. Akkurat geschnittene Büsche reihten sich aneinander, nur durchbrochen von einigen Bänken, die zum Verweilen einluden. Wer auch immer hier wohnte, hatte definitiv Geschmack und viel, viel Geld.
Sie ließ den Blick über den Garten schweifen und konnte niemanden entdecken. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und schlich auf die Seite des Herrenhauses zu. Sie trat nah an die Wand, sodass sie von den Fenstern aus nicht zu sehen sein konnten. An der Ecke verharrten sie wieder. Lively beruhigte ihren klopfenden Herzschlag und beugte sich vor. Immer noch niemand. Inzwischen kam es ihr fast unheimlich vor, wie ausgestorben es hier wirkte.
»Jack«, zischte sie. »Siehst du die Tür?« Ein paar Schritte vor ihnen führte eine Treppe steil nach unten und endete nach rechts in einer kleinen hölzernen Tür. Sie stand einen Spalt breit offen.
»Nicht so voreilig.« Jack trat an sie heran und legte ihr beruhigend eine Hand zwischen die Schulterblätter. Es hatte genau die gegensätzliche Wirkung.
»Wieso?«, fragte sie gereizt.
»Eine Tür wird nicht ohne Grund offenstehen. Sicherlich ist jemand dahinter oder hat sie zu einem bestimmten Zweck offen gelassen. Außerdem kannst du nicht einfach hier einbrechen. Das ist viel zu gefährlich.«
Sie schluckte. Natürlich hatte er recht. Wenn sie jemand erwischte, der ihnen nicht wohlgesinnt war, konnte alles passieren. Vor allem ihr als Frau würden viele keine Gnade entgegenbringen. Aber sie konnte einfach nicht anders. Das Ziehen in ihren Bauch wurde so stark, dass sie nicht widerstehen konnte. Wie ein unstillbarer Durst, ein maßloses Verlangen.
Also ignorierte sie den Einwand ihres Bruders, warf einen Blick über die Schulter und rannte los. Hinter sich hörte sie ihn entnervt aufstöhnen, aber er folgte ihr trotzdem.
An der Treppe angekommen, rannte sie die ausgetretenen Stufen hinunter, riss die Tür auf und stolperte ins Dunkle. Dann wies sie sich selbst zur Vorsicht. Jack schloss hinter ihr langsam die Tür.
Verdammt, es war wirklich dunkel. So dunkel, dass Lively erst einige Sekunden bewegungslos stehenblieb, bis sich ihre Augen so weit an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, dass sie den Schemen des fensterlosen Ganges erahnen konnte.
Lively tastete sich vor und langte wie automatisch nach dem Griff der ersten Tür, der ihr zwischen die Finger kam. Verschlossen. Frustriert rüttelte sie daran und ließ ihn dann los.
»Was nun? Willst du ...« Ein ohrenbetäubendes Brüllen erschütterte den ganzen Gang und übertönte Jacks letzte Worte. Lively zuckte zusammen und wich von der Tür zurück, die sie zuvor hatte öffnen wollen. Es war ein grausames Geräusch, langgezogen und heulend, doch gleichzeitig so tief, dass der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Es erzitterte in jedem ihrer Knochen. Sie starrte nur die Tür an, unfähig zu atmen, unfähig, sich zu bewegen.
Jack reagierte geistesgegenwärtiger als sie. Grob packte er sie am Arm und zerrte sie zu einem breiten Besenschrank einige Meter weiter. Er riss die Tür auf, schubste sie hinein und folgte ihr dann nach.
Das Brüllen ließ nach und hinterließ nichts als beängstigende Stille, in die ihr lautes Keuchen scharf hineinstach. Sie spürte Panik in sich aufsteigen. Aber sie musste sich wieder beruhigen.
»Leise!«, zischte Jack. Lively spürte, wie sich ein Arm um ihre Schulter schlang und sich seine Hand sanft, aber bestimmend auf ihren Mund und ihre Nase legte.
Schritte.
Schwere Schritte von dick bestiefelten Füßen. Sie kamen näher. Schnell, aber nicht gehetzt.
Sie liefen an ihnen vorbei und in Richtung der Tür, aus der dieses bestialische Brüllen geklungen war. Dort verharrten sie für einige Sekunden.
»Na, aufgeregt?« Die Stimme klang beinahe sanft.
Livelys Herz pochte immer noch schnell, aber Jacks Handfläche dämpfte die Geräusche ihres Atems. Der Mann im Gang schien nicht im Traum daran zu denken, dass jemand hier eingedrungen sein könnte. Genau das war wohl ihre Rettung.
Hitze stieg ihr den Hals hinauf. Es war so verdammt eng in diesem Schrank. Ihr Rücken war hart gegen Jacks Brust gepresst. Mit der freien Hand streichelte er beruhigend über ihre Schulter.
Sie hörten das Schaben einer Tür. Dann fiel sie ins Schloss.
Kapitel 9
Langsam stieß Jack die Luft durch die Nase aus, schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Hinterwand des hölzernen Schrankes. Dann löste er die Finger von Livelys Mund und ließ die Hand zu Boden sinken.
»Was war das?«, fragte Lively halblaut. Ihre Stimme zitterte und sie räusperte sich.
Jack antwortete nicht. Sein Arm war irgendwo hinter ihrem Rücken eingeklemmt und sein Fuß steckte in etwas Weichem, wahrscheinlich in einem Haufen Putzlumpen. Die Schritte waren schon lange verklungen und trotzdem traute er sich nicht, die Schranktür auch nur einen Spalt breit zu öffnen. Das hier waren definitiv genug Abenteuer für die nächsten Jahre gewesen.
»Jack«, murmelte Lively. »Meinst du, sie halten hier unten wilde Tiere?«
»Ich habe keine Ahnung.« Er stöhnte und drehte sich so, dass Livelys Haare ihn am Kinn kitzelten. Er schaute auf sie hinab – oder besser gesagt dorthin, wo er ihr Gesicht vermutete. Seine Stimme wurde leiser, eindringlicher, und er lehnte sich noch ein Stück näher an seine Schwester heran, in der Hoffnung, sie mit seinen Worten zu erreichen. »Wir sind in ein Haus eingebrochen, Liv. Wir verstecken uns gerade in einem fremden Besenschrank. Das hat doch nichts mehr mit unserem Vater oder unserer Herkunft zu tun. Für uns gibt es jetzt keinen anderen Weg als hinaus aus dieser Tür und hinaus aus diesem Haus.«
Lively schnaubte und Jack presste die Lippen aufeinander. Er hasste dieses Schnauben. Gott, er hasste es so sehr.
»Ich mache nicht mehr mit«, zischte er, bevor sie ihn wieder mit ihren Worten um den Finger wickeln konnte. Mit der Hand, die sich sowieso halb um den Körper seiner Schwester geschlungen war, packte er ihre Schulter.
»Schön«, entgegnete Lively schnippisch und entwand sich seinem Griff so weit, wie es eben ging, ohne die Tür aufzustoßen. »Dann mache ich ohne dich weiter. Ich war von Anfang an bereit, allein in diesen Zug zu steigen.«
Jacks Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, denn er wusste, dass sie recht hatte. Egal, was er tat oder sagte, Lively würde weitermachen. Und dieser Gedanke bereitete ihm so Bauchschmerzen, dass er sie am liebsten gepackt und zurück nach Hause geschleppt hätte. Aber das schaffte er ohnehin nicht. »Mach, was du willst«, sagte er und verlieh seiner Stimme alle Kälte, zu der er fähig war. Aber er war wütender auf sich selbst als auf sie. Wieso hatte er nicht gleich die Reißleine gezogen, sondern sich von seiner Neugierde hierherlocken lassen?
Lively starrte ihn ein paar Sekunden lang an. Trotz der Dunkelheit spürte er ihren Blick förmlich auf seiner Wange brennen. Dann stieß sie die Tür auf und stakste aus dem Schrank hinaus in den spärlich beleuchteten Flur. Sie klopfte ihre Kleider aus und richtete sich auf. Dann erstarrte sie, weitete die Augen und fixierte einen Punkt hinter dem Schrank den Gang weiter entlang.
»Guten Abend.«
Jack stolperte nach draußen und sprang schützend vor seine Schwester. Auffordernd starrte er dem Mann entgegen, der sie mit hinter dem Rücken verschränkten Armen betrachtete. »Wir wollten gerade gehen.«
»Wolltet ihr das? Deine Frau ist da wohl anderer Meinung. Zumindest, wenn ich euer Gespräch richtig mitbekommen habe.« Er hob langsam eine Braue unter dem dichten schwarzen Haar. Irgendwie kam er Jack bekannt vor, doch er konnte nicht sagen, woher. Vielleicht war er ihm heute im Dorf begegnet oder ... im Wirtshaus!
»Du!« Nun hatte auch Lively ihn erkannt. »Adrian, nicht wahr?«
Der Angesprochene zuckte beim Klang seines Namens zusammen und verengte die Augen. »Du bist diese Verrückte, die mich vor dem Hungrigen Raben angesprochen hat. Die Sagensammlerin.« Langsam legte er den Kopf schief und sah sie nachdenklich an. »Du hast mich ausgehorcht. Wieso? Was wollt ihr hier? Uns bestehlen? Auf eigener Faust nach den Geschichten dieses Hauses suchen?«
»Wir haben uns nur verirrt«, entgegnete Jack in Ermangelung einer anderen Ausrede. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Sie mussten hier verschwinden, so schnell wie möglich. Er hielt sein Gegenüber fest im Blick und je mehr sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, desto schärfer nahm er die Gesichtszüge wahr.
»Ist das so?« Der Mann trat einen Schritt auf sie zu und Jack baute sich weiter vor seiner Schwester auf. Er hasste es, dass dieser Adrian seine Hände weiter hinter dem Rücken verschränkt hatte.
Lively trat einen Schritt zur Seite und schob seinen Arm weg, sodass sie neben ihm stand. »Hör zu, Adrian.«
Der klare Blick des Mannes legte sich nun auf Jacks Schwester. Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen. Adrian schien nicht wirklich wütend über ihren Einbruch zu sein. Trotzdem entspannte sich Jack nicht. »Es gefällt mir nicht, dass du meinen Namen kennst, aber ich nicht euren«, sagte Adrian.
»Den verraten wir sicherlich nicht dem Mann, in dessen Haus wir gerade eingebrochen sind«, entgegnete Lively trocken. Jack presste die Lippen zusammen. Konnte sie nicht einmal ihre Klappe halten? Sie spielte gerade mit ihrem Leben.
Adrian lachte leise. »Verständlich.« Er fixierte sie wieder nacheinander. »Dann würde ich jetzt vorschlagen, dass ihr verschwindet. Ihr seht mir nicht aus wie Verbrecher und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich sonst mit euch anstellen soll. Mein Vater hat genug Probleme, ohne dass ich ihm zwei wahnsinnig schlechte Einbrecher vorführe.«
Jack sah aus dem Augenwinkel, wie Lively den Mund öffnete, um noch etwas zur erwidern. Bevor es dazu kommen konnte, packte er sie am Oberarm und schob sie in Richtung Tür. Er fasste sich an die Krempe seines Zylinders. »Vielen Dank für Ihre Nachsicht, Sir. Das wird sicher nicht nochmal vorkommen.
»Komm jetzt, Liv«, zischte er, als seine Schwester sich sträubte.
»Hör auf deinen Mann.«
»Das würde ich nicht einmal, wenn er mein Mann wäre«, entgegnete Lively giftig, aber eher an ihn gewandt als an Adrian. Sie entriss sich seinem Griff, stapfte dann aber ohne einen Blick zurück auf den Eingang zu.
»Und lasst dieses Mal die Finger von Türen, die euch nichts angehen«, rief Adrian ihnen nach und schickte Jack damit einen kalten Schauer den Rücken hinab. »Ich hoffe, ich sehe euch hier nicht wieder.«
»Da kannst du dir sicher sein«, murmelte Jack beim Hinausgehen.
Wie sich herausstellte, hatte er Unrecht.
Kapitel 10
Dieses Kribbeln. Ausgehend von ihrem Herzen schlich es sich durch ihren ganzen Körper, bis in ihre Fingerspitzen, sodass sie es am liebsten hinaus in die Welt geschrien hätte.
Verdammt, war das ein berauschendes Gefühl. Das Wissen, etwas Großem auf der Spur zu sein, etwas Geheimnisvollem. Adrian hatte gesagt, dass sein Vater mit ihm in Whitefir-Mansion wohnte. Wer wohl noch zur Familie Musgrave gehörte? Vielleicht hatte er mehr Geschwister als die Schwester, über die die Männer im Pub gesprochen hatten.
Es war ein Reiz und ein Antrieb gleichsam. Und es stieg an, je mehr sich die verbliebene Angst in ihren Adern in pure Verzückung verwandelte.
Auf dem Weg zurück ins Dorf schwieg sie und ignorierte die halbherzigen Versuche ihres Bruders, ein Gespräch anzufangen oder sie darüber zu belehren, wie gefährlich der Einbruch eben gewesen war. Doch nicht, weil sie wütend auf ihn war, sondern weil ihre Gedanken mit weitaus Wichtigerem beschäftigt waren. In ihrer Vorstellung steckte sie bereits inmitten eines Abenteuers, das in Wahrheit erst angefangen hatte.
Adrian war der Schlüssel. Oder jedenfalls der Weg zu einem Schlüssel. Bei ihm musste sie ansetzen. Sie musste ihn noch einmal erwischen, am besten, ohne dass ihr Bruder in der Nähe war und alles verdarb. Sie musste sein Vertrauen gewinnen, vielleicht auch ihre weiblichen Reize spielen lassen. Um ihm dann, Wort für Wort, seine Geheimnisse zu entlocken.
Sie sah es schon fast bildlich vor sich.
»Liv?«
Sie zuckte zusammen und schaute zu Jack. So, wie er sie ansah, hatte er sie gerade nicht zum ersten Mal beim Namen genannt.
»Ja?«
Er seufzte und betrachtete sie mit einem schwermütigen Blick. Seine Mundwinkel zuckten unsicher. »Fahren wir nach Hause?« Seine Stirn legte sich in Falten. »Bitte?«
Lively schaute weg. Sie hasste es, wenn Jack sie so ansah. Mit diesem Blick wie ein ... bemitleidenswerter Hundewelpe.
»Wir haben das Zimmer schon bezahlt«, sagte sie leise.
»Das ist egal.«
»Du hast mir zwei Tage versprochen.«
Jack schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß, aber ich will nicht weiter zusehen, wie du dich von einer gefährlichen Situation in die andere manövrierst. Ich habe Angst um dich, Liv. Du bist eine Frau. Die Leute hier könnten dir wer weiß was antun, wenn du ihre Grenzen verletzt, und es würde niemanden scheren.«
Lively blieb ruckartig stehen. Sie spürte, wie Wut ungewohnt heftig in ihr hochstieg und ihre Kehle zuschnürte. »Dann fahr heim.«
»Was?«
Sie drehte sich zu ihm um. »Dann fahr heim, verdammt! Setz dich in den nächsten Zug und pflanz dich zu Hause mit einem deiner Bücher vor den Kamin.« Mit jedem Wort wurde ihre Stimme lauter und versuchte das schlechte Gewissen zu unterdrücken, das sich immer quälender in ihr meldete. »Damit dein Leben genauso weitergeht wie bisher. Derselbe Trott, Tag für Tag, von heute an bis du stirbst. Ist es das, was du willst?« Sie ballte eine Hand zur Faust und trat so dicht an ihn heran, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Noch immer pulsierte die Wut kochend heiß durch ihre Adern. »Wenn es so ist, dann geh, aber verlang das nicht von mir. Ich würde mich eher an einem dieser Bäume aufknüpfen, als so weiterzumachen wie bisher.«
Jack wich nicht zurück. »Was erhoffst du dir, Liv? Selbst wenn wir herausfinden, wer unser Vater war. Selbst wenn wir dieses ganze Geheimnis lüften. Am Ende werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso zurückkehren.«
Lively erwiderte seinen Blick. Schaute in diese warmen, aber traurigen Augen. »Ich habe keine Ahnung«, flüsterte sie. »Aber dann hätte ich zumindest irgendetwas in meinem Leben erlebt.«
Sie standen noch einige Sekunden so da und schauten sich an. Irgendwann drehte sich Lively um und stapfte weiter. Kurz danach hörte sie Jacks Schritte, die ihr folgten.
Als das Dorf wieder in Sichtweite kam, dämmerte es bereits. Sie steuerte auf das Wirtshaus zu, denn sie glaubte, dass Jack nicht wirklich ohne sie fahren würde. Sie wusste es sogar.
Sie fixierte die Spitze ihrer Stiefel, die vor ihr beim Gehen rhythmisch auf und ab wippte. Beinahe hypnotisierend.
Als sie wenige Meter vor der Gaststätte den Blick hob, zuckte sie zusammen. Eine Gestalt stand im schwachen Licht neben der Tür.
»Aileen«, sagte Jack, bevor Lively sie ganz erkennen konnte.
Die junge Frau neigte den Kopf. Sie war allein, ohne Mann und ohne Kind. »Habt ihr ein Zimmer hier gemietet?«
Jack nickte.
»Können wir dann dort weiterreden?«
Wortlos schob Lively die Tür auf und trat hinein. Es war warm im Schankraum und um einiges voller als noch am Mittag. Sie schenkte den dicht besetzten Tischen jedoch keinen Blick, sondern trat an dem Wirt vorbei auf die kleine Treppe zu den Gästeräumen zu.
»Ihr habt nur für zwei gezahlt«, raunzte der Wirt und musterte Aileen abschätzig.
»Krieg dich wieder ein, Hector. Du weißt genau, dass ich hier kaum schlafen werde. Ich wohne zwei Straßen weiter«, entgegnete diese.
Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf und betraten ihr Zimmer. Wie schon vorhin nahm Lively auf dem schmalen Bett Platz, Jack daneben. Aileen schlug die Beine ineinander und ließ sich ihnen gegenüber auf den Boden fallen. Dann stützte sie die Ellbogen in die Kniebeugen und das Kinn auf ihre Hände.
»Ihr wart bei Whitefir-Mansion«, begann Aileen geradeheraus.
»Ich dachte, du willst nicht mit uns reden«, entgegnete Lively spitz und spürte sogleich, wie sich die warme Hand ihres Bruders beruhigend auf ihren Oberschenkel legte. Manchmal würde sie sich gerne eine Scheibe von seiner Geduld abschneiden.
»Was weißt du darüber?«, fragte er.
»In etwa so viel wie über euren Vater. Gerüchte, Erinnerungen und Wahrheiten.«
»Und wieso bist du hier?« Jacks Hand glitt von ihrem Oberschenkel und er lehnte sich vor.
Aileen ließ die Hände in ihren Schoß sinken und richtete den Blick darauf. »Der Gedanken an euch ließ mir keine Ruhe. Ihr seid seine Kinder. Vielleicht sollt ihr erfahren, was geschehen ist.« Sie seufzte langgezogen. »Oder zumindest das, was ich weiß.«
»Der Meinung bin ich allerdings auch«, sagte Lively. Sie hatte keine Lust mehr darauf, dieser Frau jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen zu müssen.
Aileen ignorierte sie gekonnt und schaute weiter ihren Bruder an. Aber das war Lively relativ egal. Hauptsache, er würde sie dazu bewegen, ihnen Antworten zu geben. Zwar konnte ihr Bruder Leute nicht so gut manipulieren wie sie – er konnte aber wahnsinnig charmant sein, wenn er wollte.
»Wenn du dich dazu entschließt, uns davon zu erzählen, werden wir dir zuhören.«
Lively sah aus dem Augenwinkel, wie Jack seine Hände nervös ineinander drehte.
Aileen fixierte einen Punkt an der Wand hinter ihnen. »Ich war vier Jahre alt, als es geschah.« Sie verstummte. Mehrmals setzte sie an, formte Silben mit ihren Lippen, dann sprach sie weiter. Ihre Stimme war leise, ihre Wangen blass. »Meine Mutter, Milla, arbeitete als Edith Blackwoods Hausmädchen auf Whitefire-Mansion.«
Lively richtet sich auf. »Moment einmal. Whitefir-Mansion war in der Hand der Blackwoods?«
»Lass sie ausreden, Lively«, sagte Jack mit mahnendem Unterton in der Stimme.
Aileen schien sie aber gar nicht gehört zu haben. Ihr Blick wanderte weiter bis zu einem unbestimmten Punkt an der Decke. »Sie nahm mich oft dorthin, wenn sie niemanden fand, der auf mich aufpassen konnte. Dann lief ich durch die verschiedenen Räume und spielte Verstecken mit mir selbst.« Sie hob die Hand und fuhr ihr Kinn entlang. »Neben Edith Blackwood wohnte dort noch ihr Sohn, Ezra. Ich habe nicht viele Erinnerungen an ihn, außer, dass er ein freundlicher Mann gewesen war, der sogar das ein oder andere Mal bei meinen Spielen mitgemacht hat.« Sie hob den Blick und sah uns entschuldigend an. »Verzeiht mir, ich erinnere mich an wenig, was für euch von Relevanz ist. Das meiste stammt aus den spärlichen Erzählungen meiner Mutter und von Edith Blackwood.«
»Dafür musst du dich nicht entschuldigen.«
Wie konnte Jack nur so verdammt ruhig bleiben? Lively wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie angefahren, dass sie zum Punkt kommen sollte. Nur schwer konnte sie diesen Drang unterdrücken. Was war nur los mit ihr? Langsam kam sie sich selbst fremd vor.
»Etwa ein Jahr, bevor es geschah, nahm sich Ezra eine junge Dame zur Frau. Sie kam von weiter weg, manche sagten aus Frankreich. Edith liebte ihre Schwiegertochter abgöttisch. Als sie dann bereits nach wenigen Monaten schwanger wurde, schien ihr Glück perfekt.«
Lively schluckte. Ihre Kehle fühlte sich so trocken an, dass sie ein Husten unterdrücken musste. Diese Frau, von der Aileen sprach. Diese Frau war ihre Mutter. Dieses dünne, blasse Bild, das sich nun mit jedem Wort deutlicher vor ihren Augen abzeichnete, ersetzte die Leere, die dort all die Jahre verkehrt hatte. Ersetze die Träume und Wünsche und Vorstellungen, die keinerlei Bezug zur Realität gehabt hatten.
»Sie brachte euch beide zur Welt – Zwillinge – doch zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät. Ezra veränderte sich. Manch einer sagt, er sei durchgedreht, ein anderer, dass er getrunken hat. Er zerstritt sich mit Edith, die daraufhin in das Haus zog, in dem wir jetzt wohnen. Und dann, eines Nachts ...« Ihre Stimme wurde leise, zittrig. So dünn, dass Lively die irrationale Angst verspürte, ihre Worte würden jeden Moment zerbrechen. Sie griff nach Jacks Hand und drückte sie. Sie zitterte genauso wie ihre eigene.
»Ezra tötete eure Mutter. Meine Mutter war im Nachbarzimmer und als es geschehen war ... als sie sie fand, floh sie mit euch beiden zu eurer Großmutter.«
Lively starrte sie nur an, wortlos. Ihr Gesicht kribbelte, doch die gerade gehörten Worte wollten doch nicht in ihren Kopf dringen. Sie wollte begreifen, wollte verstehen, aber da gab es nichts. Diese Enthüllung schlang sich um ihr Herz wie ein dickes Seil und drückte zu.
Sie waren die Kinder eines Mörders. Kinder eines alkoholsüchtigen Mannes, der ihre Mutter im Suff umgebracht hatte. Wenn Milla nicht mit ihnen geflohen wäre, vielleicht hätte er vor ihnen nicht Halt gemacht.
Zögerlich schlang sich Jacks Hand um ihre Finger und drückte zu. Sie schaute auf. Sein Gesicht war leichenblass und genauso taub fühlte sie sich auch.
Ezra.
Nicht ihr Vater. Er musste nicht ihr Vater sein, wenn sie es nicht zuließ. In ihren Gedanken konnte er einfach Ezra bleiben. Ezra Blackwood. Ein fremder Mann, mit dem sie nichts zu tun hatte und auch niemals zu tun haben würde.
Ein Mörder. Mehr nicht.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.