Kitabı oku: «Die Schule», sayfa 5
„Du schmeißt mich raus?“ Seine Stimmlage klang erheblich entspannter. Ebenso wie seine Gesichtszüge, hatte sich auch seine Haltung verändert. Statt des selbstbewussten, wütenden Davids trat nun der verletzliche, traurige David in den Vordergrund. Sie versuchte jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Trotz ihrer klar definierten Position spielten ihre Gedanken wie verrückt miteinander Ping Pong.
„Ich schmeiße dich nicht raus. Wir werden nur nicht mehr gemeinsam in diesem Haus hier leben.“
Sie stockte einen Augenblick und stemmte die Hände in die Seiten. Erwartungsvoll sah David seine Mutter durch ihre zerzausten und verfilzten Haare an, die vor ihrem Gesicht hingen.
„Du wirst anderweitig unterkommen müssen, aber ich werde dich bei der Suche nach einer Bleibe unterstützen“, mit ernster und zugleich trauriger Miene hob sie den Kopf und blickte ihren Sohn mit ihren graublauen Augen an. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als ihre Blicke sich trafen. Kein einziges ihrer Körperteile signalisierte ihm unterschwellig, dass sie es nicht ernst meinte. Ihre Augen waren das Einzige an ihrer Erscheinung, die etwas anderes sagen zu wollen schienen. Sie wirkten im Vergleich zum Rest ihrer Körperhaltung unentschlossen. Die Verzweiflung in ihnen war in etwa so passend zu ihrem Auftritt wie ein in Ketten gelegtes Volk zu einem freien demokratischen Land.
„Ein milder Trost, findest du nicht?“
Keine Antwort.
„Wenn du mich loswerden willst, nur zu. Doch so leicht werde ich es dir nicht machen.“ Der traurige Ausdruck aus ihren Augen verschwand. Überraschung war nun das Gefühl, das sich in ihrem matten Glanz zeigte.
„Was meinst du?“ Er atmete tief ein und wieder aus. Sein Kopf senkte sich auf seine Brust, und er schloss die Augen.
„Ich gehe auf deine bescheuerte Sommerschule.“ Faye huschte ein Lächeln über die Lippen, wie man es eigentlich nur nach einem anstrengenden, aber schlussendlich siegreichen Kampf aufsetzen würde.
„Aber ich habe eine Bedingung!“, warf David ein, der das Siegesgefühl seiner Mutter schon witterte. Eigentlich war es hirnrissig, seiner Mutter nachzugeben. Sie war die Fehlermacherin, die für ihre Vergehen gradestehen sollte, nicht er, der diese Vergehen jahrelang miterleben und ausbaden musste, während sie schon längst wieder neue Fehler machte. Aber er war der Diskussionen und der Streitereien müde. Aus diesem Grund blieb ihm also nichts anderes übrig, als auf ihren Vorschlag, so schwachsinnig er auch sein mochte, einzugehen und zu hoffen, dass nach den Ferien wirklich alles besser werden würde.
„Wenn ich zurück bin, endet das hier. Keine weiteren Streitereien, Beleidigungen oder Vernachlässigungen mehr. Ich will mich nicht bis ans Ende meines Lebens mit dir streiten und allein gelassen werden. Wir beide werden mein letztes Jahr auf der High School zusammen in Frieden hier in diesem Haus verbringen. Einverstanden?“
„Ja, das bin ich“, antwortete sie ohne zu zögern. Ein weiteres Mal begann seine Mutter zu lächeln. Diesmal nicht triumphierend, sondern erleichtert. Auch David war erleichtert. Er hatte mit einem Bein schon auf der Straße gestanden und hatte sich mit diesem Kompromiss selbst wieder von dort zurück in die eigenen vier Wände gebracht. Wobei man diesen Beschluss auf keinen Fall einen Kompromiss nennen konnte. Die Definition eines Kompromisses war schließlich die Einigung auf etwas durch ein gegenseitiges Zugeständnis. Doch in diesem Fall gab es kein gegenseitiges Zugeständnis. Es gab nur die Androhung, ihn rauszuwerfen. Man konnte es also bestenfalls eine Erpressung von ihrer Seite aus nennen. Von einer Einigung oder einem Mittelweg konnte keine Rede sein. Sie schloss ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Sein Kopf legte sich auf ihre Schulter, und erstmals am heutigen Tag fühlte er etwas wie Zufriedenheit in seinem Gefühlschaos. Zufriedenheit darüber, dass die Zeit des Streits so gut wie vorbei war. Ein paar Wochen würde er schon aushalten. Nicht gerne, aber er würde es tun, um den aufgestauten Zwist der vergangenen Jahre hinter sich zu lassen und nach vorne sehen zu können. Er hatte nach jedem Strohhalm gegriffen, den er in die Finger bekommen hatte und sah nun die Chance, endlich nach einem stabilen Stahlrohr greifen zu können. Seine Hoffnung, dass dies einfach nichts anderes war als ein weiterer Griff nach dem berühmten Strohhalm war verschwindend gering.
„Alles wird gut werden, Großer“, tröstete Faye ihn und streichelte ihm über den Rücken.
„Ich hoffe es“, entgegnete er seufzend.
„Keine Sorge. Bis du wieder hier bist, werden wir beide wieder im Klaren sein, und dann wird sich hier alles ändern“, versprach sie ihm, was sie jedoch sofort wieder bereute. Er löste sich aus ihrer Umarmung.
„Ich nehme dich beim Wort.“
Ihre Hand tätschelte seine rechte Wange. Unter ihren Fingerkuppen spürte sie die rauen, piksenden Bartstoppeln seiner kurzen, kaum sichtbaren Koteletten.
„Das darfst du“, versicherte sie ihm mit einem warmen Lächeln.
„Wann muss ich dort sein?“, unterbrach er die versöhnliche Stimmung.
„Am Montag schon. Aber die Schulleitung empfiehlt, bereits einige Tage vor Beginn der Unterrichtseinheiten vor Ort zu sein, um sich mit dem doch recht ungewöhnlichen Terrain sowie mit dem Schul- und Wohngebäude vertraut machen zu können.“
„Verständlich“, murmelte David gedankenversunken. Er konnte das, was grade passierte, immer noch nicht gänzlich verarbeiten. Zu überraschend war die Aufforderung seiner Mutter gekommen, die Ferien doch bitte am sprichwörtlichen Ende der Welt zu verbringen.
„Freut mich, dass du das auch so siehst. Wie wäre es, wenn ich dich morgen schon vorbeibringe? Dann hättest du genügend Zeit, die Lehrer kennenzulernen und dir die Schule anzusehen“, schlug sie ihm vor, ohne auch nur ihre Freude über das Fernbleiben ihres Sohnes zu verstecken. Du kannst es echt nicht abwarten, mich loszuwerden, wollte er sagen, entschied sich aber dazu, es besser nicht zu tun. Eine weise Entscheidung. Denn, wenn er seinen Gedanken laut ausplappern würde, hätte Faye ihm ohne zu zögern jede Chance auf ein Mitspracherecht, was den Abreisetag anbelangte, verwehrt. Doch somit wahrte er die Chance der Isolation von der Außenwelt, die ihn erwarten würde, noch einen Tag hinauszuschieben.
„Nein. Nicht morgen schon. Wir können Sonntag fahren. Ich muss mich noch von Zoe verabschieden. Die Kleine wird völlig aufgewühlt sein, dass ich weg bin“, versuchte er ihr mit seiner gesamten Überredungskunst zu erklären. Zu seiner Überraschung versuchte sie nicht, ihn umzustimmen, sondern willigte verständnisvoll ein. Scheinbar konnte sie sich doch noch etwas gedulden, bis sie das Haus für sich und ihre Verehrer allein hatte. Peinliches Schweigen trat ein. Keiner der beiden wusste, was er sagen sollte. Ratlos standen sie sich gegenüber und starrten auf die Fugen zwischen den Fliesen, welche den Küchenboden zierten. Der Klingelton seines Handys brach die Stille, die sich im Raum ausgebreitet hatte.
„Tut mir leid, ich schalte es aus“, entschuldigte er sich und griff in seine Hosentasche.
„Nein, schon gut. Geh ruhig ran. Ich muss mich sowieso beeilen. In einer Stunde beginnt meine Schicht“, erwiderte sie mit einem flüchtigen Blick auf ihre Uhr. Sie arbeitete als Pflegerin in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie und war eng mit dem dort zuständigen Chefarzt befreundet, was ihr schon den ein oder anderen Bonus eingebracht hatte. Zudem hatte sie das Glück aufgrund dieser Freundschaft mit besagtem Vorgesetzten, dass sie noch nie in ihrer bisherigen Berufslaufbahn zwischen den Schichten pendeln musste. Nach ihrem freien Tag gestern erwarteten sie nun vier Nächte, die sie damit verbringen musste, auf die mehr oder weniger schlafenden „Psychoratten“ – einer ihrer geläufigsten Begriffe für psychisch kranke Kinder – aufzupassen. Außerdem konnte sie ihren Beruf wunderbar als Ausrede nutzen, um sich nicht um Davids Probleme kümmern zu müssen. Jedes Mal wenn er es versucht hatte, wurde er immer wieder auf dieselbe Art von ihr zurückgewiesen.
David bitte, das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Ich habe schon auf der Arbeit genügend Psychostress, dann brauch ich das nicht auch hier zuhause noch.
„Alles klar, dann gehe ich auf mein Zimmer“, sagte er und winkte ihr mit dem Smartphone in seiner Hand zu.
„In Ordnung. Bis morgen .“
„Bis morgen, Mom“, verabschiedete er sich ebenfalls von ihr und verschwand in den Flur. Sein Blick wanderte zu seinem Display auf dem groß der Name „Trae“ zu lesen war.
„Yo Trae, was gibt’s?“, meldete er sich.
„Hey Bruder, was geht?“
„Hol dir lieber was zu essen und machs dir bequem.“
„Wieso das?“, fragte Trae, der sowieso zweifelsohne in diesem Moment mit einer Tüte Paprikachips in seinem Bett lag und ihm zuhörte.
„Es könnte etwas dauern, wenn du das wirklich wissen willst“, seufzte David in das Mikrofon seines Handys und schloss schwungvoll die Tür hinter sich.
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„Ist das dein Ernst, Bruder?“, fragte Trae überrascht und senkte die Hand, mit der er sich grade eine Portion stark gewürzte Chips in den Mund schaufeln wollte.
„Warum sollte ich mir so einen Mist ausdenken?“, entgegnete David am anderen Ende der Leitung genervt.
„Scheiße, Mann, und was machst du jetzt?“
„Die gesamten nächsten Wochen im Urlaubsort der Beschränkten und Minderbemittelten verbringen, was sonst? Wenn nicht, dann wirft mich meine Mom auf die Straße, und ich kann meinen Abschluss vergessen.“
„So eine…“
Den Rest hörte David nicht mehr. Er wusste auch so, was Trae sagen und wie er sie nennen würde. Seine Konzentration galt nicht Traes Beleidigungen, die er auf seine Mutter losließ, sondern der Frage, wie er die nächsten Wochen überstehen würde, ohne komplett wahnsinnig zu werden.
„Du hattest Recht. Mit Eltern zu leben, klingt echt scheiße.“ David widersprach ihm nicht. Schließlich waren es seine Worte, die Trae zitierte, und außerdem war es genau das bisher für ihn immer gewesen. Er konnte sich an keinen Moment erinnern, in dem seine Eltern ihm das Leben auch nur etwas erleichtert hatten.
„Wie auch immer. Das Schlimmste ist, dass ich mein Handy hierlassen muss. Das heißt, ich bin höchstwahrscheinlich gar nicht zu erreichen“, fuhr David fort.
„Mit Sicherheit nicht. Bestimmt gibt es dort ein Telefon, das du benutzen kannst.“
„Ja auf dem Schreiben stand etwas von einer Möglichkeit telefonieren zu können, doch nur zu festgesetzten Zeiten.“
„Dann schreib dir meine Nummer auf und ruf mich an sobald du kannst. Ich hab immer Zeit für dich, Bruder, das weißt du ja“, versicherte Trae ihm und wischte sich die fettigen und von Gewürzen bedeckten Finger an seinem weißen Tank Top ab.
„Danke Kumpel, ich werd dich garantiert anrufen“, antwortete er dankbar und drückte die Lautsprechertaste. Dann erhob er sich von seinem Bett und öffnete seinen Kleiderschrank. Unter ihm wurde die Tür des Wagens seiner Mutter zugeknallt. Ein kurzes Aufbrummen des Motors, und wenige Sekunden später rollte sie aus der geöffneten Garage auf den heißen Asphalt der Straße. Währenddessen entledigte David sich seines California T-Shirts und warf es auf seinen viel zu niedrig eingestellten Schreibtischstuhl. „Kein Problem, Amigo, ich hab immer Zeit.“
Inzwischen hatte David sich an Traes breit gefächertes Repertoire an Synonymen für das Wort „Freund“ gewöhnt. Anfangs hatte es ihn gestört, dass er in so gut wie jedem Satz mindestens eines davon benutzte, doch mit der Zeit hatte er sich an diese Macke gewöhnt.
„Ach, Trae, wie geht’s dir eigentlich? Hast du dich von deinem Trip erholt? Du wirktest heute nicht ganz auf dem Damm. Ich hab mir echt Sorgen gemacht, dass du durchdrehst oder anfängst verrückt zu werden“, wechselte David das Thema und zog sich ein ausgeleiertes hellblaues Unterhemd an.
„Soll ich dir mal was verraten?“, fragte Trae und stand ebenfalls von seinem Bett auf.
„Klar, warum nicht“, antwortete David verwirrt und schloss seinen Kleiderschrank. Gemächlich ging Trae zu seiner Zimmertür und betrachtete die dort an der Magnetwand hängenden Bilder. Es waren Zeichnungen, die er von seinen Alpträumen angefertigt hatte. Sein Psychotherapeut hatte ihm empfohlen, die Träume, die ihm Angst machten, aufzuzeichnen. Das würde sie greifbarer und reeller machen, meinte er. Wenig sinnvoll, wenn es sich dabei um Alpträume handelt. Doch nach den ersten Malen begriff Trae, dass es sie nicht nur greifbarer und reeller machte, sondern sie eben dadurch ihren Schrecken verloren. Ihr Abbild sorgte dafür, dass sie in seinen Augen ihre Unantastbarkeit verloren. Sie waren nicht mehr lebendig und unüberwindbar. Er hatte sie auf dem Papier erstarren lassen und sie handlungsunfähig und angreifbar gemacht. Seine Finger glitten über die schwarzen Linien auf den Blättern.
„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich getan habe“, beichtete er ihm und neigte den Kopf etwas zur Seite.
„Ernsthaft? Du kannst dich nicht mehr daran erinnern, was du mir erzählt hast? Du sahst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen“, erwiderte David ungläubig. Nachdem er einen flüchtigen Blick in den Spiegel geworfen hatte, nahm er sich den kleinen Basketball, der hinter ihm in einer weißen Plastikschale lag, die auf einem kleinen Holzregal stand. Ein weiteres Geschenk von Owen, das er selbst gebaut hatte. Er war immer der Meinung gewesen, dass, wenn er Faye etwas mitbrachte, er auch David eine Kleinigkeit mitbringen sollte. Seine Zuneigung hatte nicht nur ihr gegolten. Ebenso schenkte er auch David etwas davon. Die Beiden hatten sich einwandfrei verstanden und kamen mehr als gut miteinander aus. Nicht selten hatte David sich gewünscht, dass Owen sein neuer Stiefvater werden würde. Doch seine Mutter hielt es nie besonders lange mit einem Mann aus, der tatsächlich die Vorstellung von einer richtigen Familie hatte und nicht nur auf die Zeit aus war, die er mit ihr im Bett verbringen würde
„Vielleicht habe ich das ja auch“, murmelte Trae unverständlich. Er entdeckte die Ecke eines weiteren Bildes, welches hinter einer Zeichnung hervorschaute, die sich in der Nähe des linken Türrandes befand. Obwohl er die Zeichnungen alle selbst entworfen hatte, konnte er sich nicht an alle erinnern. Jeden Tag entdeckte er einen neuen Alptraum, den er zu Papier gebracht hatte. Neugierig griff er nach der Ecke des versteckten Blattes und entfernte den Magneten von dem Bild, welches es verdeckte. Das Vordere befestigte er erneut mit dem Magneten an der Wand.
„Was hast du gesagt?“, fragte David und warf gelangweilt den Basketball in den ähnlich kleinen Korb, der über seinem Spiegel hing.
„Hm? Nichts, alles in Ordnung“, entgegnete Trae abgelenkt von dem Bild in seiner Hand.
„Wenn du meinst.“
„Ja, ja, schon gut. War wahrscheinlich einfach ein Blackout. Die Hitze setzt mir einfach zu, verstehst du?“
Mit dem Bild in der Hand setzte er sich wieder auf sein schmales Bett. Zum Glück war er selbst sehr schmächtig und passte deswegen noch problemlos hinein.
„Wem sagst du das. So geht es uns doch allen im Moment. Wenn man dann auch noch so high ist wie du, dann wundert es mich wenig, dass man einfach mal die Nerven oder das Gedächtnis verliert.“
„Mann, das liegt nicht an dem Stoff. Ich werde einfach nur alt, das ist alles“, erklärte er David scherzend.
„Mit deinen achtzehn Jahren sollte ich dich eigentlich längst ins Altersheim gesteckt haben“, führte David schmunzelnd weiter aus.
„Ist doch geil. Dann krieg ich das Zeug sogar legal und gehe gleich zum nächstbesten Cop, den ich finde und rauche genüsslich vor ihm meinen Joint.“
Die Vorstellung gefiel ihm so gut, dass er das Bild, welches er vor sich auf das Laken gelegt hatte, für einen Augenblick vergaß.
„Wie wärs mit Hank Thompson?“, fragte David und hob den Basketball vom Boden auf. Schallendes Gelächter ertönte aus den Lautsprechern des Handys.
„Billy, du bist genial“, lobte Trae ihn, „Hank Thompson. Die lebendige Mettwurst, die mich beinahe hätte auffliegen lassen. Gut, dass du ihn für seine schmutzigen Geschäfte angezeigt hast.“
„Er hatte es nicht anders verdient.“
„Da sagst du was Wahres, Bruder.“
Den Blick auf das Bild gerichtet, suchte er mit seinen Finger die halb aufgerauchte Packung Chesterfield, die auf seinem Nachttisch lag.
„In wie vielen Fällen haben sie ihn nochmal drangekriegt?“
„Dreizehn in Kinderpornographie, zwei in Kindesmissbrauch und vier wegen sexueller Belästigung“, zählte David auf und warf ein weiteres Mal auf den Korb an seinem Schrank. Zu seiner Enttäuschung musste Trae feststellen, dass sich in der Packung nur noch zwei Zigaretten befanden. Gekonnt schnippte er sich eine in den Mundwinkel und zündete sie mit einem Feuerzeug aus seiner Hosentasche an. Die Letzte ließ er unberührt in der Schachtel zurück. Er entschied sich, sie für eine Situation aufzuheben, in der er sich nur zu gerne an ihr festklammern würde, um Stress abzubauen. Die Schachtel legte er sorgfältig wieder auf den kleinen Tisch, der neben seinem Bett stand. Als er sie dort abgelegt hatte, griff er nach seinem Aschenbecher und stellte ihn neben sich ab. Entspannt nahm er den ersten Zug von seiner qualmenden Zigarette.
„Manche Menschen sind einfach nur krank. Wenn es einen Teufel gibt, dann sind das seine besten Freunde“, erzählte David sich selbst.
„Natürlich gibt es ihn, aber seine Freunde sind wir alle. Wenn wir sterben, landen wir alle in der Hölle, Bruder, so ist das nun mal.“ Ein wenig Asche fiel in den flachen schwarzen Aschenbecher. „Wieso?“, fragte David interessiert. Trae mochte zwar nicht der Klügste oder Hochbegabteste sein, aber manche Sachen, die ihm durch Kopf gingen, hatten viel Wahres und zum Teil auch Weises an sich.
„Komm schon. Nenn mir einen Grund, warum einer von uns beiden in den Himmel kommen sollte“, forderte er ihn auf.
„Vergebung“, antwortete David wie aus der Pistole geschossen. Er hatte sich lange Zeit mit diesem Thema nach den Ereignissen von vor drei Jahren beschäftigt. Sündenvergebung sei der Schlüssel zu Gottes Reich, den nur er uns geben kann, hatte ihm der Pastor der örtlichen Kirche gesagt, welchen er nach der Trennung seiner Eltern aufgesucht hatte. Sonderlich gläubig oder spirituell veranlagt war er nie wirklich gewesen, doch die Gespräche mit ihm hatten David immer einen inneren Frieden und eine Ruhe verschafft, die er bisweilen kaum erreichen konnte. An etwas wie ein Leben nach dem Tod konnte er glauben, doch der Gedanke eines reellen, gutmütigen Gottes schien ihm etwas weit hergeholt. Dafür gab es einfach keine ihm schlüssigen Erklärungen. Dafür gab es zu viel Leid und Ungerechtigkeit auf der Welt. Wenn es einen Gott geben würde, wollte er ihn nicht. Ein Gott, der seine selbst geschaffene Welt zugrunde gehen lassen würde und den Menschen, die auf ihr lebten, so ein schmerzerfülltes Leben gab, hatte für ihn nichts Gutmütiges oder Barmherziges an sich.
„Wie viele Menschen leben auf der Welt? Sieben Milliarden? Acht Milliarden? Gehen wir mal von knapp acht aus. Davon bezeichnen sich über sechzig Prozent als religiös. Das bedeutet vierzig Prozent der Weltbevölkerung beten nicht um Vergebung und sündigen schamlos. Kannst du mir folgen?“
„Klar, sprich weiter“, bat ihn David. Die Neugier hatte ihn gepackt. Er wusste genau, dass Trae wusste wovon er redete. Das wusste er immer. Er überlegte sich immer genau, was er sagte und wenn er es sagte, war er fest davon überzeugt. Man konnte es meist kaum glauben, wenn man mitbekam, was er für einen Stuss redete, wenn er high oder betrunken war, doch wenn er nüchtern war, was relativ selten vorkam, konnte er zum gelehrten Philosophen aufdrehen.
„Das heißt über drei Milliarden Menschen haben einen Freifahrtschein ins Fegefeuer. Es gibt ungefähr zwei Milliarden Christen. Wenn wir das auf uns Christen übertragen, sind das knapp achthundert Millionen Ungläubige.“ Er schnippte etwas Asche von seiner glühenden Zigarette.
„Von den übrigen Gläubigen lassen sich fünfzehn bis zwanzig Prozent scheiden. Wieder mehr als zweihundert Millionen Sünder, die gegen die Gebote verstoßen.“
„Moment Mal“, unterbrach David ihn und jonglierte den Ball in seinen Händen.
„Was ist mit den restlichen sechs Milliarden?“
„Die sind nicht das Problem unseres Gottes, David. Buddhisten, Muslime, Juden. Sie haben andere Heilige, denen sie vertrauen und ihre Sünden beichten. Stell es dir wie eine Schulklasse mit zehn Kindern vor. Jedes der Kinder hat andere Eltern, und jeder hat ein anderes Verhältnis zu ihnen und sieht sie auf eine andere Art. Manche lieben sie, manche hassen sie und manche werden von ihnen verstoßen und verletzt.“
Bläulicher Rauch stieg zur Zimmerdecke empor. Wie so oft, wenn er anfing genauer über etwas nachzudenken und zu philosophieren, hatte er seine Redegewohnheiten abgelegt. In seinen Sätzen verfingen sich keine überflüssigen Ausdrücke oder Bezeichnungen für David. Je mehr ihn etwas beschäftigte, desto ernster und sachlicher redete er darüber.
„Okay gut, aber das sind bloß etwas mehr als eine Milliarde, die in die Hölle kommen. Deine Rechnung geht nicht ganz auf, um nicht zu sagen sie ist weit von dem entfernt, was du beweisen willst“, bemängelte er.
„Warte doch mal ab.“
Es grenzte fast an ein Wunder, dass die Zigarette in seiner Hand das Einzige war, das Rauch abgab und sein ratternder Denkapparat nicht auch noch einen Teil dazu beitrug.
„Was ist denn mit den ganzen anderen Sünden? Jeder Mensch lügt in etwa 25 Mal an einem einzelnen Tag. Das sind 25 kleine Sünden, die jeder Einzelne von uns täglich begeht.“
David musste an die Situation vorhin denken, als er seine Mutter wegen des Glases angelogen hatte. Aber schließlich heiligt der Zweck die Mittel, und der Zweck war es, Zoe vor seiner aufgebrachten Mutter zu beschützen. Manchmal muss man eben eine kleine Sünde begehen, um eine Katastrophe verhindern zu können.
„Meinst du nicht, dass solche kleinen Vergehen kaum eine Rolle spielen werden?“ Nachdenklich nahm er den Ball von der einen in die andere Hand.
„Okay, gehen wir mal davon aus, dass kleine Notlügen vergeben werden können und keine Rolle spielen. Was bleibt dann immer noch?“, fragte Trae David und gestikulierte wild mit der Zigarette in seiner Hand umher. Etwas Asche rieselte auf seine Bettdecke.
„Sag du es mir“, bat er ihn und betrachtete sich im Spiegel seiner Schranktür.
„Erst einmal sind da die 10 Gebote. Auch, wenn wir von einem augenscheinlich korrekten und sündenfreien Christen ausgehen. Du kennst doch bestimmt Charles Bloom oder?“
„Der alte Mann, der ehrenamtlich in unserer Schulbibliothek aushilft?“
„Ja, genau der. Nie geschieden gewesen, nie seine Eltern verschmäht, nie jemanden ermordet, nie jemanden bestohlen, war stets jeden Sonntag in der Kirche. Trotzdem wird er, wie wir auch, nach seinem Tod in die Hölle kommen. Denkst du, er hat sich jemals an die Fastenzeit gehalten? Denkst du, er hat auch nur einmal seinen Rinderbraten an Karfreitag gegen einen Fisch ausgetauscht? Denkst du, er hat nie jemanden zu seinem eigenen Vorteil angelogen oder geflucht? Oder glaubst du, er war noch nie auf irgendetwas oder irgendjemanden neidisch?“
„Natürlich denke ich das nicht“, gab David zu.
„Und warum nicht?“
„Weil es nun mal menschlich ist.“
„Ja, verdammt richtig. Es ist menschlich.“
Begeistert zog Trae ein weiteres Mal an seiner Kippe.
„Es liegt in unserer Natur, Grenzen und Regeln zu brechen. So haben wir uns weiterentwickelt. So konnten wir Großes schaffen. Nimm nur die sieben Todsünden. Jedes riesige Bauwerk, jedes noch so prunkvolle Gebäude und jeder noch so teure überflüssige Gegenstand ist das Ergebnis von Völlerei und Maßlosigkeit. Päpste, Bischöfe, Kardinäle, alle sind sie in der Hölle gelandet, wegen ihrem verschwenderischen Leben, ihrem Geiz und ihrem Übermut. Die, die unsere Kirche und Religion als Stellvertreter Gottes darstellen, predigen Gott als liebenden Vater und gutmütigem Schöpfer. Aber wenn sie nicht das Glück gehabt hätten, solch eine Ausbildung zu erhalten, wo wäre dann ihr liebender Vater, wenn sie bettelarm auf der Straße gelandet wären? Entweder sind sie einfach schlecht in ihrer Aufgabe oder Gott ist grausam. Denn, wenn er tatsächlich so wäre, würde das bedeuten, dass er einen Teil der Menschen bewusst mehr lieben würde und ihnen Reichtum und Macht gibt. Den Rest speist er ab mit dem was übrig ist.“
Er legte eine kurze Pause ein, um sich zu sammeln und fortfahren zu können.
„Das heißt aber, dass ihnen trotzdem vergeben werden kann. Wenn er ihnen ihre Sünden vergibt, kommen sie nicht in die Hölle“, ging David dazwischen. Nach seiner Begutachtung im Spiegel und der Einschätzung, dass er wieder eine Rasur nötig hätte, hatte er sich wieder auf seine Bettkante gesetzt und gebannt Traes Worten gelauscht.
„Denkst du tatsächlich, das will er? Warum sollte er jemanden auf seine Wolke hoch holen wollen? Merkst du nicht, wie es in der Welt zugeht? Krieg, Zerstörung, Gewalt, Armut finden direkt neben den Superreichen und ihren Luxusvillen statt. Der Klimawandel zerstört unsere Welt, auf der immer mehr Menschen leben. In dreißig Jahren wird es zehn Milliarden Menschen geben, die auf der Welt leben. Bis dahin wird unsere Welt noch mehr zerstört sein. Eines Tages werden Staaten vom Meer verschluckt werden, und wir werden immer weniger Land haben, das wir beherrschen können. Irgendwann wird der Tag kommen, wo wir an unserem eigenen Fortschritt ersticken werden, und die Erde wird zu einem Planeten, der frei von der Seuche namens Mensch ist. Der Tag, an dem wir aussterben, wird der Tag sein, an dem Gott sein zweites Paradies errichten kann, aber diesmal ohne Adam und Eva. Denk einmal darüber nach, David. Meinst du wirklich, er will uns retten und uns von unseren Sünden erlösen?“
Ein letzter Zug, dann drückte er die Zigarette im Aschenbecher aus. Angestrengt dachte David nach. Er würde gerne etwas erwidern und das Ganze vielleicht doch noch ins Positive wenden, doch Trae schien so gut wie alle seine Argumente negiert zu haben.
„Vielleicht sollten wir über etwas anderes reden. Etwas mit weniger deprimierenden Aussichten. Davon habe ich heute weiß Gott schon genug erlebt“, sagte David erschöpft und wischte sich ein paar Mal über die Stirn.
„Klar, warum nicht.“ Er merkte, dass es ihn deprimiert hatte, die Diskussion gewissermaßen verloren zu haben.
„Yo Trae!“ Es klopfte ein paar Mal laut. „Was ist denn?“, antwortete er genervt in der Hoffnung, dass man ihn allein lassen würde.
„Mike, Cory und ich wollen draußen ein paar Körbe werfen gehen. Kommst du mit?“
„Verzieh dich, Vinnie!“, rief er durch die geschlossene Tür zurück.
„Penner“, hörte er den Jungen vor der Tür leise murmeln.
„Ich kann dich hören, du Wichser!“ Kurz danach fiel die schwere Eingangstür ins Schloss.
„Tut mir leid, Kumpel. Vinnie geht mir in letzter Zeit ziemlich auf die Eier“, entschuldigte er sich für die benutzte Beleidigung. Auch das tat er häufiger bei David als bei anderen, dass er sich für solche Lappalien rechtfertigte, obwohl dieser eigentlich absolut kein Problem damit hatte.
„Alles gut, kein Problem“, beruhigte er ihn.
„Gut. Lass uns morgen noch was machen, bevor du dich ans Ende der Welt verziehst.“
„Ich muss morgen noch meine Koffer packen und mich von Zoe verabschieden und schauen wie es ihr geht. Sagen wir, ich hol dich gegen vier ab und wir fahren was essen?“ „
Vier Uhr, Neun Uhr, egal wann, ich bin dabei, Bruder“, versicherte Trae ihm. Sein Blick wanderte ein weiteres Mal über das Bild vor ihm auf dem Bett. Irgendetwas daran schien ihn anzuziehen und zu faszinieren. Dabei sah es eigentlich nicht viel anders aus als die anderen, die an seiner Tür hingen. Vielleicht war es einfach nur, weil es sich halb versteckt hinter einem anderen verborgen hatte und ihm so lange Zeit nicht aufgefallen war. Doch dann hätte er auch hinter die anderen Zeichnungen gesehen, ob sich dort noch weitere Alpträume verstecken würden. Verzweifelt suchte er nach einem Grund, warum es ausgerechnet dieses Blatt war, das ihn so in seinen Bann zog, doch er fand keinen.
„Super, dann bin ich morgen pünktlich da und nehme dich mit.“ „Brauchst du vielleicht noch ein bisschen was für die paar Wochen?“ Davids Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht. Er hatte gehofft, dass er ihm diese Frage nicht stellen würde. Es war ihm unangenehm darüber zu reden, nachdem seine Mutter den Geruch sofort erkannt hatte und hysterisch geworden war. Dass es ein Fehler gewesen war, wusste er selbst auch. Ebenso bereute er es auch und wollte nichts weiter damit zu tun haben. Wenigstens konnte er nun mit Sicherheit sagen, dass diese Art der Entspannung keine Option für ihn darstellte.
„Nein, brauche ich nicht. Ich will damit nichts mehr zu tun haben, verstehst du? Ich wollte nur die Erfahrung machen, wie es ist. Nicht mehr und nicht weniger. Danke Trae, aber das ist einfach nichts für mich“, erklärte er ihm kühl.
„Respektiere ich vollkommen. Aber wenn du es dir anders überlegen solltest, sag mir einfach Bescheid.“
„Werde ich. Danke für dein Verständnis.“
„Immer wieder gerne, mein Freund. Du weißt doch auf den alten Trae ist immer Verlass.“ Mit einem Male stockte er. Ruckartig nahm er das Bild in seine Hände und betrachtete es genauer. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinem gesamten Körper aus. Sein Hals wurde trocken, und er begann zu schlucken. Zaghaft strich er über die Linien, die er selbst auf das Papier gebracht hatte, als wollte er sich vergewissern, dass sie wirklich da waren und er sie sich nicht nur einbildete.
„Das weiß ich zu schätzen“, antwortete David, der nicht ahnte, mit welcher Angst sein Gesprächspartner grade zu kämpfen schien.
„Hey, mir ist grade aufgefallen, dass ich Kurt noch seine Bestellung liefern muss. Kann ich dich später wieder anrufen?“