Kitabı oku: «Die Schule», sayfa 6
Nun hatte auch er eine von seinen 25 kleinen Sünden ausgesprochen.
„Klar. Ich muss mir eh noch Gedanken machen, was ich alles mitnehme.“
„Gut, dann bis später“, verabschiedete Trae sich flüchtig und legte auf. Mit einem Satz sprang er von seinem Bett und lief zu seinem Schreibtisch hinüber. Eilig schaltete er seine Lampe an und riss ein leeres Blatt von seinem Zeichenblock ab. Hektisch setzte er sich auf den braunen dreibeinigen Holzhocker, den er unter dem Tisch hervorgezogen hatte. Ohne zu zögern, griff er nach dem nächstbesten Bleistift, den er in die Finger bekam. Stärke 6B. Eigentlich nicht optimal für die Vorarbeit von Zeichnungen, doch das spielte in diesem Moment keine Rolle. Er musste das, was er gesehen hatte – oder besser gesagt glaubte gesehen zu haben – so schnell wie möglich auf Papier bringen, bevor er es wieder vergessen würde. Ein letzter Blick auf das Bild, das er neben das leere Blatt gelegt hatte, dann setzte er den Stift auf und begann zu zeichnen.
11
Prüfend betrachtete David sein Veilchen im Badezimmerspiegel über dem Waschbecken. Es war weiter angeschwollen seit seiner Auseinandersetzung mit seiner Mutter. Noch leuchtete es schwach blau, doch bereits morgen würde es die Farbe einer prächtigen Blaubeere haben. Seine Hand griff nach dem schwarzen Nassrasierer, der auf einer kleinen Ablagefläche neben dem Spiegel über dem Waschbecken lag. Seine Bartstoppeln waren bereits mit weißen Rasierschaum überzogen. Das heiße Wasser befeuchtete die Klingen des Rasierers, als er ihn unter den laufenden Wasserhahn hielt. Er könnte etwas an seiner Fitness arbeiten, wenn er an der Sommerschule wäre, dachte er während er oberkörperfrei im Badezimmer stand und den Schaum von seinem Rasierer unter dem Wasserstrahl abspülte. Doch er konnte sich nicht dafür begeistern, genauer über diese Idee nachzudenken. Zu sehr geisterten ihm die Geschehnisse der letzten Stunden, Tagen, Wochen, Monaten und sogar Jahre im Kopf umher.
Pass auf, Daddy! Oh Scheiße! Die Reifen des Mercury Cougar quietschten. Ein lauter Rums fuhr durch den Wagen, der abrupt stehen blieb. Eine Frau begann zu schreien, als Paul aus dem Auto sprang und zu der am Boden liegenden Ms. Dalton hastete.
Er stellte den Wasserhahn auf kaltes Wasser um.
Sie haben eine Posttraumatische Belastungsstörung, Paul. Besonders wichtig ist jetzt für Sie, dass Sie sich von Ihrer Familie und Ihren Freunden helfen lassen und sich nicht von ihnen abkapseln.
David füllte seine Hände mit etwas kühlem Wasser und wusch sich die Reste des Rasierschaums aus dem Gesicht.
Ich hab das im Griff, Faye. Es hilft mir, zu vergessen. Mach dir keine Sorgen, bald wird alles wieder gut.
Er nahm sich eines der Handtücher aus dem kleinen Holzregal, das rechts neben der offenen Tür etwa auf der Höhe von Davids Kopf hing. Das Handtuch war rau und kratzte, als er sich das Gesicht trocknete.
Sag es, Baby. Oh mein Gott Ray du Hengst.
Seine Schwellung begann zu schmerzen, als er mit dem rauen Stück Stoff darüberfuhr. Mit einem schmerzlichen Zischen zog er das Handtuch zurück und hing es an den metallenen Haken neben das Waschbecken.
Ey Mann, was ist los mit dir? Komm erzähl mir, was los ist. Ach ja, ich bin übrigens Trae.
Er hockte sich auf den Boden und öffnete den kleinen Schrank unter dem Waschbecken. Eine blaue Plastikkiste mit der Aufschrift „Salben und Lotionen“ kam hinter ein paar Rollen Toilettenpapier zum Vorschein.
Dein Vater will sich von mir scheiden lassen. Er will uns verlassen.
David holte die Kiste aus dem Schränkchen hervor. Eine Tube Voltaren fiel ihm ins Auge, die er, ohne zu zögern, herausnahm. Seine Mutter hatte ihm regelrechte Vorträge darüber gehalten, welche Salbe und Lotion er wofür nehmen musste. Seine Augen überflogen den Namen und den Text auf der Packung, dann stellte er die Kiste zurück an ihren Platz.
Machs gut, mein Großer. Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Du kannst meinen Wagen haben. Der Schlüssel fiel lautlos in seine Hand.
Die Tür des Schränkchens knallte zu. Langsam erhob er sich und begutachtete sein Auge erneut im Spiegel.
Er ist weg, Mom! Er ist abgehauen, weil du nicht da warst! Du hättest da sein müssen! Das alles ist deine Schuld!
Der Deckel der Tube fiel in das Porzellanbecken. Eine kleine Portion der kühlen Salbe landete auf seinem Zeigefinger, die er sorgfältig in einer dünnen Schicht auf seinem blauen Auge auftrug. Bevor er den Rest von seiner Fingerkuppe wusch, fischte er den Deckel der Tube aus dem Becken und verschloss sie wieder.
Es wird nichts bringen, ihn zu suchen. Er wird schon viel zu weit weg sein.
Mit der Salbe in der einen und seinem Unterhemd in der anderen Hand verließ er das Badezimmer. Sein Zimmer lag mit dem Bad auf einer perfekten graden Linie. Das Bad befand sich direkt links am oberen Ende der Treppe. Von dort aus erstreckte sich der Flur etwa zehn Meter bis zu Davids Zimmer. Zudem befanden sich in der Flurmitte noch zwei weitere Zimmer. Das Zimmer, welches näher am Badezimmer lag, gehörte seiner Mutter und war außerdem das Größte von allen. Wenige Meter zwischen ihrem und seinem Zimmer, lag Bobbys ehemaliges Zimmer. Es war weder leer noch ausgeräumt worden. Seit seinem Verschwinden hatte niemand etwas darin geändert oder umgeräumt. Es war noch genauso mit Spielzeug, Büchern und sonstigem Schnickschnack überfüllt, wie zu der Zeit, als er noch darin gewohnt hatte. Wenn man es betrat und seine Sachen dort so liegen sah, konnte man meinen, dass hier vor wenigen Minuten noch gespielt und getobt wurde. Bobby hatte schon immer eine Vorliebe für jegliche Art von Actionfiguren und diversen anderen Figuren gehabt, die sich, nach seinem Befinden, ausgezeichnet in seine Fantasie einbauen ließen. David bekam es jedes Mal mit der Angst zu tun, wenn er an dem Zimmer seines Bruders vorbeiging. Auch wenn es schwachsinnig und unlogisch war, hatte er eine ungeheure Angst, dass jede Sekunde sein kleiner Bruder hinter der Tür sitzen und nach ihm rufen würde, dass er mit ihm spielen solle. Auch dieses Mal bekam er eine Gänsehaut, als er daran vorbeiging, der Tür den Rücken zukehrte und sie einen Moment aus den Augen ließ.
Das wolltest du doch, nicht wahr? Ein Problem weniger, um das du dich kümmern musst. Du konntest es doch kaum erwarten, dass er die Flucht ergreift.
Seine Hand, in der er immer noch die Salbe hielt, griff nach seiner Zimmertür und schloss sie hinter sich. Gähnend legte er die Tube auf seinen kleinen Nachttisch, der neben dem Bett stand.
Hast du meine Tochter verletzt? Was hast du meiner Tochter angetan, du verdammter Hurensohn?!
Anders als sein T-Shirt, landete sein Unterhemd auf seiner Bettdecke, welche völlig zerwühlt auf dem hellblauen Bettlaken lag. Müde setzte er sich auf seine Bettkante und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
Deswegen, denke ich, brauchen wir etwas Abstand voneinander.
Er kratzte sich am Kopf und warf einen flüchtigen Blick auf sein Smartphone, das neben seinem Unterhemd auf dem Bett lag. Es zeigte sechs Minuten nach neun an. Seine Mutter war also seit etwa einer Stunde aus dem Haus. Er nahm es in die Hand und stellte den Klingelton auf die höchstmögliche Lautstärke. Mit dem Display nach oben legte er es neben die Tube auf den Nachttisch. Er würde sich nur etwas hinlegen und warten, bis Trae ihn wieder anrufen würde. So lange konnte er noch schlafen.
Du hast Dad verscheucht! Bobby ist wegen dir abgehauen, und du hast noch nicht einmal versucht, ihn zu finden!
Mit diesem Satz, der ihm wie die anderen zuvor durch den Kopf geschossen war, legte er sich hin und schlief nur wenige Augenblicke später ein.
12
Ein Donnerschlag ließ David hochschrecken. Angespannt saß er kerzengrade auf seinem Bett und lauschte den Geräuschen, die sich vor seinem Fenster abzuspielen schienen. Kein Regen war zu hören. Kein Blitz durchzuckte die dunkle, sternenklare Nacht. Einen Moment verharrte er und lauschte angestrengt in die Stille der Hochsommernacht hinein. Verwirrt stand er auf und öffnete das Fenster. Die Luft war genauso schwül und stickig, wie wenige Stunden zuvor. Nichts deutete auf ein kühlendes Sommergewitter hin. Vermutlich hatte er sich den Donner nur eingebildet, dachte er sich. Schnell schloss er das Fenster wieder und sah zu seinem vibrierenden Handy hinüber. Die blinkende Lampe neben der Innenkamera signalisierte ihm, dass er eine neue Nachricht erhalten hatte. Trae hatte ihm geschrieben, dass er ihn in wenigen Minuten anrufen würde. Grade, als er sein Handy wieder zurück auf den Tisch legen wollte, tauchte eine neue Nachricht von seiner Mutter auf dem Display auf. Sie wünschte ihm eine Gute Nacht und bedankte sich, dass er ihr gegenüber vorhin so kooperativ gewesen sei. Was blieb mir den auch anderes übrig, dachte er sich. Er hielt sich nur kurz mit der Beantwortung ihrer Nachricht auf und wünschte ihr noch einen ruhigen Dienst.
Die Uhr zeigte ein Uhr morgens an. Gähnend legte er das Smartphone zurück auf seinen Platz. Verschlafen öffnete er die Tür und ging auf den dunklen Flur hinaus in Richtung des Badezimmers. Nachdem er seine Blase entleert und seine Zähne geputzt hatte, kehrte er auf den Teppichboden des Flurs zurück. Seine Schritte waren lautlos auf dem grauen weichen Boden, der sich über den gesamten Flur sowie die drei Schlafzimmer erstreckte. Er ging an dem Schlafzimmer seiner Mutter vorbei und blieb vor dem Schlafzimmer seines kleinen Bruders stehen. Die Tür war einen spaltbreit offen. Das Licht des Vollmondes schien durch das dreckige Fenster des Zimmers und machte einen kleinen Teil des Raumes sichtbar. Das vorher noch wild auf dem Boden verteilte Spielzeug war verschwunden. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er gab sich einen Ruck und öffnete die Tür noch eine Hand breit und wünschte sich schon kurz darauf, es nicht getan zu haben. Das Bett war das Erste, das ihm sofort auffiel. Auf ihm befanden sich eine frisch bezogene Decke und ein neues Kopfkissen. Vor dem Fuß des Bettes, standen zwei große Spielzeugkisten, die bis obenhin gefüllt waren. Die Bücher, die aufgeschlagen auf dem Boden verstreut waren, befanden sich nun fein säuberlich aufgestellt in den Bücherregalen. Nichts war mehr an dem Platz, wo es sich vor wenigen Stunden noch befunden hatte. Stattdessen war das ganze Zimmer in beste Ordnung gebracht worden. Ängstlich starrte er in den Raum, der früher einmal das Reich seines damals elfjährigen Bruders gewesen war. In dem Moment, als er das Zimmer noch weiter betreten wollte, hörte er sein Handy aus seinem Zimmer klingeln. Er zögerte einen Augenblick. Vermutlich hatte seine Mutter bereits vor einigen Tagen aufgeräumt, und ihm war es einfach nicht aufgefallen, sagte er sich in dem Wissen, dass das nur eine billige Ausrede sich selbst gegenüber war. Doch er schaffte es, sein Wissen in den Hintergrund rücken zu lassen und begnügte sich mit der eigenen Lüge. Die Zweite von 25 Sünden innerhalb der letzten acht Stunden, dachte er und musste Trae unbewusst Recht geben. Seine eigenen Lügen zu glauben und für wahr zu erklären, ließ sich nicht so einfach rechtfertigen. Aber sollte er sich jetzt unnötigerweise noch mehr Angst einjagen? Bei diesen recht überschaubaren Auswahlmöglichkeiten fiel ihm seine Entscheidung nicht sonderlich schwer. Entschlossen und von seiner kleinen Ausflucht überzeugt, schloss er die Tür wieder. Mit schnellen Schritten ging er in sein Zimmer und nahm, ohne auf das Display zu schauen, den Anruf an.
„Hey Trae, wieso hast du so lange gebraucht? Du glaubst nicht, wie ich mich grade erschrocken habe“, begrüßte er ihn.
„Gefällt es dir?“, antwortete eine kindliche Stimme am anderen Ende.
„Wie bitte? Wer ist da?“, fragte er stutzig.
„Ich hab mein Zimmer aufgeräumt, damit Mommy nicht wieder so schimpft. Gefällt es dir, David?“, entgegnete die Stimme, ohne genau auf seine Frage einzugehen.
„Wer zum Teufel ist da?“, fragte David ein weiteres Mal, obwohl er glaubte, die Antwort darauf schon längst zu kennen.
„Tut mir leid, dass ich eben so einen Krach gemacht habe, aber die Schranktür ist aus den Angeln gefallen, als ich meine Kuscheltiere darin versteckt habe“, fuhr die Person weiter fort, ohne auf Davids Frage einzugehen. Erschrocken drehte David sich um. Seine Augen fixierten seine weiß angestrichene Zimmertür.
„Bobby? Bist du es?“ Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. „Ich hab dich vermisst, David. Hast du mich auch vermisst?“
„Ja Bobby, das habe ich. Das habe ich so sehr. Wo bist du?“, fragte er weiter. Doch die Tatsache, dass es Bobby war, jagte ihm nur noch größere Angst ein. Seine Stimme klang wie damals, als er noch ein Junge im Alter von elf Jahren war. Doch das war nicht möglich. Inzwischen müsste seine Stimme erheblich tiefer und reifer geworden sein. Außerdem war da noch die schlichte Tatsache, dass Bobby vor Jahren verschwunden war. Sein Kopf ratterte und suchte angestrengt nach einer logischen Erklärung, fand aber keine. Er hörte, wie sich eine Tür im Haus öffnete. Welche es war, konnte er nicht zuordnen, jedoch konnte er fast sicher sagen, dass es eine im Untergeschoss sein musste.
„Ich hatte Hunger“, antwortete Bobby zaghaft. Ein Topf fiel hörbar unter ihm in der Küche zu Boden.
„Bobby. Wo bist du grade?“, fragte David ein letztes Mal ernst und versuchte, seine Angst zu unterdrücken, damit man nicht direkt hören konnte.
„Es ist einsam hier drüben, David. Ich möchte zu dir rüberkommen.“
„Was willst du, Bobby?“
Hastig drehte er den Schlüssel im Schloss seiner Tür herum. Dann eilte er zu seinem Fenster und verschloss auch dieses eilig.
„Ich möchte zu dir, David. Mach mir bitte auf“, bat ihn die kindliche Stimme seines Bruders. Bevor er etwas erwidern konnte, begann etwas, an dem Griff seiner Tür zu rütteln. Sie wackelte stark, aber hielt trotzdem weiterhin Stand.
„Bitte lass mich rein“, wiederholte Bobby freundlich und dennoch wütend zugleich.
„Oh mein Gott“, krächzte David. Seine Panik hatte ihm die Stimme zum größten Teil genommen und ihn unfähig gemacht, einen verständlichen Laut von sich zu geben.
„Ich habe Angst alleine, David, bitte mach mir auf“, rief sein kleiner Bruder ein weiteres Mal aus dem Handy in Davids Hand.
Die Tür vibrierte förmlich unter der Gewalt, mit der jemand versuchte, sie aufzubrechen. Ohne einen Ton von sich zu geben, sank David auf sein Bett zurück und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Sein Handy fiel ihm aus der Hand und landete auf dem Fußboden. Schwer atmend und leicht schluchzend, starrte er die immer noch wackelnde Tür an. Ein letztes Mal hörte er leise aus den Lautsprechern seines Handys die Aufforderung, die Tür aufzumachen. Mit einem Male verstummte alles. Die Tür war wieder so fest in ihrem Rahmen wie zuvor, und aus seinem Smartphone tutete das Freizeichen.
Einen Moment lang schien die Welt sich so weiterzudrehen wie sie es immer tat. Ohne gruselige Anrufe von verschwundenen Geschwistern, die mitten in der Nacht versuchten, in das Zimmer einzudringen. Panisch sah er sich in seinem Zimmer um. Es war genauso leer und unaufgeräumt wie immer. Nach ein paar tiefen Atemzügen begann sein Puls, sich wieder in den Normalbereich zu bewegen. Ein Alptraum, mehr nicht, sagte er sich überzeugt. Einige Momente verbrachte er noch sitzend in seinem Bett, ehe er sein Mobiltelefon vom Boden aufhob und es ausschaltete. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen natürlich. Verzweifelt und immer noch ein wenig ängstlich rollte er sich in seine Decke ein und legte sich auf die Seite. Müdigkeit überkam ihn auf der Stelle. Etwas raschelte hinter ihm. Als er sich halb umgedreht hatte, sah er genau in die Augen seines kleinen leichenblassen Bruder, der aufgerichtet im Bett saß. Das Blut gefror ihm in den Adern. So wie seine Augen, sah auch alles andere an ihm tot aus und stank geradezu nach Verwesung. Doch das Schlimmste waren seine kristallklaren Augen, die ihm direkt in die Seele zu schauen schienen. Das Mondlicht reflektierte so stark in ihnen, dass sie weiß aufblitzten. Grinsend sah er seinen, vor Angst erstarrten, großen Bruder an. Zwischen seinen Lippen schimmerten weiße Zähne hindurch. Viel glänzender und reiner, als man sich die Zähne eines Kindes eigentlich vorstellte.
„Freust du dich, dass ich wieder da bin?“, fragte Bobby ihn freudestrahlend und offenbarte die ganze Pracht seines Gebisses. Sein Grinsen hatte bei weitem nichts freundliches mehr an sich, sondern hatte das Ausmaß einer Horrorfratze, wie man sie sonst nur in Filmen sah. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Ding auf seinem Bett an. Es trug dieselben Sachen wie sein Bruder. Es sprach und bewegte sich sogar wie er. Es war wie eine perfekte Kopie des elfjährigen Bobby Williams, nur eben etwas toter.
„Du freust dich nicht, oder?“
Die Mimik auf dem Gesicht des toten Bobby änderte sich schlagartig. Das diabolische Grinsen war verschwunden und hatte einem enttäuschten und traurigen Ausdruck Platz gemacht. David konnte nicht antworten. Der bloße Anblick der Gestalt, die auf seinem Bett wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn seither ununterbrochen beäugte, schnürte ihm seine Kehle zu und machte jeden Versuch, etwas zu sagen, zunichte.
„Freust du dich denn gar nicht, großer Bruder?“, fragte der kleine Junge traurig in Erwartung einer Reaktion. Doch die gab es nicht. Der erschrockene und ängstliche Gesichtsausdruck hatte sich auf Davids Gesicht eingebrannt wie ein Brandzeichen auf dem Schenkel eines Pferdes. Seine Lippen klebten aneinander, als hätte man sie mit festem Garn zugenäht und hinderten ihn daran zu schreien.
„Liebst du mich nicht mehr?“
Mehr als ein leichtes Kopfschütteln brachte David nicht zustande. Bobbys Hände schossen hervor und griffen nach den Schultern seines großen Bruders.
„Liebst du mich nicht mehr?!“, schrie er ihn an und vergrub seine Finger immer tiefer in seine Schultern. Ein stummer Schrei entfuhr David. Die Finger in seinen Schultern fühlten sich an wie Nägel, die ihm gewaltsam eingeschlagen wurden. Plötzlich begann sich das Gesicht des leichenblassen Bobbys zu verändern. Seine strahlend weiße Haut zerfiel in Fetzen und offenbarte einen Teil seiner Gesichtsmuskeln. Kleine Löcher klafften in seinen Wangen und in seinen Armen. Ein Teil seiner Oberlippe verschwand, als hätte sie jemand mit einem Radiergummi einfach ausradiert. Er schien völlig in sich zu zerfallen. Er beugte sich ganz nah über Davids Gesicht und schrie ihn ein weiteres Mal an, wobei er seinen Mund – Maul würde es besser treffen – so weit aufriss, dass sein Kiefer längst hätte ausklinken müssen. Er spürte, wie etwas auf sein Gesicht hinuntertropfte. Speichel, vermutete er. Doch als das Ding, in Gestalt seines Bruders, zumindest das was von ihm übrig war, etwas von ihm zurückwich, sah er, dass es kein Speichel oder etwas in der Art war. Es waren Tränen. Tränen, die aus seinen Augen kullerten und von seiner Wange herunterfielen. Grade, als David es endlich über sich bringen konnte, etwas zu sagen, begann Bobby anstelle seiner Schultern nun seinen Hals zu drücken. Seine kleinen Hände waren wie die Krallen eines Greifvogels, der eine Maus in den Fängen hatte.
„Hab keine Angst. Wenn du so wirst wie ich, wirst du mich wieder lieben können. Dann wird alles wieder gut“, versuchte er den nach Luft ringenden David zu beruhigen und drückte seine Daumen noch weiter in seine Kehle.
„Entspann dich einfach. Gleich hast du es geschafft, dann sind wir wieder zusammen, David“, sagte er liebevoll und weinte noch bitterer.
13
Schweißgebadet wachte er auf. Sein Rücken hatte sein Bettlaken vollkommen durchnässt und klebte nun an seinem Rücken. Erleichtert stellte er fest, dass er, soweit er das sagen konnte, alleine war. Das Einzige, was gleich geblieben war, war der Vollmond, der dem Zimmer ein wenig Licht spendete. Ein paar Atemzüge später konnte er sich dazu aufraffen, das verschwitzte Bett zu verlassen. Jedoch kam er nicht drum herum, sich ein weiteres Mal ängstlich im Zimmer umzusehen, um erneut festzustellen, dass niemand außer ihm dort war. Unsicher betrat er den dunklen Flur. Ebenso wie in seinem Traum ging er ins Bad, entleerte seine Blase und putzte seine Zähne. Wenige Minuten später, als er an dem alten Zimmer seines Bruders vorbeiging, konnte er nicht widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen. Er bekam eine Gänsehaut, als er nach der Türklinke griff und sie herunterdrückte. Da stand er also. Nachts um ein Uhr im Schlafzimmer seines verschwundenen Bruders und sah sich das Chaos an, das dort drinnen herrschte. Actionfiguren, die auf dem Boden verstreut waren, Kuscheltiere, die neben und nicht auf dem Bett lagen. „Der Zauberer von Oz“, lag aufgeschlagen auf dem Bett. Eine Version mit vielen großen Bildern und wenig Text. Es hatte vorher David gehört. Sein Vater hatte es ihm geschenkt. Deswegen wunderte es David auch recht wenig, dass es ausgerechnet dieses Buch war, das dort auf dem Bett lag, obwohl Bobby eigentlich schon viel zu alt dafür war. Beruhigt, aber dennoch traurig, schloss er die Tür wieder und überließ es für immer der Einsamkeit. Als er wieder auf den Flur hinaustrat, hörte er erneut das Klingeln seines Handys. Zögerlich und mit einem gewissen Unbehagen, ging er zurück in sein Zimmer und schaltete das Licht an. Der Moment, der Menschen, die Angst haben, am meisten Angst einjagte. Der Moment, in dem man damit rechnete, sein persönliches Schreckgespenst in der nächsten Sekunde vor sich stehen zu haben. Doch dort war niemand. Weder Bobby noch sonst irgendeine angsteinflößende Gestalt, die ihn mit hungrigem Blick anstarrte. Er war alleine. Alleine mit seiner Angst. Vorsichtig bewegte er sich zu seinem Nachttisch, auf dem sein Handy lag und pausenlos klingelte. „Trae“ stand in weißer Schrift auf dem Display. Einen Moment lang haderte er mit sich, doch dann nahm er den Anruf entgegen.
„Yo, sorry, dass es so lange gedauert hat, Bruder. Vinnie ist vollkommen durchgedreht, und wir mussten ihn in den Griff bekommen, bevor der Pfarrer uns wieder das Kreuz Christi einprügelt“, meldete sich Trae etwas aufgewühlt.
David fiel ein Stein vom Herzen. Er tat einen langen Atemzug, als würde er an einer Zigarre ziehen und fühlte sich sofort leichter. Seine verkrampften Muskeln und Gesichtszüge entspannten sich langsam, und seine angespannte Haltung löste sich schlagartig.
„Alles klar bei dir?“, fragte Trae verwirrt über Davids Reaktion.
„Ja. Ja, alles in Ordnung. Nur ein Alptraum. Nichts weiter“, antwortete er und atmete ein weiteres Mal tief durch.
„Mann, was ist denn passiert? Du klingst echt fertig.“
„Das bin ich auch. Ich erzähl es dir morgen. Ich glaube, wenn ich jetzt noch einmal daran denken muss, dann bekomme ich einen Herzinfarkt.“
„Klar, kein Problem, Kumpel.“
„Danke. Das hier nimmt mich ganz schön mit, weißt du. Ich komm einfach nicht mehr klar damit“, erzählte David ihm im Vertrauen.
„Ist heftig für dich Bruder, glaub ich dir. Vielleicht wäre es doch besser wenn…“
„Tut mir leid, aber ich kann im Moment keinen klaren Gedanken mehr fassen. Lass uns das morgen besprechen, in Ordnung?“
„Natürlich. Ist vielleicht auch besser so, mir geht’s grad nicht anders.“
Das bezweifle ich sehr, dachte David und belächelte innerlich Traes angebliche Verfassung. Seit sie sich kannten, hatte er ihn nicht einmal in einer psychisch labilen Verfassung erlebt. Ihn konnte praktisch nichts aus der Ruhe bringen, geschweige denn wirklich Angst einjagen. Seine Träume waren das Einzige, das er fürchtete, und selbst diese Furcht hatte er zum Großteil überwinden können. Sein Gemüt war quasi wie von einer Kettenrüstung umgeben, welche hinter einem Brustpanzer getragen wurde. Kaum zu durchdringen oder zu zerbrechen. Doch durch jede noch so gute Rüstung konnte früher oder später ein todbringender Pfeil hindurchdringen. Aber das erschien David ziemlich unwahrscheinlich, dass das passiert sein konnte. Jedenfalls blendete er diese Möglichkeit, in Anbetracht seines eigenen Zustandes, weitestgehend aus.
„Was ist los?“
„Nichts wichtiges, brauchst dir keine Sorgen machen“, lenkte er vom Thema ab.
„Okay, falls du reden willst, sag Bescheid.“
„Mach ich.“
Trae hatte sich seinen Hocker aus Holz neben das Bett gestellt, saß nun vor seiner Tür und betrachtete die Bilder, die dort hingen.
„Worüber hatten wir vorhin nochmal geredet, bevor du weggegangen bist?“, fragte David, der durch seinen Alptraum schon wieder alles vergessen hatte.
„Im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt“, erwiderte Trae lachend und hustete einige Male. Mit elf hatte er angefangen zu rauchen, was ihm bis jetzt nichts außer schlechter Kondition und einen gewaltigen Raucherhusten gebracht hatte. Besonders lange würde er es, dank seinem hohen Zigaretten- und Drogenkonsums, vermutlich auch nicht mehr machen, dachte David. Das hatte er ihm auch schon des Öfteren gepredigt in der Hoffnung, dass Trae seine Lebensweise vielleicht noch einmal neu überdenken würde. Aber Trae dachte nun mal nicht so wie er. Für ihn zählte nicht, wie lange er leben würde, sondern wie er leben würde. Frei und uneingeschränkt. In allem, was er tat. Das war das, was ihm wichtig war. Ob ihm das mit 30 das Leben kosten würde, spielte keine Rolle.
„Ach genau. Wir sind alle Sünder und kommen in die Hölle“, erinnerte sich David und legte sein Handy wieder mit Lautsprecher auf den Nachttisch.
„So siehts aus“, bestätigte Trae ihn schmunzelnd.
„Worüber diskutieren wir denn nun, Herr Pontifex?“, stichelte David ihn an, während er das Laken seines Bettes abzog.
„Mach dich nur lustig über mich. Wenn wir beide uns in der Hölle wiedersehen, verlange ich eine Entschuldigung.“
„Wenn wir beide in der Hölle landen, wird keiner von uns beiden Gelegenheit haben, sich bei irgendwem zu entschuldigen. Dann werden wir bis ans Ende aller Tage gefoltert und erleiden Qualen, schon vergessen?“, scherzte er und suchte in seinem Schrank nach einem neuen Bettlaken.
„Blödsinn. Warum sollte der Teufel diejenigen foltern und quälen, die nach seiner Ideologie leben? Wieso sollte er uns bestrafen, wenn wir doch genau das tun, was ihn ausmacht?“
„Du solltest dein Drogengeschäft aufgeben und Philosoph werden bei dem ganzen Kram, über den du nachdenkst“, riet er ihm.
„Es ist besser, die rechte Hand des Teufels zu sein, als ihm im Weg zu stehen.“
„Wie originell, jetzt zitierst du auch noch aus <<Die Mumie>>. Du hast zu viele Filme gesehen, mein Freund“, lachte David und stopfte den Rest des Lakens unter die Matratze.
„Anscheinend bin ich nicht der Einzige. Schließlich weißt du ja, was ich zitiere“, entgegnete Trae ebenfalls lachend.
„Da hast du wohl Recht“, gab David amüsiert zu. Das Gespräch mit Trae stellte seinen furchtbaren Alptraum in den Hintergrund und lenkte ihn von der inneren Unruhe ab, die er trotzdem weiterhin verspürte. Entspannt legte er sich mit seinem Smartphone in der Hand in sein neu bezogenes Bett. Viertel vor zwölf zeigte die Uhr auf dem Display an. Es waren keine drei Stunden seit ihrem vorherigen Telefonat vergangen, doch gefühlt lag ein gesamter Tag zwischen ihren Unterhaltungen. Eine halbe Stunde dauerte es, bis beide sich darauf einigten, sämtliche Gespräche zu einem späteren Zeitpunkt fortzuführen und etwas nächtliche Ruhe zu finden. Besonders David war froh, hoffentlich den erhofften Schlaf finden zu können. Doch bereits kurze Zeit nachdem er aufgelegt hatte, rückte sein Alptraum erneut in den Vordergrund und ließ ihn beim bloßen Gedanken daran erschaudern. Umso beruhigender war es für ihn, dass er, nachdem er seine Tür und seine Fenster vorsichtshalber versperrt, sowie sein Handy auf stumm gestellt hatte, schneller als erwartet den ruhigen Schlaf fand.