Kitabı oku: «Begierde», sayfa 2
Vickys Jugendfreund
Marc war gestresst. Den ganzen Tag über hatte er gebüffelt wie ein Wahnsinniger. Jetzt war sein Genick steif und in seinen Schläfen pochte es. Er rieb sich die Augen und sah dann auf die Uhr. Bereits Mitternacht vorbei. Er streckte die Arme in die Höhe und dehnte sich. Die Prüfung rückte unaufhaltsam näher. Noch zwei Wochen, dann würde sich zeigen, ob er genügend und das Richtige gelernt hatte. Mit diesem Diplom würde sich sein Traum erfüllen lassen, nach Italien zu gehen und dort seine kreativen Ideen zu Geld zu machen.
Sein Handy vibrierte. Er schaute auf das Display und lächelte. Vicky. Niemals hätte er geglaubt, dass man eine Stiefschwester derart ins Herz schließen könnte. Aber Vickys unbeschwerte fröhliche Art war wohltuend. Italien. Er war hin und hergerissen zwischen seinem Wunsch, dort zu arbeiten, und dem Schmerz, Vicky zurückzulassen. Wenn sie mit der Schule fertig war, würde er sie zu sich holen.
Als hätte er geahnt, dass sie genau jetzt ihre SMS schicken würde, hatte er im richtigen Augenblick aufgehört zu lernen. Die Info war knapp. Bitte hol mich ab.
Marc knipste die Schreibtischlampe aus und rannte polternd die alte Holztreppe hinunter. Wieder einmal waren sie am Wochenende alleine. Manchmal würde er schon gerne wissen, wohin seine Eltern dauernd fuhren. Vielleicht hatten sie heimlich ein Wochenendhaus gemietet? Aber eigentlich war er froh, wenn er sie nicht sehen musste. Für das geile Herumgetue fand er nur ein Wort passend: ätzend.
Er startete den alten Opel Escort, den ihm sein Patenonkel zum Führerschein geschenkt hatte. Nichts Besonderes und ganz gewiss nicht sein Traumauto, aber Patenonkel Peter hatte wenigstens Wort gehalten und ihm auch noch die Versicherung für das erste Jahr bezahlt, eine Aufgabe, die er eher von seinen Eltern erwartet hatte.
Eltern. Welch ein Hohn. Er hatte wohl irgendwelche Erzeuger. Aber Eltern? Es schien ihm, als sei das eine halbe Ewigkeit her. In dem Maße, wie das Interesse seines Vaters für seine Mutter abflaute und er sich mit Geliebten herumtrieb, schien auch das Interesse seiner eigenen Mutter an ihm, ihrem einzigen Kind nachzulassen. Als ob er an dem Zerbrechen ihrer Ehe schuld wäre. Natürlich hatte sie ihm erklärt, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte, dass sie einfach nur sehr unglücklich gewesen sei und sich deshalb vielleicht mehr zurückgezogen hatte, als für ihn als Kind verständlich war. Dennoch begriff Marc bis heute nicht, warum sie ihn beim Vater zurückgelassen hatte. Er war gar nicht um seine Meinung gefragt worden.
Sobald er sich der Innenstadt näherte, wurde der Verkehr dichter. Samstagnacht schien die halbe Stadt unterwegs zu sein. Marc seufzte und drehte das Radio lauter. Mal wieder richtig unterwegs sein, Spaß haben – diese Sehnsucht wurde immer größer. Aber er hätte es sich niemals verziehen, wenn er sich den Abschluss durch Faulheit vermasselte und damit seinen Traum. Dieses halbe Praktikumsjahr in Italien hatte viel verändert. Zusammen mit Antonio, seinem italienischen Studienkollegen, hatte er das zum Innenarchitektur-Studium gehörende Praktikumssemester in der Firma von Antonios Vater absolviert. Einer renommierten Fabrik, die Möbel im klassisch-antiken Stil herstellte. Teuer und begehrt. Allerdings nicht das, was Antonio und Marc sich vorstellten. Immerhin hatte sich der alte Del Carmine von ihren Inspirationen für neues Design überzeugen lassen und ihnen nach bestandenem Diplom seine Unterstützung zur Gründung einer eigenen Firma zugesagt. Seither gab es Träume, die Marc kaum zu träumen wagte.
Außerdem – er musste schließlich auch ein gutes Vorbild für Vicky sein, die jetzt mitten im Abitur stand und nur ausnahmsweise an diesem Abend ausgehen durfte, weil ihre beste Freundin Michaela, genannt Micky, ihren achtzehnten Geburtstag feierte. Da durfte Vicky natürlich nicht fehlen.
Vicky. Das schüchterne, ein wenig pummelige Stiefschwesterchen hatte damals bei ihrem Einzug ziemlich Angst vor dem neuen großen Stiefbruder gehabt. Während er die Pubertät gerade hinter sich gebracht hatte, stand Vicky diese Entwicklung noch bevor. Mit zusammengekniffenen Lippen war sie vor ihm gestanden, um ihre Zahnspange zu verbergen. Doch diese Zeit war längst vorbei. Inzwischen war aus ihr ein hübsches Mädchen geworden, das mit seinen nixengleichen, wässrig grünen Augen wohl manchem ihrer Klassenkameraden schlaflose Nächte bereitete.
Unwillkürlich verglich Marc jede Freundin, die er bisher gehabt hatte, mit seiner Schwester. Ja Schwester, nicht Stiefschwester. Vicky war die Schwester, die er sich schon früher gewünscht hätte – obwohl es eine Zeit gab, zu der er Mädchen blöd fand. Er grinste. Wie dumm man doch als kleiner Junge war, wenn man noch keine Ahnung von Frauen hatte! Wäre Vicky nicht zufällig seine Schwester, hätte er sie am liebsten zur Freundin gehabt. Nein, verbesserte er sich, zur Geliebten. Denn eine Freundin war sie ihm auf jeden Fall. Vielleicht war dies der Grund, warum er es nicht lange mit seinen Freundinnen aushielt. Niemals empfand er diese Vertrautheit und Nähe, die ihn mit Vicky verband. Sie waren Seelenverwandte, brauchten sich nur anzuschauen und wussten, was der andere dachte und wie es ihm gerade ging. Sie hatten doch nur sich, und sie redeten viel miteinander, über alles. Warum sie im Gegensatz zu ihren Klassenkameradinnen noch keinen Freund hatte, verstand er allerdings nicht. Es gab bestimmt genügend Bewerber, aber mehr als Kino oder Party feiern kam für Vicky nicht in Frage. Wenn er sie fragte warum, erwiderte sie, die Jungs seien alle so oberflächlich und albern, einfach zu jung für sie. Mit keinem könne sie so vorbehaltlos über alles reden wie mit ihm, was Marc natürlich schmeichelte und weitere Rückfragen zu diesem Thema meistens im Keim erstickte.
Das Handy vibrierte. Bin da. Warte draußen. Vicky atmete erleichtert auf. »Ich muss jetzt gehen.« Sie beugte sich vor, damit Chris sie verstand und schrie gegen die laute Musik an. Seine Antwort wartete sie nicht ab, sondern drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch die eng tanzende, von der Hitze im Raum und vom Alkohol entfesselte Meute.
Endlich würde sie Chris entfliehen, der ihr schon den ganzen Abend auf die Nerven fiel. Micky zuliebe wäre sie gerne länger geblieben, aber ständig lag Chris ihr in den Ohren, dass er mit ihr gehen wolle, und dabei versuchte er sie abzuknutschen und zu begrapschen.
Aber Vicky konnte den Kerl nicht ausstehen. Er war blond und durchtrainiert, gut einen Kopf größer als Vicky und durchaus sehenswert. Eine Menge Mädchen liefen ihm hinterher und machten ihm eindeutige Angebote. Vicky empfand ihn jedoch nur aufdringlich und wie einen schwankenden Tanzbären, da er inzwischen ziemlich betrunken war. Selbst beim Tanzen hatte er die Flasche mit dem Alkopop nicht weggestellt, später durch ein Dosenbier ersetzt und ihr ungeniert seinen stinkenden Atem ins Gesicht geblasen. Sie wollte nur noch weg, egal ob es Micky passte, die irgendwo schrill im Hintergrund lachte.
Chris packte Vicky von hinten, legte seinen Arm um sie, direkt über ihre Brüste und hielt sie fest, in der Rechten schon wieder eine frisch geöffnete Dose. »Nun komm schon, Vicky, die Party fängt doch gerade erst an, richtig Spaß zu machen. Sei doch kein Spielverderber.«
Vicky versuchte sich zu befreien, stemmte sich gegen seine Arme und gewann tatsächlich ein wenig Freiheit, als Chris ins Wanken geriet und sie ruckartig losließ. Unter der Bewegung spritzte Bier aus der Dose heraus und über ihre Bluse.
»Verdammt, du Trottel, pass doch auf.« Vicky sah wütend an sich herunter. Die Bluse war ruiniert.
»Ist doch nicht schlimm, hab dich nicht so.« Chris trank den Rest des Bieres in einem Satz aus und warf die leere Dose schwungvoll in den überquellenden Papierkorb, der einen Meter von ihnen entfernt stand. Dann lief er Vicky hinterher, die inzwischen weiter dem Ausgang entgegen strebte, packte sie beidhändig an den Schultern, drehte sie schwungvoll zu sich um und zog sie näher zu sich, um ihr einen Kuss aufzuzwingen.
»Nein. Lass mich gehen.« Vicky wand und wehrte sich, aber Chris gab nicht nach, er lachte, packte fester zu, fasste ihr frech mit beiden Händen an die Brüste und als Vicky entsetzt zurückwich, hielt er sie am Ausschnitt fest. Es gab einen Ratsch und die Knöpfe sprangen auf Nimmerwiedersehen ab und verschwanden irgendwo am Fußboden zwischen den stampfenden, tanzenden Füßen.
Chris war so verdutzt, dass er sie nur ansah. Diesen kurzen Moment nutzte Vicky, rannte aus dem Zimmer und aus dem Haus.
Marc beugte sich hinüber zur Beifahrertür und öffnete sie, als er Vicky kommen sah. »Wie siehst du denn aus?«, schimpfte er, sobald sie im Wagen saß und er ihre schmutzige, zerrissene Bluse bemerkte, die sie sich mit beiden Händen vor der Brust zusammenhielt.
»Dieser blöde Chris, der stellt mir schon den ganzen Abend nach«, erwiderte Vicky mit hochrotem Kopf. »Die schöne neue Bluse, aber das wird er mir büßen.«
Marc runzelte die Stirn. »Wollte er dir etwa an die Wäsche? Soll ich reingehen und –«
»Nein. Bloß nicht. Fahr lieber«, entgegnete Vicky in heftiger Abwehr. »Oder willst du mich noch mehr zum Gespött der anderen machen?«
Während der Fahrt schwiegen beide. Vicky brütete verärgert über den verkorksten Abend und die kaputte Bluse nach und Marc konzentrierte sich auf den Verkehr.
»Danke fürs Abholen«, sagte Vicky artig, als sie vor ihm das Haus betrat.
»Stets zu ihren Diensten, Signorina«, antwortete Marc mit einer angedeuteten Verbeugung, während er ihr die Tür aufhielt. Die Verstimmung war ihr immer noch anzusehen.
»Hör auf, du weißt, ich find das albern. Gute Nacht.« Sie ging vor ihm die Treppe hinauf. Er sah ihr nach. Der kurze Jeansrock war verflixt eng und betonte beide Pohälften.
»Vicky?«
Sie drehte sich auf einer Stufe um und sah von oben auf ihn herab.
»Ja?«
»Was trägst du unter deinem Rock?«
Vicky zog die Schultern hoch. »Ich weiß nicht, was du meinst – einen Slip natürlich, oder glaubst du, ich gehe nackt?«
»Du weißt sehr wohl, was ich meine. Trägst du einen String?«
Vicky kicherte. »Natürlich, ich habe doch gar nichts anderes.«
»Ist dir noch nie die Idee gekommen, wie verführerisch das auf Jungs wirken muss, wenn du so einen verdammt anliegenden Rock trägst? Man sieht die –« Er presste die Lippen zusammen und unterdrückte den Rest seines Satzes. Die Rundungen deines Pos, hatte er sagen wollen. Es war nicht zu übersehen, dass sich der Stoff ein wenig in die Poritze schmiegte, wenn auch nicht viel, da der Rock insgesamt ziemlich stramm saß. Aber ihm genügte es.
»Ach ja? Was sieht man denn?« Vicky leckte sich lasziv über die Lippen und wackelte ein wenig mit ihrem Hinterteil. »Wirkt das auf dich auch?« Sie hickste in einem beginnenden Schluckauf. »Uups.«
»Du spinnst wohl, du bist meine Schwester. Außerdem hast du zuviel getrunken. Geh jetzt schlafen und gib in Zukunft besser acht, wie du dich verhältst, sonst brauchst du dich nicht wundern, wenn die Jungs durchdrehen.«
Er wandte sich ab und ging ins Wohnzimmer. Sie musste nicht mitbekommen, dass sie unbewusst ins Schwarze getroffen hatte. Ja, ihr süßer Hintern gefiel ihm, obwohl er es sehr unanständig fand, dass sie so aufreizend herumlief, und man schon fast die nackten Rundungen unter dem Saum hervorblitzen sah. Vor allem aber wollte er nicht, dass sie bemerkte, wie sehr es ihn erregte. Verdammt, es war nicht richtig, so zu fühlen. Sie war schließlich seine Schwester. Aber es wäre nicht die erste Nacht, in der er träumte, sie läge in seinen Armen und er würde sie überall liebkosen. Und noch viel mehr. Sie regte seine Fantasie auf eine Weise an, von der er nicht wusste, ob das richtig war.
Montag war Marc zeitig wach und fuhr Vicky zur Schule. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, ehe sie ausstieg und über den Hof ins Gebäude eilte.
Er wollte gerade weiterfahren, als Michaela vor seinem Wagen über die Straße lief. Sie schaute ihn durchs Fenster an, zögerte, doch dann erkannte sie ihn, öffnete die Beifahrertür und beugte sich hinein.
»Hi, da ist ja der große Bruder, der seine Schwester viel zu früh von meiner Party abgeholt hat.«
»Hallo Micky.« Marc hatte Mühe, ihr ins Gesicht statt in den tiefen Ausschnitt zu blicken. Kein Wunder, wenn die Lehrer an dieser Schule manchmal fast durchdrehten. Viele Mädchen liefen wie kleine Lolitas herum. Eine Zeit lang hatte das Gerücht kursiert, einer der Lehrer hätte sich nachmittags mal mit dieser, dann mit jener Schülerin zu einem Schäferstündchen getroffen, was sich in besseren Noten niedergeschlagen hätte. Dann wurde dieser Lehrer eines Tages ganz plötzlich versetzt und es blieb nicht mehr als eine Anekdote übrig. Marc bedauerte den Lehrer. Wie sollte man diesem Ansturm an Verführungen auf Dauer widerstehen?
»Na, hast du dein Schwesterchen gut nach Hause gebracht? Schade, dass sie schon so früh gegangen ist, wo sie doch gerade soviel Spaß hatte.«
Marc empfand Unbehagen. In Mickys Stimme lag so ein merkwürdiger Unterton. »Was willst du damit sagen?«
Micky lachte anzüglich und riss ihre dunklen Augen mit den sorgfältig getuschten Wimpern weit auf. »Na, wie Vicky sich an den Chris herangemacht hat. Und dann hat sie ihn vor allen abserviert, das war schon ganz schön raffiniert. Zuletzt hat sie sich auch noch Bier über ihre Bluse geschüttet, nur damit sie dem Chris ein schlechtes Gewissen machen kann.«
Marc runzelte die Stirn. Das klang überhaupt nicht nach Vicky.
»Hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Da rennt sie Chris den ganzen Abend hinterher, macht ihm eindeutige Angebote, und als er nicht reagiert wie sie will, reißt sie sich selbst die Bluse auf, packt seine Hände, legt sie sich auf den Busen und schnurrt wie eine Katze. Na, der war vielleicht perplex.«
Der Kloß in Marcs Magen wurde größer. Vicky, seine liebe kleine Vicky – sollte so etwas gemacht haben? Er schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.«
Micky schwang sich auf den Beifahrersitz, machte die Tür hinter sich zu und flüsterte verschwörerisch: »Welche Lüge hat sie dir denn aufgetischt? Bist du immer noch ihr gutgläubiges Brüderchen? Tja, es ist schwer, Veränderungen zu akzeptieren, gel? Vicky ist kein kleines Mädchen mehr, Marc.«
Ihre Nähe war ihm unangenehm. Er fühlte, wie in seinen Handflächen der Schweiß ausbrach.
»Kam dir ihr Auftritt nicht merkwürdig vor? Welche Geschichte hat sie dir als Erklärung aufgetischt?«
Marc schluckte nervös. »Sie hat mir genau das Gegenteil erzählt. Dass dieser Chris ihr die Bluse zerrissen und sich ihr aufgedrängt hätte, und dann hat er ihr auch noch Bier drüber gekippt, weil er betrunken …«
Micky begann zu prusten. »Entschuldige bitte, aber ein Junge, der einem Mädchen an die Wäsche will, das sich so unschuldig und wohlerzogen gibt wie Vicky, der wird doch wohl nicht wie ein Tollpatsch vorgehen. Da kann er sich ja gleich ausrechnen, dass er keinen Erfolg haben wird. Wieso sollte er also dumm sein, ihr Bier drüberkippen oder die Bluse zerreißen?«
Es widerstrebte Marc, ihr Recht zu geben, deswegen schwieg er. Zweifel an Vickys Darstellung waren berechtigt. Wenn er sich als Freund für Vicky interessieren würde, dann würde er in der Tat ganz anders vorgehen, viel romantischer, sie langsam einwickeln und verführen, bloß nichts dem Zufall überlassen und riskieren … Er holte tief Luft.
»Ach du meine Güte, ich muss jetzt wirklich los, sonst komme ich noch zu spät – also, war schön, mal mit dir zu plaudern. Ciao.«
Ehe Marc aus der dumpfen Erstarrung, die ihn befallen hatte, wieder zu sich kam, war Micky bereits ausgestiegen und klackerte auf ihren hochhackigen Sandaletten Richtung Schulhof davon. Ihr viel zu kurzer Glockenrock wippte dabei hin und her.
Eine halbe Stunde später ging auf Marcs Handy eine SMS ein.
Hi Marc, wusste gar nicht, dass du sooo süß bist. Hast du heute Nachmittag Zeit für mich? Micky.
Marc war hin- und hergerissen. Wenn er sich mit Micky treffen würde, würde sie ihm bestimmt noch mehr über Vicky erzählen. Es könnte interessant sein. Andererseits, stimmte das alles überhaupt oder hatte sie alles erfunden?
Er simste zurück: Sorry, keine Zeit, muss lernen.
Ihre Antwort war knapp und unzweideutig: Langweiler.
Das Handy dudelte die eingestellte Melodie eines italienischen Schlagers aus den 1960er Jahren und riss Marc abrupt aus seinen düsteren Erinnerungen.
»Pronto?«
Ein italienischer Wortschwall überfiel sein Ohr. »Signor Braun, como sta? – wie geht es Ihnen? Haben Sie Ihre Schwester getroffen … kaltes Wetter? … alles erledigt? … zurück?«
Marc hielt den Hörer einige Zentimeter von seinem Ohr weg, bis sich der verbale Erguss ein wenig beruhigte, dann unterbrach er Isabella, seine Assistentin. »Es ist alles in Ordnung. Wie sieht es in der Firma aus, gibt es irgendwelche Probleme?«
Isabellas Stimme verlor ein wenig von ihrer sprudelnden Fröhlichkeit, als sie antwortete. »Nein, Signor Braun, es ist alles in Ordnung. Ich wollte nur hören, wie es Ihnen geht und wann Sie zurückkommen.«
»Hm, wahrscheinlich in drei bis vier Tagen, ich weiß es noch nicht.«
»Va bene, un momento, Signor del Carmine wollte Sie auch noch sprechen, un momento, ich verbinde …«
Eine schwungvolle Melodie überbrückte die Wartezeit.
»Marco!«
Zum Glück hatte Marc das Handy nicht dicht an sein Ohr gepresst. Er kannte Antonios Art zur Begrüßung so laut in den Hörer zu brüllen, als müsste er die vielen Kilometer Entfernung durch Lautstärke kompensieren. Danach sprach er zum Glück in normaler Lautstärke weiter.
»Comme sta?«
»Va bene, bestens, alles in Ordnung. Und wie läuft’s bei euch?«
»Ah, nichts Besonderes, alles nach Plan. Aber deswegen rufe ich nicht an. Du, ich muss dir unbedingt was erzählen, sonst platze ich. Ich habe eine Anzeige gelesen, die klingt wirklich interessant, vollkommen anders, das musst du dir anhören.«
Marc verdrehte die Augen. Er ahnte, was kommen würde. Seit Monaten befand sich Antonio auf Freiersfüßen, bedrängt von seinem Vater, endlich für die nächste Generation zu sorgen, aber auch selbst beseelt von dem Gedanken, die Frau fürs Leben zu finden und zu heiraten. Antonio war sogar ziemlich romantisch veranlagt und bereit, die von ihm Angebetete auf alle erdenklichen Arten zu verwöhnen. Aber obwohl er durchaus attraktiv war, regelmäßig Sport machte und auf sein Äußeres achtete, hatte er noch nicht die Richtige gefunden.
In dieser Hinsicht erging es ihm ähnlich wie Marc. Interessierte junge Damen gab es genug, aber ihnen war in der Regel nur an Geld, Prestige und Party feiern gelegen. Heiraten ja, Kinder nein. Nach wenigen Monaten stellte sich ein schales Gefühl ein, weil die gemeinsame Substanz für tägliche Gespräche und ein gefühlvolles Miteinander fehlte. Es gab eben auch einen Alltag, nicht nur Dolce far niente.
Mehrere Heiratsannoncen und Blinddates hatten eine Enttäuschung nach der anderen ergeben, was Antonio aber nicht daran hinderte, einen Tag später das Thema von neuem anzupacken. Wie immer holte er bei seiner Erzählung weit aus …
An dem Tag, an dem Micky ihm eine andere Darstellung von dem gegeben hatte, was auf der Party geschehen war, hatte er seine Stiefschwester am Nachmittag zur Rede gestellt und gefragt, welches denn nun die Wahrheit sei. Vicky hatte nichts darauf erwidert, sich weder verteidigt noch zugestimmt. Sie hatte ihn nur mit großen Augen angesehen, sich dann abrupt umgedreht und war schnurstracks in ihrem Zimmer verschwunden.
An den darauf folgenden Tagen hatten sie sich kaum gesehen. Vicky ging ihm so weit wie möglich aus dem Weg und Marc wertete dies als Schuldeingeständnis. Wenige Wochen später hatte er sein Diplom in der Tasche und zog nach Italien, nun ohne das lang empfundene Bedauern, Vicky zurück zu lassen.
Irgendwie hatte er erwartet, Vicky hätte in der Zwischenzeit etwas dazu gelernt, wieder zu den Wurzeln ihres ursprünglich liebenswerten Wesens zurück gefunden, einen netten Freund an ihrer Seite. Doch stattdessen flatterte sie ganz offensichtlich wie ein Schmetterling von einem zum anderen und spielte mit den Männern, ähnlich wie schon ihre Mutter es getan hatte. Wie viele verheiratete oder zumindest in einer festen Beziehung liierte Männer sie wohl schon verführt und anschließend verstoßen hatte? Marcs Stirn zog tiefe Furchen. Ihr fehlte eindeutig ein Mann mit starker Hand, der ihr nichts durchgehen ließe. Manchmal fragte er sich, wie es wohl früher gewesen war, als die Frauen den Männern gehorchen mussten und nichts selbst bestimmen durften. Andererseits – wahrscheinlich war es recht eintönig gewesen, nur selten von Liebe und fantasievollem Sex belebt. Er seufzte. Gab es überhaupt das, was man sich so im Allgemeinen als Glück vorstellte? Er hatte mal daran geglaubt, gehofft, er würde ein Mädchen kennenlernen, das so wie seine Stiefschwester zu Anfang war, eine liebenswürdige, warmherzige Freundin. Nein, zügellose Verführerinnen wie Vicky brauchten einen Mann mit starker Hand und festem Willen, dann würde sogar sie möglicherweise eine unterhaltsame, wenn auch vielleicht anstrengende Geliebte sein. Doch er war nicht dafür geschaffen, ihr Erzieher zu sein. Sie war erwachsen und auf sich gestellt, und er musste sie möglichst bald wieder aus seinen Gedanken verbannen.
Erschrocken zuckte Marc zusammen. Er hatte sich von seinen düsteren Gedanken ablenken lassen. Antonios Stimme erforderte wieder seine Konzentration. Er hatte sich in Fahrt geredet und war dabei lauter geworden, ganz mit dem sprühenden südländischen Temperament, das Marc liebte und manchmal auch fürchtete – wenn sie um ein Design stritten und sich nicht so schnell einig wurden.
»… ist es etwas ganz anderes. Ich spüre das, glaube mir, das ist keine normale Heiratsannounce – warte, ich lese dir mal den Text vor …«
Diesmal hörte Marc genau zu. Diese Heiratsvermittlungsanzeige klang in der Tat ein wenig anders als die vielen, die Antonio ihm in seiner verzweifelten Suche nach einer Ehefrau schon vorgelegt hatte – und sie klang dabei auch vielversprechender. Dass es so etwas gab?
»Kannst du sie bitte noch mal vorlesen?«, fragte er.
»Aaah, bist du also auch interessiert? Va bene, es wird sowieso Zeit, dass du auch eine Frau findest, sonst vertrocknet noch deine Männlichkeit.« Er lachte anzüglich. »Also …«
Während Antonio ihm erneut die Announce vorlas, sah Marc Vickys Gesicht vor sich, ihren nixenhaften Ausdruck, hörte sie kokett lachen. Würde sie sich natürlicher und aufrichtiger geben, wäre sie eine wunderschöne und begehrenswerte Frau. Die absolute Traumfrau. Selbst für ihn. Ein kalter Schauer jagte Marcs Rücken hinunter und er schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf. So ein Unsinn. Er konnte nicht zulassen, dass sie weiter mit den Männern spielte. Er musste sie auf den rechten Weg zurückbringen, aber wie?
Er konzentrierte sich auf Antonios Stimme. Der Text der Anzeige klang eigenartig. Wenn man ihn interpretierte, dann konnte man meinen – er musste fast lachen – es handelte sich nicht um ein Vermittlungsinstitut, sondern um das Verschachern von Sklavinnen.
Sie haben eine oder mehrere Enttäuschungen hinter sich? Sie suchen immer noch nach der perfekten Ehefrau, die gleichzeitig eine fantasievolle Geliebte ist? Sie legen Wert darauf, der unumstrittene und respektierte Herr im Haus zu sein? Das ist kein unerfüllbarer Wunschtraum. Vereinbaren Sie mit uns einen Termin und überzeugen Sie sich selbst. Wir vermitteln junge hübsche Frauen, die wohlerzogen sind, die Lust am Sex haben, und für die es selbstverständlich ist, ihrem Ehemann bedingungslos zu gehorchen. In jeglicher Hinsicht.
Antonio gluckste vor Freude. »Marco, kannst du dir das vorstellen? Eine gehorsame Ehefrau?«
»Ehrlich gesagt, nein. Wahrscheinlich ist das nur irgendeine neue Methode, Kunden zu fangen. Außerdem – gegen diesen Anzeigentext müssten die Frauenverbände doch Sturm laufen.« Insgeheim fragte er sich, ob es vielleicht doch wahr wäre. Eine gehorsame Ehefrau, hübsch, gut erzogen und mit Lust auf Sex. »Wahrscheinlich bieten sie dir eine verarmte Asiatin an, die von ihrer Familie aus Not verschachert wird. Und wenn du erst mit ihr verheiratet bist, verlangt sie, dass du ihre Familie in der fernen Heimat unterstützt, und mit Sex läuft auch nichts so, wie du dir das vorstellst.«
Bot die Announce irgendeine, auch auf ihn zutreffende Alternative an?
»Hm, vielleicht hast du Recht, aber das lässt sich ja herausfinden – ich rufe dich wieder an. Ciao.«
»Antonio?«
Das Telefon blieb stumm. Antonio hatte tatsächlich ganz plötzlich aufgelegt.
Marc verfiel wieder in tiefes Grübeln. Wütend ballte er die Faust – warum nur beschäftigte ihn Vicky so sehr. Was hatte sie doch gleich wieder zu ihm gesagt? Immer derselbe Mann wäre ihr zu langweilig? Er musste herausfinden, ob sie nur geblufft hatte. Vielleicht hatte er Glück und traf sie in einer der exklusiven Bars an. Immerhin hatte sie beim Abschied noch provokant gemeint, sie könnten sich ja abends im Joey’s treffen.
Zehn Minuten später verließ er das Appartement.