Kitabı oku: «Animant Crumbs Staubchronik», sayfa 10

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Das Zwölfte oder das, in dem ich etwas über das Fliegen lernte.


Die Soiree bei den Kents hatte ich eigentlich völlig vergessen, bis Mr Boyle mich daran erinnerte und mich fragte, ob er mich heute Abend dort sehen würde. Er lächelte und sein Blick hielt den meinen fest.

Ich sagte ihm zu, ohne weiter darüber nachzudenken, und eine Art Vorfreude erfasste mich. Sie machte mich nervös und zwang meine Mundwinkel dazu, ein ständiges Lächeln beizubehalten. Und zusätzlich vertrieb sie auch die Müdigkeit, die ich schon längst hätte spüren müssen.

Wir fuhren mit der Kutsche zurück zur Universität, bei der Onkel Alfred und Mr Boyle wieder in ihr Büro mussten, um sich über die Ergebnisse von Mr Boyles Geschäftsreise auszutauschen und die nächsten Schritte einzuleiten.

Ich wusste nicht, worum es ging und mein Kopf schien zu verwirrt zu sein, um sich dafür zu interessieren, was sehr untypisch für mich war.

Der Kutscher brachte mich nach Hause, wo ich erleichtert einem freien Nachmittag entgegensah. Doch Tante Lillian ergriff die Gelegenheit beim Schopfe, mich in die Stadt zu zerren, um mir ein neues Kleid zu kaufen. Natürlich würde es bis heute Abend nicht fertig werden, aber sie stellte mir einen Ball am nächsten Samstag in Aussicht.

Obwohl ich für gewöhnlich nichts für Bälle übrig hatte, beschlich mich auch dieses Mal das seltsame Gefühl von Freude, die von der Vorstellung herrührte, Mr Boyle dort zu begegnen.

Ich durfte mir den Stoff und den Schnitt des Kleides selbst aussuchen. Tante Lillian stand mir beratend zur Seite und entschied, zu meiner Erleichterung, nichts über meinen Kopf hinweg, wie es meine Mutter gerne tat.

Danach tranken wir Tee in einer lieblich eingerichteten Konditorei, aßen dazu ein kleines Stück Kürbiskuchen und ich überredete meine Tante zu einem kurzen Besuch in einer Buchhandlung, bevor wir wieder nach Hause gingen, um uns dort für den Abend fertig zu machen.

Wir halfen uns gegenseitig beim Anziehen. Ein himmelblaues Kleid für meine Tante, ein sonnengelbes für mich. Sie machte sich die Haare und setzte anschließend mich auf den Hocker vor ihrem Frisiertischchen.

Ich sah mir selbst in die Augen, während Tante Lillian mir die Haare kämmte und anschließend zu flechten begann. Ganz bewusst blickte ich in das helle Blaugrau meiner Iris, betrachtete die geröteten Wangen und fragte mich unwillkürlich, ob ich Mr Boyle wohl gefallen würde.

Das brachte mich allerdings zum Stutzen. Mr Boyle? Natürlich hätte es mir viel früher auffallen sollen, schließlich war ich immer eine analytische Person gewesen. Aber in diesem speziellen Fall waren mir meine eigenen Gefühle so fremd, dass ich sie so schnell nicht hatte einordnen können.

Ich war doch tatsächlich im Begriff, einer Schwärmerei zu verfallen. Für Mr Boyle. Ich war überrascht von mir selbst.

Bisher hatten meine einzigen Schwärmereien nur Büchern oder auch mal den Mandelplätzchen meiner Großtante gegolten, jedoch noch nie einem Mann.

Wie sollte ich damit nur umgehen? Musste ich etwas dagegen unternehmen? Oder konnte ich mir die Freiheit lassen, dem nachzugehen? Und was hatte es für Konsequenzen?

Kurz überlegte ich, mich damit an Tante Lillian zu wenden. Sie hatte schließlich Erfahrung mit den Herzensdingen. Doch ich fürchtete, sie würde es dann Onkel Alfred erzählen, dieser meinem Vater und wenn mein Vater es wüsste, dann wäre ich auch vor meiner Mutter nicht mehr sicher.

Also besser nicht.

Onkel Alfred kam zeitig nach Hause und machte sich mit der Hilfe seiner Frau ausgehfertig, während ich unten im Salon in meinem dunkelgrünen Sessel saß und eines meiner neu erworbenen Bücher las, in dem es um das Zeitgeschehen der stetig wachsenden Kolonien in Afrika ging.

Ich war in letzter Zeit viel zu wenig zum Lesen gekommen und genoss die Minuten, die ich reglos dasaß, während mein Blick über die schwarze Schrift huschte und die Wörter in meinem Kopf Sätze bildeten, die ihren Sinn in meinem Gedächtnis hinterließen. Das waren Momente, in denen ich ausnahmslos ich war, in denen mir alle anderen egal wurden und ich der Welt um mich herum entfloh.

»Animant«, riss mich die Stimme meiner Tante aus der Stille des Moments und ich hob den Kopf, um sie anzusehen. »Kommst du?«, erkundigte sie sich und schlüpfte mit ihren schlanken Fingern in die hellen Handschuhe.

Beinahe hätte ich gefragt wohin, als mir mein feines gelbes Kleid ins Auge fiel und mit einem Schlag mein Herz zu rasen begann.

Obwohl ich mitten in einem Absatz gewesen war, klappte ich das Buch zu, legte es auf ein Beistelltischchen und erhob mich mit raschelnden Röcken.

Onkel Alfred kam die Treppen heruntergepoltert und sah ungewohnt edel aus, was mich zum Staunen brachte. Die Kutsche fuhr vor und wir gingen nach draußen.

Die Fahrt dauerte etwa eine Viertelstunde und ich rutschte die ganze Zeit über ungeduldig auf meiner Bank hin und her, bis wir endlich das Haus der Kents erreichten, das prachtvoll erleuchtet die ganze Straße in goldenen Schimmer tauchte.

Onkel Alfred reichte uns die Hand zum Aussteigen und wir betraten das Gebäude, in dem es wohlig warm war. Man nahm uns die Mäntel ab und mein Onkel stellte mich den Kents vor, einem älteren Ehepaar mit gütigem Lächeln und freundlichen Augen. Sie hießen uns willkommen, Mrs Kent machte mir Komplimente zu meinem hübschen Gesicht und merkte im gleichen Atemzug an, dass ihr Enkelsohn ebenfalls noch nicht vergeben sei.

Ich musste mich bemühen mitzulachen, als meine Tante zu kichern begann, machte dann aber schnell einen leichten Knicks und floh ins anliegende Zimmer.

Diese Soiree war im Gegensatz zur letzten, auf die Tante Lillian mich mitgenommen hatte, wirklich eine kleinere Gesellschaft. Es waren etwa zwanzig Leute anwesend, die meisten zu meinem Glück verheiratet.

Es gab zwei junge Frauen in meinem Alter oder jünger. Die eine war nicht mit Schönheit gesegnet, was ihr reichlich besticktes Kleid zu ihrem Leidwesen nicht auszugleichen vermochte.

Und die andere, Miss Walker, zeigte jedem, ob er nun wollte oder nicht, ihren viel zu groß geratenen Verlobungsring, den ihr heiß geliebter Herold ihr letzte Woche angesteckt hatte und welcher heute leider nicht anwesend sein konnte.

Ich musste nicht einmal mit ihr reden, um das in Erfahrung zu bringen, sie sprach so laut, dass ich es auch so mitbekam.

Mr Boyle war noch nicht hier, was mich ein klein wenig enttäuschte. Aber ich bewahrte Haltung und versuchte, nicht unangenehm aufzufallen.

Ich nahm mir zum Zeitvertreib ein Glas Punsch, von dem man mir versicherte, dass er nicht stark sei, da die Kents dem Alkohol nicht sehr zugetan waren. Etwas verloren stellte ich mich wieder neben den Kamin. Der Platz in jedem Raum, an dem ich mich am wenigsten verloren fühlte. Natürlich hätte ich mich auch zu einer der kleinen Grüppchen gesellen und mit Nichtigkeiten um mich werfen können, doch das war mir schon immer zuwider gewesen.

Ein junger Mann fing meinen umherschweifenden Blick auf, löste sich aus dem Gespräch, bei dem er nur dabeigestanden hatte, und kam geradewegs auf mich zu.

Er war schlank, gut gekleidet und obwohl seine Stirn sehr hoch war, entstellte es sein feines Gesicht nicht.

»Miss Crumb, nicht wahr?«, sprach er mich an und lehnte sich neben mich an den Kamin.

»Richtig«, bestätigte ich. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«, gab ich zurück und war mir noch nicht so sicher, ob dies hier wirklich ein Vergnügen werden würde.

»William Kent«, stellte er sich vor und mir war gleich klar, dass dies der besagte ledige Enkelsohn sein musste. »Die Gastgeber sind meine Großeltern«, fügte er noch hinzu, als würde es sich anhand seines Namens nicht ohnehin erraten lassen, und ich trank einen Schluck Punsch, um mich selbst daran zu erinnern, nicht mit den Augen zu rollen.

Der Punsch war wirklich mild, was ich vorhin noch begrüßt hatte und jetzt bedauerte.

»Sie sind zu Besuch bei Ihrem Onkel? Sind Sie schon lange hier in London?«, begann er das Gespräch und ich bemerkte, dass er sich darum bemühte, die Hände still zu halten. Er war nervös.

»Seit einer Woche«, erzählte ich und ließ die Entscheidung bei ihm, ob das nun lang war oder nicht.

»Oh, und haben Sie sich schon alles zeigen lassen?«, wollte Mr Kent wissen, fröhlich und trotzdem immer darauf bedacht, meine Reaktion nicht zu verpassen. »London ist wirklich eine großartige Stadt, nicht wahr?«

Natürlich ging Mr Kent davon aus, dass ich in meinem Leben nichts anderes zu tun hatte, als mir die Sehenswürdigkeiten Londons anzusehen. Wahrscheinlich hätte er damit auch bei jedem anderen Mädchen richtiggelegen, nur bei mir eben nicht.

»Da muss ich Sie enttäuschen, Mr Kent. Dafür hatte ich bisher keine Zeit«, gestand ich also und Mr Kent sah mich überrascht an. Er wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte, weil es so gar nicht die Antwort zu sein schien, die er erwartet hatte. Wahrscheinlich hatte er sich das ganze Gespräch schon vorher zurechtgelegt und war nun aus dem Konzept gebracht.

»Womit haben Sie denn Ihre Zeit verbracht?«, fragte er und das Lächeln auf seinen Lippen wirkte unsicher.

Ich hatte keine Gewissheit darüber, welche Reaktion ich bekommen würde, wenn ich ihm die Wahrheit sagte, und wusste gleichzeitig, dass ich es drauf ankommen lassen würde.

»Ich habe einen Job angetreten. Ich verbringe meine Zeit mit arbeiten«, eröffnete ich ihm also und betrachtete seinen Gesichtsausdruck, der für einen Moment aus der Fassung geriet. Seine Augen starrten mich entsetzt an, sein Mund blieb offen stehen.

»Wissen Ihre Eltern darüber Bescheid?«, erkundigte er sich schockiert und ich hielt die Luft an, weil ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich darüber lachen sollte oder mich zutiefst beleidigt fühlte.

»Es war die Idee meines Vaters«, erklärte ich so neutral, wie ich nur konnte, und hörte doch selbst die Angespanntheit in meiner Stimme. Ohne mich dafür zu entscheiden, hatte die Beleidigung die Oberhand gewonnen, auch wenn ich wusste, dass ich diese Antwort wohl selbst provoziert hatte.

»William, nicht jeder ist der Meinung, dass Frauen nichts zur Gesellschaft beizutragen haben, als Kinder zu gebären und schweigsam zu lächeln«, warf plötzlich eine Stimme ein und ich drehte sofort den Kopf in die Richtung. Mein Bauch reagierte schneller als mein Verstand. Denn es begann darin angenehm zu kribbeln, noch bevor ich bewusst die Stimme mit ihrem Ursprung zusammenbrachte.

»Mr Boyle«, begrüßte ich ihn und erkannte mich kaum wieder, so überschwänglich klang ich. Wie ein liebestolles Dummchen. Und ich erschreckte mich vor mir selbst.

»So etwas habe ich niemals behauptet, Winston«, empörte sich Mr Kent und seine Miene verfinsterte sich.

Es war offensichtlich, dass die beiden sich näher kannten und den bissigen Kommentaren nach zu urteilen, hatten sie kein sehr gutes Verhältnis zueinander.

»Ach, nein? Vielleicht solltest du dann davon Abstand nehmen, Miss Crumb so rüde zu beleidigen«, gab Mr Boyle von sich und ich sah zwischen den beiden Männern hin und her, wie sie sich gegenüberstanden und still mit Blicken duellierten.

Mr Boyle gewann, als Mr Kent sich auf die Unterlippe biss und kurz die Augen schloss. Er öffnete sie wieder und straffte die Schultern, während er mir das Gesicht zuwandte. »Entschuldigen Sie, Miss Crumb. Ich habe die falschen Worte gewählt, um mich Ihnen gegenüber angemessen auszudrücken«, begann er seine Entschuldigung überaus förmlich und ich nickte ihm zu. »Ich wollte lediglich anmerken, wie ungewöhnlich es doch ist, dass eine junge Frau Ihres Standes sich einer solchen Tätigkeit widmet.«

»Und damit haben Sie gar nicht unrecht«, kam ich ihm entgegen, damit er wusste, dass ich ihm verzieh. Denn das tat man als weltoffene, erwachsene Person, die ich mir einbildete zu sein. Schon allein, weil Mr Boyle neben uns stand. »Ich hätte vor zwei Wochen auch noch nicht gedacht, dass ich plötzlich in London sein und meine Tage mit dem Sortieren von Büchern füllen würde.«

Mr Kent nickte, lächelte und dann verzog sich sein Gesicht, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen bekommen. »Es tut mir leid, Miss Crumb. Aber ich kann das einfach nicht verstehen. Wieso gehen Sie einer Arbeit nach, wenn Sie doch die Möglichkeit haben, so viel angenehmere Dinge zu tun?«, wollte er wissen und ich fragte mich genau dasselbe.

Ich hätte zu Hause bleiben und Bücher lesen können. Und trotzdem war ich nun hier und würde am Montag wieder zurück in die Bibliothek gehen, um mich selbst zu ermüden.

Was trieb mich an? Was machte mir diese Arbeit so wichtig?

Denn wichtig war sie mir. Zuerst war es ein Fluchtgedanke gewesen, der mich nach London getrieben hatte, dann hatte mich mein Stolz hier gehalten. Doch jetzt, nachdem ich es abgelegt hatte, ausschließlich auf Mr Reeds Meinung angewiesen zu sein, wusste ich nicht mehr, warum ich das alles tat.

»Auch Frauen streben danach, ihrem Leben Sinn zu geben, William«, sagte Mr Boyle, weil ich wohl ein wenig zu lange mit meiner Antwort gezögert hatte. »Ich halte Miss Crumb für einen ehrgeizigen und überaus neugierigen Menschen. Und der Forscherdrang nach Neuem lässt sich nun mal schwer aufhalten«, führte er aus und ich sah ihn mit großen Augen an.

Ehrgeiz und Neugierde hatte er gesagt, und obwohl wir beide uns erst so kurz kannten, erfasste er meine Situation besser als ich.

»Mr Boyle hat recht«, bestätigte ich also und das Lächeln auf meinen Lippen ließ sich mal wieder nicht aufhalten. Mein Bauch kribbelte heftiger und mein Herz schlug schneller, obwohl für beides kein handfester Grund vorlag.

»Ja, so wie immer«, presste Mr Kent hervor und er klang recht bitter dabei.

Seine Reaktion überraschte mich und ich sah ihn fragend an.

Mr Kent schnaubte, schluckte schwer und hielt seinen Blick starr auf Mr Boyle gerichtet. »Das ist eine Sache zwischen Winston Boyle und mir, Miss Crumb. Ich will Sie nicht weiter damit belasten. Entschuldigen Sie mich«, äußerte er knapp, verbeugte sich steif und entfernte sich.

Das war wirklich irritierend gewesen und sofort verspürte ich das Bedürfnis, die Umstände möglichst detailliert in Erfahrung zu bringen.

Mein Blick wanderte zurück zu Mr Boyle, dem diese Situation sichtlich unangenehm schien. Er sah meinen Blick und räusperte sich verhalten. »Verzeihen Sie, Miss Crumb, das muss Ihnen sehr abschreckend vorkommen«, setzte er zu einer Entschuldigung an und ich unterbrach ihn sofort, indem ich ihm eine Hand auf den Arm legte. Meine Fingerspitzen zuckten leicht.

»Mr Boyle, wie Sie selbst bereits erkannt haben, lasse ich mich nicht so schnell abschrecken. Denn ich bin neugierig«, eröffnete ich und grinste ihn dabei an.

Mr Boyle schien erleichtert und trat einen Schritt zu mir, sodass wir nahe beieinander am Kamin standen, wie zwei Vertraute, die sich gegenseitig Geheimnisse zuflüstern.

»William Kent ist gelinde gesagt ziemlich wütend auf mich, weil ich letztes Jahr die Verlobung zu seiner Schwester gelöst habe«, gestand Mr Boyle mir und ich zuckte innerlich zusammen. Mein Blick folgte dem seinen und landete bei dem armen, unscheinbaren Mädchen mit dem blassen Gesicht, von dem ich vorhin schon gedacht hatte, dass die Schönheit nicht sehr dankbar mit ihr gewesen war. Mr Boyle war verlobt gewesen? Mit ihr?

Mr Boyle musste meine Überraschung erahnen, denn er begann sofort mit seiner Erklärung. »Es war eine Verbindung, die unsere Eltern schon in unseren frühen Kindertagen beschlossen hatten. Es war immer ihr Ziel gewesen, unsere Familien zu vereinen, und da ich keine Geschwister habe und die Kents nur ein Mädchen, war es schon beschlossene Sache, als Vanessa geboren wurde.« Seine Stimme war ruhig und erklärend, und ich entspannte mich innerlich etwas.

»Und was hat Sie dazu veranlasst, dem Wunsch Ihrer Eltern nicht zu entsprechen?«, erkundigte ich mich beinahe im Flüsterton und mein Herz klopfte noch viel lauter in meiner Brust.

Mr Boyle lächelte und seine Lippen bekamen einen so angenehmen Schwung, dass meine Augen für einen Moment daran hängen blieben. »Vanessa ist ein nettes Mädchen und ich will sie auf keinen Fall schlechtreden«, sagte er und senkte sein Gesicht noch näher zu meinem herab, damit niemand außer mir seine Worte hören konnte. »Aber ich bevorzuge es, wenn eine Frau mir ebenbürtig ist und nicht durch veraltete Ansichten in den Erziehungsmethoden ihrer Eltern zu einem stummen Püppchen ohne Meinung geformt wurde.«

Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus, als ich begriff, was er mir damit sagen wollte. Ich atmete tief ein, hielt die Luft an und sah Mr Boyle dann in die Augen, in denen honiggold der Widerschein des Kaminfeuers tanzte.

»Aber ich schlage vor, dass wir beide uns jetzt vielleicht einem leichteren Gesprächsthema zuwenden, damit ich nicht noch mehr ins Schwitzen gerate«, witzelte Mr Boyle, unterbrach unseren Blickkontakt allerdings nicht.

»Wenn es Ihnen hilft«, gab ich in scherzendem Ton zurück, als wäre wirklich er derjenige, der hier gerade aus der Fassung geriet und nicht ich.

»Durchaus, Miss Crumb. Schließlich schulde ich Ihnen noch einen Bericht über meine Luftschiffreise«, meinte er und wies mit der Hand auf ein schmales Sofa, damit wir uns setzten.

Ich nahm ganz damenhaft meinen Rock zwischen zwei Finger und hob den Saum minimal vom Boden ab, damit ich zu der Sitzgelegenheit schreiten konnte. Meine Füße fühlten sich an, als würden sie wie der Saum meines Kleides in der Luft schweben und ich setzte mich mit weichen Knien auf das kleine Sofa.

Mr Boyle platzierte sich neben mich, eine interessante Mischung aus Hemmung und Selbstsicherheit im Blick, und begann mir vom Fliegen zu berichten, was ich durch unzählige Fragen unterbrach.

Irgendwann begann Miss Walker auf dem schmalen Flügel zu spielen, Tante Lillian gab zwei sehr schöne Gesangsstücke zum Besten und ich fühlte mich so wohl, dass ich nicht einmal an meine Bücher dachte.

Mr Boyle erzählte, hörte zu und lachte sogar über meine ironischen Bemerkungen. Und auch wenn ich es gern auf den Punsch geschoben hätte, wusste ich, dass mir nicht nur deswegen so warm im Bauch war.

Das Dreizehnte oder das, in dem mein altes Leben mich einholte.


Meine Finger glitten über den neuen ledernen Einband. Ich lächelte und schob das letzte Buch an seinen neuen Platz im Regal. Tief atmete ich durch und fühlte mich gut.

Es war geschafft; obwohl ich geglaubt hatte, niemals damit fertig zu werden, hatte ich gerade mal eine Woche gebraucht, alle Bücherkisten, die in der Kammer herumstanden, auszupacken, in die Kartei aufzunehmen und zu etikettieren.

Die Kammer war nun aufgeräumt und ich hatte sie meinem System entsprechend neu strukturiert.

Ich gönnte mir einen Moment der Ruhe, trat an das Geländer des Rundgangs und ließ den Blick über den Lesesaal schweifen.

Gerade fühlte ich mich wunderbar, beschwingt und voller guter Gedanken. Es war Montagmittag und gleich würde meine Pause beginnen.

Der Sonntag war so schnell vergangen, dass er mir ganz unwirklich vorkam.

Die Soiree am Samstagabend hatte sich dem Ende zugeneigt und Mr Boyle hatte mich gefragt, ob ich gewillt wäre, den Sonntag mit ihm zu verbringen, damit wir einen Ausflug in die Herbstwälder nahe London unternehmen konnten. Ich hatte ihm jedoch nicht zusagen können, da ein Sonntag ohne Kirchgang für mich nicht vorstellbar war. Mein Vater war sehr streng in dieser Hinsicht. Sonntags in die Kirche zu gehen, stand für ihn über allem und obwohl ich seine Strenge oft als Last empfunden hatte, kam ich doch nicht aus meiner Gewohnheit heraus. Ein Sonntag ohne Messe wäre wie Rhabarberkuchen ohne Sahne. Ich hätte immer das Gefühl gehabt, etwas würde fehlen.

Doch Mr Boyle hatte sich nicht entmutigen lassen, war von Tante Lillian zum Mittagessen nach der Kirche eingeladen worden und bot mir an, statt des Ausflugs eine kleine Rundfahrt durch London zu unternehmen.

Mr Reed kam aus seinem Büro, die Nase in einem Buch, und ging in meine Richtung. Ich blieb, wo ich war und schmunzelte darüber, da ich ihm durchaus zutraute, an mir vorbeizulaufen und mich nicht einmal zu bemerken.

Er hatte mich heute Morgen so schlecht gelaunt begrüßt wie eh und je und es hatte mir überhaupt nichts ausgemacht. Sollte er doch schlechte Laune haben, mich würde das überhaupt nicht stören. Ich war zufrieden mit mir, meiner Arbeit und mit dem vergangenen Wochenende.

Der Kirchgang war nicht weiter bemerkenswert gewesen. Ich hatte mit Tante Lillian eine nette kleine Kirche in der Nähe besucht. Onkel Alfred hatte sich nach dem langen Abend auf der Soiree nicht dazu aufraffen können, uns zu begleiten, und ich entschied für mich, das meinem Vater gegenüber wohl niemals zu erwähnen.

Ich war ein wenig unruhig gewesen, hatte kaum auf das geachtet, was der Priester vorne sagte, und auf der Rückfahrt war mir so warm in meinem Wintermantel, dass ich mir die Handschuhe von den verschwitzen Händen ziehen musste und sie an die kalten Scheiben der Kutsche drückte.

Das Essen wartete bereits auf uns, zusammen mit Mr Boyle, der wie versprochen erschienen war.

Wir hatten uns gut unterhalten, während ich vor Nervosität beinahe noch eine dritte Portion gegessen hätte, nur um irgendetwas zu tun und Mr Boyle nicht ständig gedankenverloren anzustarren.

Er war wahrlich ein schöner Mann und auch seine offene Art war mir sehr angenehm.

Tante Lillian hatte uns warm angelächelt und hinterhergewunken, als wir zu unserem Ausflug in die Kutsche gestiegen waren. Und obwohl ich mich hätte wunderbar verträumt fühlen müssen, bekam ich bei dem lieblichen Blick in ihren Augen ein schlechtes Gewissen. Als ob sie Hoffnungen für mich hegte, die ich nicht erfüllen konnte.

Doch ich verdrängte die Gedanken, ließ mich von Mr Boyle durch London führen, diskutierte über die Vor- und Nachteile moderner Architektur und wir besahen uns die riesige Baustelle in der Nähe des Towers of London, an der laut Mr Boyle eine Brücke entstehen sollte, die einmal einen Weg über die Themse darstellen würde und trotzdem weiterhin eine reibungslose Schifffahrt garantieren konnte. Selbst die dampfbetriebene Straßenbahn ließ er mich ausprobieren und wir fuhren damit eine Station weit, was mir einen schlimmen Hustenanfall bescherte.

Es war faszinierend und aufregend, und am Ende des Tages lieferte mich Mr Boyle wieder wohlbehalten zu Hause ab. Er hatte mich angelächelt und mir süße Träume gewünscht. Und schon wieder hatte mich dieses eigenartige Gefühl eines schlechten Gewissens befallen. Gezwungen hatte ich mich ebenfalls um ein Lächeln bemüht und war im Haus verschwunden.

Ich konnte mir immer noch keinen Reim darauf machen, woher dieses Gefühl kam, das mich ganz leicht biss, wenn ich mir Gedanken über Mr Boyle machte. Doch am wahrscheinlichsten war, dass ich einfach ein wenig Angst hatte. Schließlich war Mr Boyle der erste Mann, für den ich ein gewisses Interesse zeigte, und all die Gefühle, die dazugehörten, waren mir noch so fremd, dass ich sie so schnell nicht einordnen konnte. Aber ich war zuversichtlich, dass sich das sicher bald geben würde, und versuchte mich nur auf die positiven Aspekte des gestrigen Tages zu konzentrieren.

»Haben Sie nichts mehr zu tun, Miss Crumb?«, sprach mich eine tiefe Stimme an und ich blinzelte mich aus meinen Gedanken. Ich stand immer noch am Geländer des Rundgangs, die Hände auf dem glatten Holz, das sich unter meinen Fingern erwärmt hatte, und starrte blicklos in den Lesesaal.

»Ich …«, begann ich, ohne eine tatsächliche Erwiderung im Sinn zu haben, und wandte meinen Blick Mr Reed zu, der neben mir stehen geblieben war und scheinbar mit den Augen zu finden suchte, was meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

»Doch, Mr Reed«, gab ich zu, als ich wieder ganz bei mir war, und hoffte, er würde nicht bemerken, dass ich lediglich vor mich hin geträumt hatte. »Ich werde gleich in die Pause gehen und mich danach um die Rückgaben kümmern«, versicherte ich ihm und lächelte fein.

»Oh, das passt gut«, sagte Mr Reed und klang voller Tatendrang. »Keine fünf Minuten von der Cafeteria entfernt befindet sich das Postamt. Wären Sie so freundlich, die Briefe dort aufzugeben, die ich bisher geschrieben habe?«, erkundigte er sich förmlich und ich betrachtete ihn misstrauisch.

Ich konnte diesem Frieden nicht so recht trauen. Die Höflichkeit, um die sich Mr Reed seit unserer Auseinandersetzung bemühte, war mir zu plötzlich gekommen und ich fragte mich, was wohl dahinterstecken mochte. Denn Menschen änderten sich nicht von heute auf morgen. Schon gar nicht welche, die einem kritische Blicke zuwarfen, wenn sie glaubten, man bemerke es nicht.

»Aber sicher, Mr Reed«, erklärte ich mich dennoch bereit.

»Sagen Sie dem Postbeamten einfach, Sie sind Angestellte der Bibliothek, dann wird er das Porto der Universität in Rechnung stellen«, meinte er und da drang plötzlich ein Geräusch an mein Ohr, das hier ganz und gar nicht hingehörte.

Erschrocken fuhr ich zusammen, als ich die Stimme erkannte, die von unten zu uns hochgetragen wurde, und mein Blick richtete sich sofort auf den hohen Durchgang, der vom Foyer in den Lesesaal führte.

Ich erkannte ihren Mantel und auch die viel zu große Feder am Hut. Oh nein!, dachte ich nur noch, wich vom Geländer zurück und so weit nach hinten, bis mein Rücken an die Bücherregale stieß.

»Miss Crumb?«, sprach Mr Reed mich fragend an und seine Augen verengten sich irritiert, während er mir dabei zusah, wie ich mit verkniffenem Mund dastand, nach unten starrte und vor Schreck die Luft angehalten hatte.

Auch ihm waren die Stimmen aufgefallen, die für die Bibliothek viel zu laut erschienen und zudem noch weiblich waren. Er trat näher ans Geländer und sah nach unten.

»Kennen Sie diese Frauen?«, erkundigte er sich bei mir und ich wurde mir bewusst, wie albern ich mich verhielt.

Ich holte wieder Luft, verdrängte das Schockgefühl aus meiner Brust und straffte die Schultern, während die Stimme näher kam und genau in dem Moment das obere Ende einer Treppe erreichte, als ich einen Schritt vom Regal weg in die Mitte des Rundganges trat.

»Animant«, rief meine Mutter freudestrahlend, als sie mich erblickte, löste sich von der Seite meiner Tante und kam schnellen Schrittes auf mich zugeeilt.

»Verzeihen Sie. Es ist meine Mutter«, teilte ich Mr Reed mit, der immer noch neben mir stand und die Frau mit der lauten Stimme missbilligend betrachtete.

Nach dieser Aussage wandte er jedoch den Blick auf mich und hob überrascht die Augenbrauen.

Ich löste mich von seiner Seite und ging meiner Mutter entgegen. »Bitte, Mutter. Es ist eine Bibliothek«, flüsterte ich ihr zu, doch sie achtete nicht darauf, schlang ihre Arme um mich und zog mein Gesicht in ihren flauschigen Kaschmirschal.

»Oh Animant, ich hab dich so vermisst. Keinen einzigen Tag mehr hätte ich es ohne meine Ani ausgehalten«, verkündete sie immer noch viel zu laut und ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken.

Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was Mr Reed jetzt von mir denken musste. Wenn ich ihn richtig einschätzte, dann lachte er gerade über mich. Vielleicht nicht hörbar und auch nicht offensichtlich, aber in seinem bösartigen Kopf lachte er ganz sicher laut und schadenfroh.

»Mutter«, fuhr ich etwas energischer auf und sie schob mich mit verdutztem Gesicht von sich.

»Lillian sagte, du hättest jetzt Pause«, meinte sie irritiert und es klang, als hielte sie dies für einen ausreichenden Grund, um hier so laut zu sprechen.

»Ich schon, die Bibliothek aber nicht!«, ermahnte ich meine Mutter scharf und sie rollte geziert mit den Augen. Als hätten wir für einen Moment die Rollen getauscht. Innerlich seufzte ich und riss mich zusammen. Ich löste mich aus ihrem Griff und sah zu meiner Tante, die langsam auf uns zukam. »Ich nehme an, ihr wollt mich zum Mittagessen ausführen«, fragte ich sie und Tante Lillian nickte lächelnd, während sie sich bei meiner Mutter unterhakte. »Dann schlage ich vor, ihr wartet draußen auf mich. Ich erledige schnell noch etwas und hole dann meinen Mantel«, erklärte ich eilig in der Hoffnung, noch ein paar Minuten nur für mich zu haben. Zu meinem Erstaunen waren die beiden Frauen tatsächlich damit einverstanden.

»Hier ist die Atmosphäre auch wirklich sehr erdrückend, Animant. Wie hältst du es hier nur den ganzen Tag aus?«, fragte mich meine Mutter verwundert und sah sich beklommen um. Ihr Blick fiel auf das Geländerstück, das der Überseekoffer zertrümmert hatte, und ihre Augen wurden groß. »Oh, was ist denn da passiert?«, rief sie wieder viel zu laut und ich schob sie schnell in Richtung der Treppe zurück.

»Ich komme gleich nach«, versprach ich eindringlich und war sehr dankbar, als Tante Lillian sie am Arm mit sich nach unten führte.

Als sie die untersten Stufen nahmen und leise schwatzend auf den Ausgang zusteuerten, schaffte ich es, tief durchzuatmen und mir mit den Händen über das Gesicht zu reiben.

Damit hatte ich nun wirklich überhaupt nicht gerechnet. Ich war doch ursprünglich nur nach London gekommen, um meiner Mutter zu entfliehen, und dabei war mir keine Sekunde der Gedanken gekommen, sie könnte mir hierher folgen.

Es war eine Katastrophe, ein Desaster, ein Trauerspiel. Meine ruhigen Abende mit einem Buch und meinen eigenen stillen Gedanken würden sich nun mit jeglicher Unterhaltung füllen, die London einem zur Verfügung stellte. Soirees, Konzerte, Teegesellschaften, Bälle, Theater und wenn der schlimmste Fall eintreten sollte, sogar die Oper. Meine Mutter würde alles sehen wollen und mich dazu zwingen, sie zu begleiten. Aufgetakelt, gelangweilt und als meine ständigen Begleiter ihre Kommentare in meinem Ohr, die sich allesamt nur um die jungen Herrschaften der Londoner Gesellschaft drehen würden.

Mein Leben, das gerade angefangen hatte, sich wirklich gut anzufühlen, stürzte augenblicklich in bodenlose Schwärze und ich atmete noch einmal tief durch, ehe ich mich in Bewegung setzte.

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