Kitabı oku: «Litersum», sayfa 2

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Auf dem Umschlag stand lediglich mein Vorname in der mir bekannten Handschrift von Alexandra. Meine Mentorin aus der Musenagentur hatte mir Unterlagen für einen Auftrag vorbeigebracht. Seit den Vorfällen vor einem halben Jahr durften auch die Anti-­Musen die Agentur betreten und die Akten selbst entgegennehmen, doch es war auch möglich, den alten Ablauf mit einer Mentorin als Vermittlerin beizubehalten. Da ich kaum Zeit hatte, nutzte ich diesen Service. Ich sah dann zu, dass ich den Kuss-Auftrag ausführte, wenn ich Zeit hatte, und meldete mich bei ihr, sobald sie die Unterlagen wieder abholen konnte. So vergeudete ich keine Sekunde für Botengänge durch das Litersum. Darüber hinaus hatte ich mit Alexandra kaum Kontakt, wir lagen nicht unbedingt auf einer Wellenlänge.

Eine Woche hatte ich nun Zeit, den angehenden Autor oder die Autorin zu küssen und eine Idee auszulöschen. Hoffentlich wohnte er oder sie nicht so weit weg oder in der Nähe einer Buchhandlung und ich bekam es ohne Probleme in meinem Terminplan unter.

Der zweite Brief steckte in einem Umschlag aus dickem creme­weißen Papier. Meine Adresse war in dicken Lettern aufgedruckt, oben rechts prangte ein weiß-goldenes Logo, das mir nichts sagte. Keine Briefmarke, kein Absender. Merkwürdig. Ich riss den Umschlag auf und zog den gefalteten Bogen heraus.

Es war eine Einladung für die an die Musenagentur gekoppelte Akademie, die im Sommersemester des nächsten Jahres für alle Bureal-­Kinder ihre Pforten öffnen würde. Bisher waren nur die Erfinder und die Musen dort ausgebildet worden, in Zukunft sollten auch alle anderen dort aufgenommen werden. Man würde uns nicht nur bei den Aufträgen unterstützen, sondern uns auch die Geschichte des Litersums lehren sowie Inhalte, die uns in der echten Welt voranbrachten. So zumindest hieß es in dem Schreiben. Um uns einen Eindruck von den Angeboten zu verschaffen, würden wir bereits im bevorstehenden Wintersemester Schnupper- und Orientierungskurse belegen können, bevor wir uns dann für unseren weiteren Weg entschieden. Neben der Akademie oder der Rückkehr zu seinem »alten« Leben gab es auch noch andere Optionen.

Die Bureal-Kinder nutzten ihre Gaben, bis sie dreißig wurden, dann verebbte die Magie, nur die Fähigkeit zum Wandeln durch die Welten blieb bestehen. Die meisten von ihnen nahmen bereits davor oder danach normale Jobs an und suchten das Litersum später nur noch privat auf. Durch das so entstandene Netzwerk der älteren Bureal-Kinder konnten die neuen Generationen quasi überall auf der Welt einen Job finden, auch schon weit vor der dreißig. Egal in welcher Branche. Vorausgesetzt, man eignete sich dafür und besaß die entsprechenden Kompetenzen. Fürs Faulenzen wurde man nicht belohnt. Auch ich hätte möglicherweise von diesen Kontakten profitieren können, doch das stand für mich außer Frage. Ich wollte mich nicht auf andere verlassen. Ich wollte mit meinen eigenen Fähigkeiten, meinen eigenen Qualitäten – so karg sie auch sein mochten – überzeugen und mich aus eigener Kraft um mich kümmern. Und bei einem Job, den ich schlussendlich nur über das berühmte Vitamin B bekommen hätte, wäre das nicht der Fall. Damit würde ich mich nicht gut fühlen und das war es mir nicht wert. Zumal ich bezweifelte, dass mein Werdegang für irgendetwas ausgereicht hätte.

Ich las mir das Schreiben zwei Mal durch. Dort stand, dass der Besuch der Akademie angeblich nichts kostete, aber nichts darüber, wie lange eine Ausbildung dauerte. Es wurde auf eine Infoveran­staltung verwiesen, die in einem Monat stattfinden sollte. Dort werde man alle weiteren Fragen beantworten und genauer auf die Pläne für die Zukunft eingehen. Man freue sich auf uns und werde sich um uns kümmern.

Ich faltete den Brief zusammen und ging zur Küchenzeile. Die Post legte ich auf dem Tisch ab. Aus dem Kühlschrank holte ich mir eine Dose Cola, öffnete sie und trank einen Schluck. An die schmale Theke gelehnt betrachtete ich die Einladung.

Es waren viele Versprechungen, die sie machten. Große. Ob sie sie einhalten würden … zweifelhaft. Versprechen glitten schnell über die Lippen, bauten Erwartungen auf. Und wenn sie gebrochen wurden und die Hoffnung verpuffte, rissen sie mehr als das mit sich. Ein Stück Herz. Ein Stück Vertrauen.

Ich trank die Cola leer und ließ den Brief links liegen.

Unter meiner Bettdecke fand ich meinen Laptop, der beim Hochfahren aus dem letzten Loch pfiff.

»Lass mich nicht im Stich, Thor.« Das alte Gerät sprühte ab und an ein paar Funken, wenn ich das Ladekabel anschloss, daher der Name. Er hatte sich schon so verhalten, als ich ihn im Secondhandladen kaufte.

Doch der Gott des Donners fuhr ohne Murren hoch. Ich checkte meine Mails und fand zwei neue Grafikaufträge vor: ein Flyer für eine Party sowie eine Save-the-Date-Karte für ein junges Paar. Die Party war bereits in einer Woche, das Design brauchte der Käufer idealerweise bis zum nächsten Tag. Für die besonders eiligen Sachen bekam ich mehr Geld und ich grinste. Dann schaute ich auf die Uhr und stöhnte. Die Mail war von gestern.

Er benötigte den Flyerentwurf heute. Ich startete das Design­programm, das ewig zum Laden brauchte, und holte mir in der Zwischen­zeit noch eine weitere Cola. Es würde noch eine lange Nacht werden. Auf meinem Rückweg zum Sofa kam ich an dem Beistelltisch vorbei, auf dem das Buch lag.

»Irgendwann klappt es noch mit uns beiden. Oder damit, etwas trinken zu gehen. Oder mit dem belanglosen Geplauder bei einer Tea Time. Irgendwann.« In einer anderen Zeit. Einem anderen Leben. Ich nahm einen Schluck aus der Dose und machte mich an die Arbeit.

Kapitel Zwei


Du verarschst mich doch.«

Mein Wecker und ich führten eine sehr innige Beziehung, in der man offen und ehrlich miteinander reden konnte. Ich schaltete den Alarm aus und fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. Draußen war es noch dunkel, ich hatte gerade einmal drei Stunden Schlaf hinter mir. Gefühlt war es noch mitten in der Nacht. Doch die Zeitungen trugen sich nun mal nicht von selbst aus. Auch heute nicht.

Stöhnend schlug ich die Decke beiseite und rollte mich vom Sofa. Mein Rücken schmerzte, Strecken machte es nicht gerade besser. Augenreibend tapste ich in das kleine Bad, warf alle Klamotten von mir und stieg unter die Dusche. Das Wasser erwachte blubbernd zum Leben und fegte lautstark durch die alten Rohre. Es klang, als würde eine riesige Welle anrauschen, aus der Brause prasselte dann allerdings nur ein Rinnsal.

Anschließend schlang ich mir ein Handtuch um und wischte mit der Hand das Kondenswasser von einer Ecke des Spiegels. Meine Augen waren gerötet, die Haut darunter dunkel. Das Grau meiner Iriden wirkte dadurch noch blasser. Fast so hell wie meine blonden Haare. Hoffentlich würde Fred, mein Chef bei der Zeitung, mir nicht wieder unterstellen, dass ich Drogen nahm, um wach zu bleiben. Das tat er jedes Mal, wenn ich so aussah. Dabei lag es nur an den Nachtschichten und dem Auf-den-Bildschirm-Starren.

Ich schlüpfte in die bereitgelegten Klamotten, föhnte meine Haare und schob sie unter eine Mütze. Zu dieser Uhrzeit war es draußen bereits winterlich kalt und eine Erkältung konnte ich mir nicht leisten. Ich stopfte auch die dünnen Handschuhe in meine Tasche, schwang mir diese um und machte mich auf den Weg.

Meine Glieder waren träge, mein Mund trocken und mein Magen knurrte. Doch sobald ich aus der Haustür trat, traf mich die Kälte wie ein Schlag und rüttelte mich wach. Alles andere war für den Moment vergessen.

Beim Verlagshaus holte ich einen kleinen Rollwagen ab, der randvoll mit der heutigen Ausgabe der London Locally gefüllt war, ohne mir einen doofen Kommentar seitens Fred einzubrocken. Zwei Stunden benötigte ich für meine Route durch London. Normale Menschen brauchten für diese Strecke länger, ich konnte es dank meiner Gabe und den magischen Türen von Buchläden ein wenig abkürzen. Trotzdem war ich müde und meine Muskeln schmerzten, als ich mich auf den Rückweg machte. Ich brachte den leeren Wagen zurück, steckte den Scheck von Fred ein und ging wieder nach Hause. Es dämmerte schon. Ich hatte noch gut zwei Stunden, ehe ich zur Schicht ins Heartbreak Hotel aufbrechen musste. Konnte ich mir noch ein wenig Schlaf gönnen? Nur ein paar Minuten, bevor ich noch andere Aufgaben erledigte? Meine Augen waren ganz trocken und ich musste ständig blinzeln. Das würde mich den Rest des Tages wahnsinnig machen.

Am Haus angekommen wurde mir die Entscheidung abgenommen. Lauren schleppte ein paar Kisten aus einem Transporter in den Laden, der erst in zwei Stunden öffnen würde. Ich schnappte mir auch eine und folgte ihr. Dem Gewicht nach zu urteilen, waren es keine Bücher, dafür waren sie zu leicht. Lauren eilte mir auf halbem Weg zurück entgegen.

»Riley! Du kommst wie gerufen! Stell den Karton einfach im Lager zu den anderen. Danke!«

Sie huschte an mir vorbei, zurück zur Straße. Gemeinsam schleppten wir noch vier Boxen in das Hinterzimmer, ehe Lauren den Laden abschloss. Wir legten unsere Jacken an die Kasse, dann ging es ans Auspacken.

»Was ist denn da drin?« Ich deutete auf einen der Pappkartons.

Lauren zückte ein Teppichmesser und schnitt durch das Klebeband. Sie klappte den Deckel beiseite. »Kleine Geschenke. Das Straßenfest steht an und die hier will ich an die Kunden weitergeben.« Sie zog etwas aus dem Karton. Es war ein Teebeutel, auf dessen Verpackung das Logo des Ladens prangte.

»Die sind echt hübsch.«

»Ich habe noch Lesezeichen und werde Kekse backen. Kam das letzte Mal echt gut an.«

»Planst du auch wieder ein kleines Event?«

»Ja. Darum muss ich mich noch kümmern. Du könntest nicht zufällig ein paar echte Buchcharaktere für den Abend organisieren?« Ihre Augen blitzten hoffnungsvoll auf.

Ich hob eine Augenbraue. »Du weißt, dass sie es nicht länger als ein paar Stunden in unserer Welt aushalten, bevor sie wortwörtlich und ohne Vorankündigung ins Litersum zurückgezogen werden. Erkläre das mal deinen Kunden, wenn sie auf einmal mitten in der Veranstaltung verpuffen. Außerdem ist es für sie momentan superschwer, eine Genehmigung für einen Ausflug in unsere Welt zu bekommen. Und ich werde niemanden ohne eine solche herbringen, das ist noch illegaler, als Menschen ins Litersum mitzunehmen … glaube ich zumindest. Ich weiß nicht mal, ob das überhaupt geht.«

»Hm. Schade. Aber hättest du nicht Lust, einen Charakter zu spielen? Ich gebe dir, wenn möglich, auch eine Rolle, in der du nichts anderes tun musst, als dazustehen und die Leute böse anzufunkeln. Plus etwas Hübsches zum Anziehen.«

»Das könnte mir gefallen«, sagte ich und grinste.

Lauren tippte sich mit dem Zeigefinger an den Kopf. »Das dachte ich mir. Also bist du dabei? Es ist nächsten Mittwoch, von nachmittags bis spätabends. Essen und Trinken geht natürlich auf mich. Und du darfst dir fünf Bücher aussuchen, die ich dir schenke.«

Mit anderen Worten: ein unbezahlter Tag voll Arbeit. Dafür aber Verpflegung. Und Bücher, die ich nicht würde lesen können. Laurens Blick war flehend. Ich schluckte.

»Kommt drauf an, wie ich im Heartbreak Hotel eingeteilt bin. Ich gebe dir schnellstmöglich Bescheid, ja?«

»Supi. Das Kostüm müssten wir dann noch anpassen, aber …«

Die Klingel über der Eingangstür des Ladens läutete – was unmöglich war, da sie verschlossen war. Lauren blinzelte. »Habe ich ver­gessen abzuschließen?«

»Nein. Ich stand neben dir.«

Wir sahen uns einen Herzschlag lang an. Ich warf den Teebeutel zurück in die Kiste und ging zur Tür des Lagers. Von hier konnte man nicht in den vorderen Verkaufsraum sehen, aber eventuell etwas hören. Tatsächlich. Schritte und Gemurmel. Jemand war in den Laden eingebrochen! Und wir hatten die Jacken samt Handys vorne liegen lassen. Verdammt.

Lautlos deutete ich Lauren mit dem Kopf an, mir zu folgen. Sie hatte noch immer das Teppichmesser in der Hand. Wir huschten in den hinteren Verkaufsraum. Mein Blick fiel auf den Tisch, den wir gestern Abend zusammen bestückt hatten. Ich schnappte mir den Dolch aus Plastik und den roségolden besprühten Stein. Er war schön schwer und würde sicherlich wehtun, wenn er auf einen Schädel traf. Der Dolch würde mir im schlimmsten Fall nicht helfen, aber zur Abschreckung sollte er reichen. Lauren musterte meine Auswahl kritisch, vor allem den Stein. Vermutlich hatte er einiges gekostet, so schön, wie er aussah. Aber Sicherheit war mir gerade wichtiger.

Schritt für Schritt gingen wir zum Hauptraum, meine Hände wurden feucht und ich drückte meine Finger fester zusammen. Wir schlichen um die Ecke in den vorderen Teil des Ladens.

Zwei Männer standen dort und sahen sich um, als wäre es das Normalste der Welt.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Lauren mit zitternder Stimme, bevor ich sie davon abhalten konnte. Ich blieb dicht neben ihr, ließ die Eindringlinge nicht aus den Augen. Meine Muskeln brannten vor Anspannung und mein Herz raste.

Die Männer drehten sich zu uns um, seelenruhig. Ich war überrascht darüber, wie jung sie wirkten, höchstens Anfang zwanzig, genau wie ich. Sie trugen schwarze Lederjacken über dunkelgrauen Shirts sowie schwarze Hosen ‒ wie eine halbe Boyband mit Dresscode. Jung, gut gebaut und der identische Klamottenstil machte sie auf den ersten Blick nicht unterscheidbar. Unerklärlicherweise richtete sich meine Aufmerksamkeit auf den Rechten der beiden. Irgendwas an seiner Ausstrahlung zog mich an. Seine dunklen Haare und der leichte Bartschatten standen in starkem Kontrast zu seinen strahlenden Augen – die mich interessiert musterten.

Es fröstelte mich, als mir dämmerte, dass wir sie niemals überwältigen könnten, da sie uns kräftemäßig weit überlegen waren. Ich schluckte schwer und packte meine provisorischen Waffen fester. Mein Blick huschte umher und blieb an dem Gesicht des linken Mannes mit den dunkelblonden Haaren hängen. Irgendetwas stimmte daran nicht. Er riss die Augen auf, trat einen Schritt zurück und hob die Hände.

»Entschuldigung, dass wir einfach so hereinplatzen. Wir wollten euch nicht erschrecken.«

Lauren schnaubte. »Wie seid ihr hier reingekommen?«

»Durch die Tür«, erwiderte der Mann ruhig. Unwillkürlich machte ich einen Schritt auf ihn zu. Er legte den Kopf schief, als ich sein Gesicht musterte. Die Augen. Hellbraun, funkelnd – aber einen Tick zu leblos. Ich entspannte mich und ließ die Hände sinken.

»Du bist ein Buchcharakter.« Meine Stimme war kratzig und ich räusperte mich.

Er lächelte mich an. »Richtig. Und ich – wir – sind in einem offiziellen Auftrag hier.« Langsam senkte er einen Arm und griff sich in die linke Jackentasche. Lauren und ich wichen gleichzeitig einen Schritt zurück. Er zog eine Marke ähnlich der eines Detectives aus der Tasche. Auf dem goldenen Material war ein mir bekanntes Logo eingraviert. Lauren warf mir einen unsicheren Blick zu. Ich nickte nur kurz und auch sie entspannte sich.

»Ihr seid von der Taskforce.«

»Richtig. Wir sind hier, weil wir ein paar Fragen an Riley Bell haben. Ich nehme an, das bist du?« Er steckte die Marke wieder ein und deutete mit dem Kinn auf mich. Ich nickte. Mein Puls wurde schneller. Jetzt hatten sie mich also erwischt.

»Möchte jemand einen Tee?«, fragte Lauren plötzlich und legte mir eine Hand auf den Arm. Ich entspannte mich etwas, aber ein ungutes Grummeln in meinem Magen blieb.

»Sehr gern«, antwortete der Mann.

»Gib mir die Deko, Riley. Bin gleich wieder da.«

Ich presste die Lippen aufeinander und händigte Lauren den Dolch und den Stein aus. Der Schweiß in meinen Händen hatte die Farbe des Steins angegriffen, sie klebte nun zum Teil an meinen Fingern und die blanken silbrigen Mosaiksteinchen kamen darunter zum Vorschein. Lauren zog missmutig die Brauen zusammen, sagte aber nichts. Ohne die provisorischen Waffen fühlte ich mich schutzlos. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

»Verratet ihr mir auch eure Namen?«, presste ich schließlich hervor.

Der Buchcharakter lächelte. »Mein Name ist George Farley, das hier ist mein Kollege Noah Carver.« Ich sah dem jungen Mann ins Gesicht, der die ganze Zeit still neben seinem Kollegen gestanden hatte. Seine grün-braunen Augen waren die eines Menschen. Und wunderschön. Voller Leben und heller Sprenkel, die im Licht schimmerten. Ich konnte nicht wegsehen, war wie gebannt davon. Sie passten nicht so recht zu seinem leicht gequälten Gesichtsausdruck. Er war attraktiv, nur leider erkannte man in dem Moment nicht viel davon, weil er so verkniffen dreinblickte.

»Kennen wir uns?«, fragte er mit tiefer Stimme und holte mich damit aus meiner Trance. Ups.

»Nicht dass ich wüsste.« An diese Augen würde ich mich erinnern. Ganz bestimmt. »Was bist du?«

»Erfinder«, antwortete er. So also sah einer von ihnen aus. Ein Bureal-­Kind mit der Gabe, Ideen zu erschaffen und sie an die guten Musen weiterzugeben, die sie dann wiederum mit einem Kuss an Autoren verschenkten. Ich hatte sie mir anders vorgestellt. Irgendwie verschroben … Dieser Noah wirkte … ganz normal. Bis auf den Gesichtsausdruck, der den Anschein erweckte, als hätte er Schmerzen. Die dunkelbraunen Haare hingen ihm leicht zerzaust in die Stirn, der einzige Punkt, in dem er mit meinem Bild eines Erfinders übereinstimmte.

Gut, dass du keine Vorurteile hast, Riley, meldete sich mein Sarkasmus. Er ist genauso normal wie du auch.

»Wenn du einen Moment Zeit hättest«, setzte George Farley mit einem kurzen Blick zu Noah hinzu, »würden wir uns gern mit dir unterhalten, Riley.«

»Schießt los.« Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein aufs andere. Meine Muskeln schrien: Lauf weg! Und doch bewegte ich mich keinen Zentimeter.

Noah griff in seine Jackentasche. Er zog einen Frischhaltebeutel heraus und hielt ihn mir hin. »Die gehört zu dir, oder?«

Zögernd streckte ich meine Finger nach dem Beutel aus und nahm ihn entgegen. Schöne Hände, schoss es mir durch den Kopf, als wir uns kurz berührten.

Es war kein Frischhaltebeutel, sondern eine Beweismitteltüte. Darin steckte eine beschriftete weiße Karteikarte. Ich strich das Plastik glatt, um die Wörter entziffern zu können. Hitze stieg mir ins Gesicht, als die Buchstaben vor meinen Augen sichtbar wurden. Mein Vorname. Mein Pseudonym im Internet. Ein Hinweis auf die Pop-up-Buchwelten und die Adresse von Books by Bea. Schwarz auf weiß, mit Kugelschreiber in einer schönen Handschrift. Mit Bleistift war daneben in einer anderen Schrift ein Datum gekritzelt, es handelte sich um den Termin eines vergangenen Besuches im Litersum.

»Woher habt ihr die?«

»Kommt sie nicht von dir?«, fragte Noah.

»Nein. Ich habe diese Karte noch nie gesehen.«

Die beiden Männer warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

»Ich schwöre, dass sie nicht von mir kommt, auch wenn mein Name darauf steht.« Das entsprach der Wahrheit. Aber natürlich verstand ich, wieso das schwer zu glauben war.

»Die Angaben sind korrekt, oder?«

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Lügen war zwecklos. »Ja.«

Erneut griff Noah in seine Jackentasche. Was hatte er da noch alles drin? Dieses Mal kam ein Foto zum Vorschein. Nein, zwei.

»Kennst du diese jungen Frauen?« Ich gab ihm den Beweismittelbeutel im Austausch für die Bilder und er steckte ihn wieder ein. Die beiden jungen Frauen waren ungefähr in meinem Alter. Sie lächelten mit jeder Menge Bücher in den Armen, die sie in die Kamera hielten. Mein Magen zog sich zusammen und ich presste die Lippen aufeinander. Die Gesichter kamen mir vage bekannt vor und ihre T-Shirts mit den Logos und die Nicknamen bestätigten meinen Verdacht, dass ich den beiden schon begegnet war. Ich schluckte schwer. Noah versteifte sich, seine Stimme war rau, als er sagte: »Ich werte das als ein Ja.«

»Ich habe sie schon mal getroffen.«

Wieder wechselten die Männer einen Blick. Die Rettung erreichte mich in Gestalt von Lauren, die Tee und Kekse brachte. Sie setzte ein Tablett auf einem Stapel Bücher neben uns ab und schenkte ein paar Tassen ein. George nahm eine davon, Noah lehnte ab. Auch ich wollte nichts, meine Hände zitterten zu sehr. Lauren schnappte sich selbst einen Becher und stellte sich ganz entspannt neben uns. Sie griff nach einem ihrer selbst gemachten Schokokekse, für die ich normalerweise alles stehen und liegen ließ, aber gerade wurde mir allein von dem Geruch schlecht.

»Worum geht es denn?«, erkundigte sich Lauren.

Noah warf mir einen fragenden Blick zu.

»Sie weiß Bescheid. Redet ruhig weiter«, erklärte ich.

Seine Miene war ausdruckslos, als er fortfuhr, doch der missbilligende Unterton in seiner Stimme entging mir nicht. »Das sind Isabel Rubens und Emily White. Sie sind ganz normale Menschen aus der echten Welt. Die beiden waren für jeweils knapp vierundzwanzig Stunden verschwunden, ehe sie in der Londoner ZwiBi gefunden wurden. Isabel vor drei Wochen, Emily vor drei Tagen. Beide waren verwirrt und erinnerten sich nicht daran, wer sie sind oder wie sie in das Litersum kamen. Geschweige denn, dass sie überhaupt wussten, was das Litersum ist. Bei Emily haben wir gestern diese Visitenkarte gefunden. Du hast die beiden – und andere – in das Litersum geführt, oder?«

»Dreizehn gehen rein, dreizehn wieder raus«, sagte ich.

»Wie bitte?«, mischte sich George ein.

»Es stimmt. Ich habe die beiden und andere Menschen in das Litersum mitgenommen. Aber ich habe ihnen und auch mir klare Regeln und Grenzen gesetzt. Eine davon lautet: Ich achte darauf, dass alle, die mit reingekommen sind, auch wieder mit rausgehen. Keiner mehr und keiner weniger. Es sind immer dreizehn Leute, die ich mitnehme. Und bisher habe ich auch immer alle wieder mit heraus­genommen. Wenn diese beiden also im Litersum gestrandet sind, dann nicht meinetwegen.«

»Du gibst also zu, dass du mit diesen angeblichen Pop-up-Welten diverse Regeln gebrochen hast.« George legte den Kopf schief.

Ich straffte die Schultern und antwortete: »Ja.« Noahs Blick huschte zu Lauren. »Sie hatte keine Ahnung«, warf ich ein. »Ja, sie weiß, dass ich eine Anti-Muse bin und was ihr seid. Aber sie hat nichts mit den Übertritten in das Litersum zu tun.« Den letzten Satz sagte ich direkt an Lauren gewandt. Sie sollte ja nicht auf die Idee kommen, etwas anderes zu behaupten. Ich würde sie nicht in meinen Mist hineinziehen. Sie presste die Lippen zusammen und sah mich entschuldigend an.

»Das Einweihen von Menschen in die Belange des Litersums ist verboten«, erwiderte George und trank genüsslich einen Schluck Tee. Seine Augen blitzten herausfordernd auf.

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«

Seelenruhig setzte er die Tasse wieder auf dem kleinen Tellerchen ab. Noah wartete still, seine Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt. Gab es zwischen den beiden eine Hierarchie? Angespannte Stille breitete sich aus. Ich konnte mein Blut in den Ohren rauschen hören.

»Keks?«, fragte Lauren und hielt den Teller mit dem Gebäck hoch. Die Männer lehnten ab und George räusperte sich.

»Die jungen Frauen sind erst ein paar Tage nach den offiziell von dir durchgeführten Übertritten verschwunden und im Litersum aufgefunden worden. Was glaubst du, wie sie nach deinen Terminen dort gelandet sind? Gab es noch weitere Besuche, von denen wir nichts wissen? Hast du sie noch einmal in die Welt geführt und dort vergessen?«

»Ich hätte sie unter keinen Umständen zurückgelassen. Das schwöre ich. Ich kann mir nicht erklären, wie die beiden danach ins Litersum gekommen sind, es gab keine weiteren Besuche, bei denen sie dabei waren«, sagte ich mit leicht zitternder Stimme. »Wie geht es ihnen jetzt?«

Noah hob den Kopf. »Interessiert dich das wirklich?«

Ich biss mir auf die Lippe. Lauren griff nach meinem Arm und ich entspannte mich wieder. »Natürlich tut es das«, gab ich zwischen zusammengepressten Zähnen zurück. »Ist das so schwer zu glauben?«

»Bei einer Anti-Muse? Ja, das ist es.« Noah reckte das Kinn und schaute mich mit altbekannter Arroganz an. So sahen die meisten Buchcharaktere auf mich herab. So sahen die Musen auf uns herab. All jene, die glaubten, sie wären besser als wir, nur weil sie in einer schicken Akademie lebten, zu der wir anderen noch keinen Zugang hatten. Dabei hatten wir an unserer Gabe genauso wenig Anteil wie sie. Wir erfüllten auch nur unsere von der Agentur übertragenen Aufgaben. Dass bei den Anti-Musen mehr dahintersteckte als nur das Auslöschen von Ideen, wusste ich selbst erst seit Kurzem. Wir konnten Ideen mithilfe der Wandler verändern, sogar verbessern und zurückgeben, doch das schien noch nicht überall angekommen zu sein. Es würde noch dauern, bis die Vorurteile abgebaut wurden und wir vielleicht wieder mit den Wandlern zusammenarbeiteten … Falls es überhaupt so weit kam. In den letzten Monaten hatte es mehrere Treffen mit Anti-Musen aus England gegeben, eine Art Stammtisch, bei dem wir uns austauschten. Dort hatten wir unsere Erfahrungen geteilt und sie waren in der Hinsicht nahezu identisch. Wir waren uns auch einig, dass sich das ändern musste. Dazu brauchte es allerdings auch Geduld von unserer Seite.

»Wie geht es ihnen?«, wiederholte ich mit Nachdruck.

Noah erwiderte meinen Blick mit unverhohlenem Missfallen. Seine Augen, die vor wenigen Momenten noch Wärme ausgestrahlt hatten, wirkten kalt. Leider waren sie trotzdem wunderschön.

»Den Umständen entsprechend. Sie erinnern sich noch immer an nichts. Aber das könnte sich ändern«, sagte er und es klang wie eine Drohung.

Ich schluckte meine Wut herunter, die mich nicht weiterbringen würde. Das tat nur die Arbeit. Ich sah zu George.

»Dreizehn gingen rein, dreizehn kamen wieder raus. Ich habe niemanden im Litersum zurückgelassen, und wenn sie später auf andere Weise dort hingelangt sind, kann ich nichts dafür.«

Noah schnaubte. »Natürlich nicht. Weil Anti-Musen ja nie etwas zum Verschwinden bringen.«

George schien irritiert von Noahs Reaktion und sah zu Lauren, als wollte er sehen, was sie dazu sagte. Die starrte Noah böse an.

Ich biss mir auf die Zunge. Es kostete mich alle Mühe, seinen Kommentar zu ignorieren und ihn nicht anzubrüllen.

»Wir ermitteln in alle Richtungen«, warf George ein. »Trotzdem wäre es gut, wenn du mir sagen könntest, wo du an den Tagen zwischen dem Verschwinden der jungen Frauen und ihrem Auftauchen im Litersum warst.« Er zückte einen kleinen Notizblock aus seiner Jackentasche. Damit er die Hände zum Schreiben frei hatte, nahm Lauren ihm die leere Tasse ab und stellte sie zurück auf das Tablett. George beobachtete jede ihrer Bewegungen ganz genau. Erst als sie fertig war, nannte er mir die Daten, und ich rasselte meinen Tagesablauf herunter, soweit ich mich erinnern konnte. Ich war in den entsprechenden Zeiträumen nicht im Litersum gewesen. Denn außer zu den Besuchen mit den Bloggern betrat ich es so gut wie nie.

George nickte, als ich fertig war. »Wir werden dich heute mit einer Mahnung davonkommen lassen, Riley. Aber sollte uns noch einmal zu Ohren kommen, dass du Gruppen von Menschen in das Litersum führst, wird das ernste Konsequenzen haben. Falls dir nicht vorher schon Strafen wegen dieser Sache drohen, wenn Mrs Patton von alldem erfährt und entscheidet, in dieser Angelegenheit selbst etwas zu unternehmen. Sollte dir noch etwas einfallen, kannst du in unsere Zentrale im Knotenpunkt kommen. Gleich neben der Agentur.«

Noah kniff die Augen zusammen und musterte George skeptisch. Oh ja, ihm passte es gar nicht, dass sein Kollege mich laufen ließ. Mein Herz hingegen klopfte schnell. Kam ich wirklich so davon? Dann traf mich die Erkenntnis wie eine eiskalte Dusche. Ich war gerade dabei, eine meiner besten Einnahmequellen zu verlieren. Mehrere Hundert Pfund würden mir in Zukunft durch die Lappen gehen. Die Miete … Meine Knie wurden weich. Laurens Hand legte sich auf meinen Rücken und stützte mich.

»Danke«, sagte sie an meiner Stelle. »Ihr wisst ja, wo ihr uns finden könnt, falls nötig.«

George lächelte sie an. »Einen schönen Tag noch.« Er drehte sich um und ging zum Ausgang, wo er auf seinen Kollegen wartete. Noahs Blick war auf mich gerichtet, wie ich erschrocken feststellte. Seine Miene wirkte undurchdringlich, die fein geschwungenen Kiefer­knochen stachen scharf hervor. Ich hielt ihm stand und starrte zurück. Mit einem Kopfschütteln wandte er sich schließlich ab und folgte George, um ihm die Tür zu öffnen. Sie traten hindurch in eine Welt, die nicht in unserem Universum lag. Offensichtlich hielten auch verschlossene Türen Bureal-Kinder nicht auf und es war möglich und den Mitgliedern der Taskforce erlaubt, auch Buchcharaktere auf diese Weise durch Welten zu schleusen. Im nächsten Moment fiel die Tür mit einem Klingeln ins Schloss und die beiden waren verschwunden.

»Aus welcher Achtzigerjahre-Sendung haben die denn ihre Jacken geklaut? Ich habe jeden Moment darauf gewartet, dass sie zu singen anfangen«, sagte Lauren und nach einem Moment des Zögerns lachte ich kurz auf.

»Keine Ahnung. Offensichtlich ist man in Sachen Uniform bei der Taskforce noch nicht ganz beim Optimum angelangt.« Meine Schultern entspannten sich. »Tut mir leid, dass die beiden einfach so hier aufgekreuzt sind. Das wollte ich nicht.«

»Es ist ja nichts passiert.« Lauren schob mich sanft zu einem Sofa und drückte mich in die Polster. »Du trinkst jetzt auch erst mal einen Tee.«

»Eine Cola wäre mir lieber«, murmelte ich.

Sie winkte ab. »Nichts da. Du musst jetzt den Tee probieren, den ich bei dem Fest an die Kunden verteile.« Sie drückte mir eine Tasse mit rotem, heißem Wasser in die Hand. Mehr war Tee für mich nicht. Doch Lauren zuliebe trank ich einen Schluck. Es schmeckte allerdings nach nichts. Was vermutlich an mir lag, nicht an dem Getränk. Wenn ich gestresst, nervös oder ängstlich war, hatte das einen negativen Einfluss auf meinen Geschmackssinn.

»Lecker«, murmelte ich.

»Du bist eine schlechte Lügnerin«, erwiderte Lauren. »Trink ihn trotzdem leer, etwas Warmes tut dir gut.« Sie hatte recht. Meine Finger kribbelten dank der Wärme und meine Hände hörten auf zu zittern.

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353 s. 6 illüstrasyon
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9783959919210
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